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proponere: vorschlagen, verkündigen, ausdrücken

Den dritten veränderten Akzent erhält die Lektüre von GS 44, wenn man das in den deutschen Übersetzungen verwandte Wort ‚vorschlagen‘ oder ‚vorlegen‘ vom lateinischen Grundwort ‚proponere‘ her anklingen lässt. Das ist ja die Crux bestimmter Worte und Übersetzungen: dass sie philologisch zwar korrekt sind, aber als dann deutsche Wörter sofort in assoziative Pfadabhängigkeiten eintreten, die die Interpretationsmöglichkeiten der Ursprungssprache verengen.56 Das Wort ‚verkündigen‘ gehört sicher zu diesen belasteten Begriffen. Er kann sehr flott eindimensional verstanden werden: als Kommunikationsvorgang an einen Anderen, der hiernach weder verlangt hat noch als Partner zu seinem Gelingen etwas beitragen soll. Verkündigung scheint manchmal einem isolierten Gesetz zu gehorchen, dem der Verkündiger irgendwie meint nachkommen zu müssen. Und das ist ja auch nicht unbiblisch: Schließlich mahnt Paulus seinen Schüler Timotheus: Verkünde das Evangelium, ob gelegen oder ungelegen (2 Tim 4,2)! Die Propheten des Alten Testamentes werden in Sprachsituationen geschickt, die absolut verkündigerunfreundlich sind – allen anderen voran Jona, der der ihm aufgebürdeten Predigermühe von vornherein so wenig Erfolgschancen gibt, dass er einfach abhaut (Jona 1,1–3; Jona 4,1–3). Natürlich gibt es Situationen, in denen der Anspruch des Christentums danach verlangt, sich über Kommunikationsbarrieren hinwegzusetzen.

Das allerdings ist nicht Thema von GS 44. Hier geht es ja um die ‚praedicatio accomodata‘, also um die ‚angepasste Predigt‘. Hier soll ja gerade ein wechselseitiger Verkündigungsstil gefunden werden, der erst aus dem angestrengten Hören spricht und im Sprechen austauschorientiert bleibt. Insofern ist der Sinn des ‚proponere‘ im Lateinischen mit ‚vorschlagen‘ besser getroffen. Denn jemandem einen Vorschlag zu machen, impliziert ja eine bereits erfolgte Begegnung: Vorschläge werden üblicherweise gemacht, nachdem man einem Problem zugehört hat; man macht Vorschläge möglichst treffgenau auf die handelnden Personen in ihren Situationen hin; Vorschläge sind entwicklungs- und lösungsorientiert; und der Gestus des Vorschlagens hat erhebliche Unterschiede zu dem des Befehls oder der Forderung. Der Vorschlag rechnet bereits mit der freien Interpretation des Anderen; eher selten werden Vorschläge eins zu eins übernommen; üblicherweise sind sie ein Sprachakt, an den mit einer eigenen Interpretation angeschlossen wird. Vorschläge sind Angebote, Anregungen, Empfehlungen. Auch wenn man Vorschläge dringlich vorbringen kann, auch wenn man sie für alternativlos halten mag – sie bleiben insofern schwach, als sie nur werbend, nicht aber zwingend auf die Gefolgschaft des Anderen einwirken können.

Es ist dieser diskrete, höfliche, vorsichtige Stil einer Verkündigung als Vorschlag, den GS 44 nach außen starkmacht. Nach innen hin wird er gerade nicht vorgeschlagen, sondern als ‚Gesetz‘ dekretiert. Erst nach den beiden Durchgängen durch das Hören der vielen Sprachen und dem verstehen wollenden commercium kann die geoffenbarte Wahrheit vorgeschlagen werden. Und selbst dies soll ‚aptus‘ geschehen: angemessen, genau passend, abgerundet, geeignet.

Ein drittes Mal wird die Pastoral der Kirche zur kulturellen Pluralität befähigt. Nicht das donnernde und gerade darin rein postulatorische Getöse um einen kirchlichen Wahrheitsanspruch, der gefälligst von den Anderen anzuerkennen ist, soll das kulturelle Gespräch unserer Tage prägen, sondern das gemeinsame Stehen vor der Aufgabe humaner Daseinsgestaltung und dem respektvollen Austausch guter Vorschläge genau hierfür. Es mag jene enttäuschen, die ihre kirchliche Identität an das Erleben triumphaler Siege ihrer ‚Wahrheit‘ über den sogenannten ‚Zeitgeist‘ geknüpft haben: GS 44 spricht leise Töne, rätselt selber über ebenjene ‚Wahrheit‘ und ist dankbar, dass da auch noch andere sind, die denselben Fragen nachgehen wie sie. GS 44 ist die Kirche, die ihr Gesicht wie Elija scheu in den Mantel hüllt, weil sie im ‚feinen Säuseln‘ die Stimme ihres Gottes lauter gehört hat als im Sturm, im Beben oder im Feuer. Mit GS 44 tritt man erst an den Eingang der Höhle und damit in die kulturelle Öffentlichkeit, wenn der ganze scheppernde Triumphzug religiöser Wichtigtuerei an einem vorbeigezogen ist – weil er wie ein Gewitter keine Information hat, sondern nur Krach; weil er wie ein Beben alles verändern will außer sich selbst; und weil er wie ein Feuer all jene Energien verzehrt, die man für anstehende Problemlösungen dringend benötigt hätte (1 Kön 19). Es stimmt: GS 44 ist der verunsicherte Prophet, der von Gott erst gefragt werden muss: ‚Was willst Du hier?‘, und der darauf faktisch nur antworten kann, dass er das früher einmal wusste, jetzt aber nicht mehr. Das aber ist die Größe des Elija, wie es die Größe des Konzils war: Vor Gott und der Welt zu bekennen, dass man seine Identität fortan nicht mehr aus sich allein beziehen kann und will, sondern einen neuen Ansatz braucht. Elija bekommt diesen in Gestalt eines neuen Auftrages, neuen Mutes und eines neuen Gefährten, Elischa (1 Kön 19,19 ff). Den trifft er auf dem Weg fort von der Höhle, und über den wirft er ebenjenen Mantel, in dessen Verhüllung er mit Gott gesprochen hatte. Ein schönes Bild, das diesen metaphorischen Textvergleich abschließen soll: GS 44 propagiert eine Kirche, die ihre Gotteserfahrung nicht mehr nur aus einer isolierten Vermummung bezieht, sondern aus einer intersubjektiven und interkulturellen Öffnung. Der ist ein Prophet unserer Tage, der am Mantel der Religiosität nicht zuerst die Kapuze für den Schutz sucht, sondern die Ärmel für die Begegnung.

Das ‚proponere‘, der Stil des Vorschlagens, hat zwei bedeutende Dokumente geprägt, die den Geist aus GS 44 atmen: das nach wie vor vielzitierte Dokument ‚Evangelii Nuntiandi‘ Pauls VI. aus dem Jahr 1975 sowie den französischen ‚Brief an die Katholiken Frankreichs‘ mit dem Titel ‚Proposer la foi‘ aus dem Jahr 1996.57 Beide Dokumente bzw. Prozesse haben das programmatische Papier der deutschen Bischofskonferenz inspiriert, das im Jahr 2000 die Diagnose einer ‚Zeit zur Aussaat‘ vorstellte und zu einem der bekanntesten Bonner Papiere überhaupt avancierte.58 Diese Papiere können hier nicht inhaltlich entfaltet werden, ihre Lektüre trägt aber zu einem tieferen Verständnis einer ‚praedicatio accomodata‘ bei. Nur einige Schlaglichter: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist“ (Evangelii Nuntiandi Nr. 20). Die Verkündigung verlangt zuerst das „Zeugnis des Lebens“ (ebd.: Nr. 21; vgl. auch Nr. 76). Eine Kirche, die den Glauben vorschlägt, anbietet, empfiehlt, kann ihre Zeitgenossen als Menschen würdigen, „die durch ihre Erwartung und ihr Verhalten die Freiheit Gottes und das Wirken des Heiligen Geistes bezeugen, der in jedem Menschen das Verlangen wecken kann, über sein ihm unmittelbares Dasein hinauszuwachsen“ (‚Proposer la foi‘).59 „Wer mit Kirche zum ersten Mal in Berührung kommt, sollte damit rechnen können, willkommen zu sein“ (‚Zeit zur Ausaat‘).60

Das sind Sätze, die ohne den Durchbruch des Konzils so nicht geschrieben worden wären. Allerdings: Angesichts solcher pluralitätskompatiblen und freiheitseröffnenden Formulierungen verwundert es, dass in keinem der erwähnten Dokumente GS 44 als Referenz auftaucht.61 Man muss auch nicht verhehlen, dass gerade ‚Evangelii Nuntiandi‘ durchaus von Passagen gekennzeichnet ist, die einen doch wieder integralistischen Unterton tragen.62 Mehr noch: Die ‚Lehrmäßige Note zu einigen Aspekten der Evangelisierung‘ der Vatikanischen Glaubenskongregation vom Dezember 2007 sieht sogar die Notwendigkeit, Fehlverständnisse der interkulturellen und -religiösen Begegnung zurückzuweisen (Nr. 3). Am Anfang heißt es zwar: „Das Dokument setzt die gesamte katholische Lehre über die Evangelisierung voraus, die im Lehramt von Paul VI. und Johannes Paul II. ausführlich behandelt worden ist (…)“ (Nr. 3). GS 44 aber kommt nicht als Zitat, schon gar nicht als theologische Leitfigur vor. Vielmehr fallen Sätze wie der folgende: „Auch wenn das Evangelium von allen Kulturen unabhängig ist, vermag es doch alle zu durchdringen, freilich ohne sich ihnen zu unterwerfen“ (Nr. 6; vgl. auch Nr. 8). Oder: Evangelisierung ist „der Einsatz dafür, die Fülle des Heils, die Gott dem Menschen in der Kirche anbietet, bekannt zu machen und frei annehmen zu helfen“ (Nr. 10). Viel ist vom Respekt die Rede, von Freiheit und von dem Dienst an der Humanisierung der Weltverhältnisse. Trotzdem: Die Pointe entfällt, die in GS darin bestand, dass das Heil, die Wahrheit, die Fülle usw. ohne das vitale und gleichberechtigte commercium mit den Anderen von der Kirche selbst nicht voll gewusst werden kann; dass man nicht nur vorschlägt, sondern selber lernt.

Der Befund ist also der: Das Konzil als Ausübung des höchsten Lehramtes verabschiedet nicht eine Nebenbemerkung, sondern eine normative Leitlinie für die Verkündigung der Kirche, eine ‚lex evangelizationis‘ – und die Konzilsrezeption des Lehramtes nimmt in den Folgedokumenten hierauf kaum noch Bezug, schon gar keinen konstitutiven. Dies muss man nüchtern konstatieren. Es kann als weiteres Kennzeichen gewertet werden: erstens, dass GS 44 wirklich einen revolutionären Neuansatz für die theologische Erkenntnislehre, für geistliches Wachstum in der pluralen Postmoderne und für wirklich ernst gemeinte Kulturkontakte bietet; zweitens, dass an diesen Neuansatz aber weiter zu erinnern und für ihn zu streiten sein wird. Natürlich bleibt zu problematisieren, dass sich das Evangelium im Vollzug des ‚proponere‘ nicht einfach mit den Bedürfnislogiken der ‚Leute‘ verrechnen lassen darf. Hier geht es nicht um einen Joghurt, den man an den Meistinteressierten verkauft.63 Auch der prophetische Impuls der Botschaft Jesu ist für diese unaufgebbar: seine energische Widerständigkeit gegen zu viel Trägheit, Fatalismus, Egozentrik und Missbrauch. Trotzdem bedeutet kulturelle Pluralität – und hierzu will GS 44 wie überhaupt Gaudium et spes befähigen: Es gibt keinen letzten sicheren Zugriff auf das ‚Richtige‘, ‚Wahre‘ oder ‚Offenbarte‘. Das, was als ethisches oder religiöses Kriterium gelten will, kann seine Plausibilität nicht aus der Behauptung ableiten, selbständig als Wahrheit erkannt worden zu sein. Genau dieser Erkenntnisanspruch muss durch den kulturellen Dialog, durch die Ränke der Macht, der Empirie und der faktischen Kontingenz, unter der menschliches Leben nun einmal steht. Es gibt Wahrheit, dies ist theologisch als Gottesprädikat festzuhalten. Aber wie sie erkannt werden kann, was sie bedeutet und wie man sie umsetzt, das muss gemeinsam verhandelt und mühsam gefunden werden.

 

Die Kirche kann und muss also ihren Dialogpartnern Werte, Handlungen, sogar die komplette biografische Neuorientierung, die Metanoia vorschlagen; sie kann und muss, sogar mit lauter Stimme und im Namen der von Entscheidungen ungerecht Benachteiligten, Korrekturen verlangen; sie kann und muss ihre kulturellen Partner dahin motivieren, den Zumutungen der Wahrheitssuche nicht auszuweichen. Aber all dies tut sie als Partner des gleichen Spiels, nicht als selbsternannter Schiedsrichter. Und darum tut sie gut daran, inmitten ihrer Kultur zu stehen, breite Kontaktflächen auszubilden und hohe lernbereite Ansprechbarkeit zu demonstrieren. Nur so verpasst sie den vielleicht entscheidenden, kleinen, unscheinbaren Impuls nicht, der von unerwarteter Seite kommt und der ihr ganz neu aufschließt, was man von Gott heute wissen und glauben kann.64

25 Vgl. Heft 2/2000 der Pastoraltheologischen Informationen.

26 Vgl. nur das berühmte, weil portalaufstoßende ‚Handbuch der Pastoraltheologie‘ von Rahner u. a.; eine gute Übersicht zu den wechselseitigen Profiten systematischer und praktischer Theologie bietet neuerdings Bauer 2010: 713–792.

27 Vgl. Rainer Buchers (2010: 203–232) Projekt einer kenotischen Pastoraltheologie.

28 Vgl. ausführlicher Forte 1989: 100–105 im Anschluss an exegetische Studien bei W. Popkes.

29 Im Hintergrund dieser Formulierung steht die systemtheoretische Analyse der Dreischrittigkeit von Kommunikation in die Schaltstellen Information, Mitteilung und Verstehen; vgl. Baraldi u. a. 1999: 93. Zur hier nur andeutbaren theologischen These einer spezifischen Ko-Autorenschaft des Hörers für das Kommunikationsereignis der Offenbarung vgl. Sellmann 2012.

30 Kasper 2011: 36.

31 Ebd.: 35; vgl. den ganzen Abschnitt ebd.: 33–36 sowie den früheren Text Kasper 1987.

32 So pointiert Bauer 2011 die Aufgabe.

33 An dieser Stelle kann die neuere Methodendebatte der Pastoraltheologie nur genannt werden, die sich um das Konzept der ‚Abduktion‘ herum entwickelt hat; vgl. nur Bauer 2010: 814–837.

34 Zitiert nach LThK, Ergbd. III: 417–421.

35 Vgl. nur Chenu 1966: 233 f.

36 Der Begriff fällt bei Collet 2002: 175. Die einzige Ausnahme sehe ich in dem Hinweis auf die eine ‚Menschennatur‘ am Anfang sowie in der Formulierung: „nicht, als ob in ihrer von Christus gegebenen Verfassung etwas fehle“. Ersteres wirft erhebliche anthropologische Fragen auf (welche Natur? Warum eine? Wer erkennt, was zur einen Natur gehört? Wie ist das Verhältnis von einer Natur und vieler Kultur zu bestimmen? usw.); Letzteres ist ein Aufflackern einer überkommenen Societas-perfecta-Ekklesiologie, die im hier gegebenen Textrahmen seltsam erklärungsbedürftig bleibt.

37 Congar 1968: 416.

38 Vgl. Kasper 1987: 295 f.

39 So Schmiedl 2012: 15 in seinem Gesamtüberblick über 50 Jahre Rezeptionsgeschichte des Vatikanum II. Das folgende Zitat ebd: 16.

40 Vgl. nur Erbacher 2012.

41 Vgl. Ebertz 2006b: 38 f sowie die einschlägigen Konzilspassagen im Register von Herders Theologischem Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 1: 850.

42 Zur Diskussion vgl. Collet 2002, v. a. 100–105. 172–196.

43 Theobald 2006: 81.

44 Rahner 1967a: 629.

45 Ebd.: 628; dort auch das folgende Zitat; vgl. zum Ganzen auch Rahner 1967d: 18: „Das ist ein Vorgang höchst seltsamer, gefährlicher und in einer Ekklesiologie noch gar nicht reflektierten Art.“

46 Rahner 1967d: 38.

47 Theobald 2006: 71.

48 Vgl. ebd.: 75–77.

49 Vgl. ebd.: 74. 77. 81.

50 Zur Schemaverwendung in GS vgl. Sander 2005: 637–640. 644–650. Zur Problematik des Konzeptes kurz Klein 1999: 248 f.

51 Zur Entdeckung des ‚resonare‘ vgl. Fresacher 2009: 60–62 sowie bereits in milieusensibler Absicht Garhammer 2008.

52 Ebd.: 83.

53 Das Bild vom ‚Hören‘ ist in der geistlichen Literatur sehr bekannt; vgl. nur Hemmerle 1999.

54 Vgl. unten unter 3.2.

55 Vgl. ausführlich und von den Konzilsdokumenten her Hennecke 1997: 27–142.

56 Hierin liegt ja eine wesentliche Begründung, warum Theologiestudierende unter großen Mühen Sprachen lernen, die man jenseits von Kirche und Theologie ja nur wenig gebrauchen kann: Neutestamentliches Griechisch, Hebräisch usw. Es geht im Letzten darum, hermeneutische Optionen zu erarbeiten und zu erhalten, also für Weite zu sorgen, und nicht jenen auf den Leim zu gehen, die bestimmte Deutungen bestimmter Textstellen für alternativlos halten.

57 Vgl. Papst Paul VI. 1975 sowie Französische Bischofskonferenz 2000.

58 Vgl. Die Deutschen Bischöfe 2000. Im Ganzen zu ‚Zeit zur Aussaat‘ vgl. Sellmann 2004. Zu ‚Evangelii Nuntiandi‘ vgl. Die Deutschen Bischöfe 2000: 15 ff; zu den deutschen und französischen Entstehungsprozessen der bischöflichen Papiere vgl. Müller 2004: 229–238; zur Sprachproblematik rund um die Übersetzung des Wortes ‚proposer‘ vgl. Müller 1999: 320 f.

59 Französische Bischofskonferenz 2000: 60 (im Original teils kursiv).

60 Die Deutschen Bischöfe 2000: 40 (im Original teils hervorgehoben).

61 Vgl. Papst Paul VI. 1975: ‚Evangelii Nuntiandi‘ nimmt in der Nr. 23 wohl auf GS 42 und 45, an keiner Stelle aber auf die Theologie in GS 44 Bezug; der Text umkreist auch fast alle Ziffern von ‚Ad Gentes‘, nicht aber die zu GS 44 ähnliche Passage in AG 22. Der Befund stimmt nachdenklich, da Papst Paul VI. sich in den Anfangsnummern deutlich auf das Erbe des Konzils besinnt und als grundlegendes Problem die Frage aufwirft: „Ist die Kirche – ja oder nein – nach dem Konzil und dank des Konzils (…) fähiger geworden, das Evangelium zu verkünden (…)?“ (Nr. 4). Diese Frage soll ‚Evangelii Nuntiandi‘ beantworten – und kann dies offensichtlich ohne Erwähnung des ‚lex evangelizationis‘ aus GS 44.

62 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre 2007: Etwa die Nummer 63 der ‚Lehrmäßigen Note‘ behandelt direkt den Ausgangspunkt von GS 44, zitiert GS hier aber gerade nicht. Vielmehr wird die in GS 44 und AG 22 betonte Wechselseitigkeit des Offenbarungslernens in das gewohnte Frage-Antwort-Schema gebracht: Die Kirche hat bereits vor dem Kulturkontakt eine unwandelbare Botschaft; die Kultur fragt danach; die Kirche ist bereit, Sitten und Gebräuche didaktisch in die Verkündigung einzubeziehen; letztlich aber geht es um das Verkünden der Einen und das Hören der Anderen.

63 Dieses Beispiel bringt ausgerechnet der Chef der bekannten Werbeagentur ‚Zum goldenen Hirschen‘ Marcel Loko 2012.

64 Vgl. zum Ganzen einer pluralitätskompatiblen Kirche auch Wenzel 2009 sowie nochmals Theobald 2006. Beide Autoren beziehen sich auf einen grundlegenden und beeindruckenden Aufsatz von Karl Rahner über das Problem der Säkularisation (Rahner 1967b). Rahner kann hier zeigen, dass die säkulare Gesellschaft für die Kirche deswegen begrüßenswert ist, weil sie ihr die Falschheit eines bestimmten theologischen Integralismus vor Augen führt. Falsch ist dieser, weil er die Freiheit der Menschen missachtet (These 1) und eine (Selbst-)Idealisierung betreibt, die die Last des Daseins unzulässig abmildert (These 5) . Akzeptiert man aber Freiheit als Grundbestimmung des Gotteswillens, sind die Konsequenzen beträchtlich: Kirche wird selbst zu einer pluralen Größe (These 2); ihr Auftrag der Gesellschaft gegenüber ist ein prophetischer – und damit ein inhaltlich bestreitbarer (These 3); eine neue theologische Disziplin wird nötig, eine Pastoraltheologie, die jene Erkenntnisse beibringt, die für das Handeln der Kirche unabdingbar, aus eigenen Offenbarungsquellen aber nicht erschließbar sind (These 4).

3 Kurzes fazit und Ausblick
auf den weiteren Gedankengang

Soweit die zunächst im Konzeptionellen verbleibende Vorstellung des neuen pastoraltheologischen Dreischrittes, wie er sich aus der ganzen Pastoralkonstitution und vor allem aus ihrer Nummer 44 ergibt. Die Perspektive bleibt in diesem ganzen Teil I klassisch theologisch, und manche Leserin, mancher Leser wird ungeduldig darauf warten, dass endlich die Milieuforschung behandelt wird. Zwar ist sicher deutlich geworden, in welcher Funktion diese zum Einsatz kommen wird: nämlich als operative Durchführung jener Kontextbezogenheit, deren Konstitutivität für die kirchliche Selbsterkenntnis in den zurückliegenden Gedankengängen hergeleitet wurde. Aber es braucht noch etwas Zeit, dies konkret durchzuführen. Erst ab Kapitel 5 wird die soziologische Milieutheorie als diejenige Wissenschaft identifiziert, die es in hervorragender Weise erlaubt, dem Auftrag von GS 44 nachzukommen, sich als Kirche in die gegebenen kulturellen Kontexte einzustellen und die eigene Identität von dieser Dezentrierung der Perspektive her zu gewinnen. GS 44 ist eine Programmatik, die die Theologie von sich aus sowohl inhaltlich wie methodisch in die Interdisziplinarität verweist. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass – in diesem Fall – die Soziologie mehr ist als eine reine Hilfswissenschaft, eine Magd (ancilla) der Theologie. Denn wir haben gesehen, dass die Kontexterkenntnisse die Offenbarung erschließende Informationen bedeuten, gerade weil sie aus jener nicht abgeleitet werden können. Man verlässt darum auch nicht das Gebiet der Theologie, wenn man soziologische Milieuforschung betreibt – jedenfalls dann nicht, wenn das Erkenntnisziel des ganzen Unternehmens darin liegt, die je aktuelle Selbstmitteilung Gottes besser erfassen zu wollen.

Wie der pastoraltheologische Dreischritt operativ durchgeführt werden kann; inwiefern soziologische Milieuforschung das ‚auscultare‘, ‚commercium‘ und ‚proponere‘ der Kirche präzisiert und zu verarbeitbaren Daten macht, das ist Gegenstand der Kapitel ab der Nummer 5.

Davor liegt ein weiterer notwendiger Zwischenschritt, den das Kapitel 4 durchführt. Hier ist das vor allem an Empirie interessierte Leseinteresse um Geduld zu bitten – oder um das Vorblättern. Denn es bedarf neben der konzilsgeschichtlichen noch einer systematischen Sondierung. Wenn man es genauer betrachtet, war die bisherige Argumentation eine ‚ad auctoritatem‘. Ihre Kraft lag in dem Hinweis auf eine externe Autorität, nämlich der eines ganzen ökumenischen Konzils der Weltkirche und damit auch der lehramtlich höchst denkbaren. Die aktivierte Logik war: Das Konzil hat den Text so verabschiedet, also müssen wir das auch so umsetzen. Nun sind Argumente ‚ad auctoritatem‘ eher schwach. Sie überzeugen den, der bereits dazugehört, weil er dieselbe Autoritätszuschreibung vornimmt wie der Argumentierende. Und auch wenn das Kapitel 2 neben der reinen Konzilsargumentation bereits einige offenbarungstheologische Analysen von Rahner und Theobald vorgelegt hat, so steht und fällt doch die Stringenz des Gedankenganges mit der Grundakzeptanz des Konzils und vor allem seiner Pastoralkonstitution. Wie wir gesehen haben, ist das aber prekär: Durchaus nicht jeder nachkonzilstheologische Ansatz ist der Meinung, dass ausgerechnet in GS 44 der Durchbruch, der ‚Anfang des Anfangs‘ liegt, sondern anderswo – oder, bei manchen, eben auch nirgendwo. Wenn selbst die lehramtlichen Nachfolgedokumente ganzer Synoden und Kongregationen zur Evangelisierung ohne jeden Hinweis auf das ‚lex evangelizationis‘ aus GS 44 auskommen und die dort gegebene plurale Perspektive in die gewohnte integrale zurückdrehen, ist zwar nach wie vor an das lehramtliche Gewicht des Konzilstextes zu erinnern. Trotzdem tut man gut daran, noch mehr Substanz aufzubieten.

Schließlich geht es um etwas. Die Frage nach einer substantiellen theologischen Begründung der soziologischen Milieutheorie findet ja nicht ihr Ziel darin, irgendein Milieumodell in den Rang einer Glaubenswahrheit zu erheben. Es geht im Kern noch nicht einmal um Milieus. Vielmehr ist es das Ziel, in der Praxis der Pastoral und in der Theorie der Pastoraltheologie pluralitätsfähig zu werden. Es geht um die Erschließung neuer Informationspotenziale über das Geheimnis Gottes in unseren Tagen. Hierzu benötigt man Unterstützung, und es wird zu zeigen sein, wie hilfreich dazu das Instrumentarium der Milieuforschung ist. Wir brauchen Hilfe beim entschlossenen Verlassen der integralistischen Perspektive, in die wir als Theologinnen und Theologen, aber auch als Glaubende so dermaßen einsozialisiert sind, dass es massiver Impulse bedarf, uns hier zu Alternativen zu drängen. Diese Impulse werden uns, so GS 44, von unserer Gegenwartsgesellschaft geliefert, und genau das ist ja überhaupt der Initialpunkt für die Einberufung des Konzils gewesen. Natürlich haben sich seit den frühen 1960er Jahren die damaligen Problemanzeigen radikalisiert: etwa unsere Unfähigkeit heute, unseren Glauben so zu versprachlichen, dass unsere Kulturen diesen nicht nur als diskutabel, sondern sogar als attraktive biografische Option bewerten; unsere anthropologische Ratlosigkeit gegenüber den Durchbrüchen in Biotechnologie, Apparatemedizin oder Robotertechnik; unsere behördliche Schwerfälligkeit, neu entstehenden Stilen von Partnerschaft, Lebensführung, Konsumverhalten oder ästhetischer Selbstbestimmung Vertrauen zu schenken; unser Stress, in den großen moralischen Fragen unserer Zeit wie Armut, Abtreibung, Umweltzerstörung und Waffenhandel aus der Rolle der Moralistin herauszukommen und mit den anderen Kräften der Humanisierung wirksam allianzfähig zu werden; usw.65

 

Die Ausgangslage heute ist jener der Konzilszeit ähnlich. Wenn dem aber so ist, und wenn die Neuheit theologischer Erkenntnis prominent über Kulturkontakte gewonnen werden kann, dann muss eine neue Verhältnisbestimmung zur Gegenwartsgesellschaft gefunden werden. Und dies muss eine sein, die auch den gesellschaftlichen Ort der Kirche selbst verändert. Dann muss Kirche neu zur Welt kommen. Das war und ist das Projekt von Gaudium et spes. Integralistisch ist dabei die Idee, die Gegenwartsgesellschaft sei quasi die öffentliche Abholstelle des Paketes, das die Kirche mit Offenbarung vollpackt und freundlicherweise an ihre Kulturen adressiert. Wer so tut, als hätte man etwas, was die anderen nicht haben (können); wer die Welt so modelliert, dass alle Anderen entweder auf diese exklusive Leistung warten oder im Falle des Nichtwartens defizitär sind; wer sich selbst ein Sonderwissen zuschreibt und nicht verständlich machen kann, woher er das hat und warum nur er es empfing, der steht im Verdacht, Integralismus zu brauchen, weil er Pluralität nicht akzeptiert oder nicht aushält.

Also ist die systematisch-theologische Herausforderung eine erkenntnistheoretische.66 Die These von GS 44, dass die für die Kirche identitätsstiftende Erkenntnis des Offenbarungswillens Gottes geschichtlich verfasst ist67 und nicht ohne wechselseitige kulturelle Lernprozesse vollständig sein kann, bedeutet bis heute ein enormes Forschungsprogramm für die Ekklesiologie, die Offenbarungstheologie oder den interreligiösen Dialog. Interessanterweise hat aber die nachkonziliare Theologiegeschichte die Kulmination der Herausforderung in der theologischen Anthropologie gefunden. In der Freiheitsphilosophie der Neuzeit und der unhintergehbaren Freiheitssignatur modernen Lebens sieht ein wesentlicher Teil der Theologie ab 1965 den entscheidenden Startpunkt auch für die Gotteslehre.

Insofern ist das Programm von GS 44 im Folgenden mit dem Traktat aktueller theologischer Anthropologie zu kontrastieren. Dies liegt auch insofern nah, als ja die ganze Pastoralkonstitution selbst anthropologisch aufgehängt ist (vgl. nur Nr. 3, 45 f, 91). Zum anderen kann auch die Milieutheorie als Ethnologie betrachtet werden, die wiederum eine Unterwissenschaft der Kulturanthropologie darstellt.

Das Ziel des folgenden Kapitels ist damit dreifach: Die theologische Dignität einer pastoralsoziologischen Aufnahme der Milieuforschung soll weiter begründet werden; der als unhintergehbar ausgewiesene Übergang integraler zu pluraler theologischer Argumentation wird weiter plausibilisiert; und die Notwendigkeit soziologischen Differenzierungsdenkens (Anthropologie als Ethnologie) soll aufscheinen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Es wird sich zeigen, dass wichtige gegenwärtige Ansätze theologischer Anthropologie zwar dahin drängen, den Menschen als jemanden zu zeigen, der in den Gesten seiner freiheitlichen Lebensführung Signale sendet, die über seine reine Daseinsbewältigung hinausweisen und daher transzendent zu deuten sind. Trotzdem verbleiben die meisten Theologien weiter bei der These eben ‚des Menschen‘, also einer integralen Perspektive, die die Differenz der realen ‚Leute‘, ‚Leben‘ und ‚Kulturen‘ gerne auf eine essentialistische Folie bringen. Dies führt dazu, dass man im Wesentlichen, Allgemeinen, Prinzipiellen stehenbleibt – wodurch unklar wird, wie der reale Beitrag wechselseitiger kultureller Kommunikation zur ‚angepassten Predigt‘ aussieht. Es ist ja hilfreich zu hören, dass ‚der Mensch‘ in seinen Alltagsgesten seine auch religiös bestimmbare ‚Freiheitssehnsucht‘ ausdrückt. Aber wie genau macht er das? Welcher Mensch, welche Freiheit? Und welche Signale? An wen? All dies wäre im Sinne von GS 44 wichtig zu wissen; es bleibt aber unbestimmt, denn die Antworten auf diese Fragen kann kirchliche Erkenntnis nicht aus sich heraus – also aus Schrift, Tradition, Lehramt usw. – generieren. Soll theologisch-anthropologisches Sprechen nicht im Ungefähren stehenbleiben, benötigt es eine doppelte Hilfe: Sie muss sich konsequent auf die Standards pluraler, das heißt kontingenter Wissenschaft einlassen; und sie muss neugierig sein auf spezifisch empirische Forschungsdesigns und ihre Ergebnisse.

65 Eine ausführliche Bestimmung heutiger (hoffentlich) theologieproduktiver ‚Zeichen der Zeit‘ bietet Hünermann 2006a.

66 Dies ist bei Rahner sehr klar auf den Punkt gebracht. Wer seine hier bereits zitierten Aufsätze liest, bemerkt, dass Rahner die neue Situation der Theologie nach dem Konzil als genuin erkenntnistheoretische Anstrengung präzisiert. Auch Rahners Widerstand im Entstehungsprozess von Gaudium et spes war über weite Strecken von speziell erkenntnistheoretischer Skepsis geprägt; vgl. oben Anm. 19.

67 Dazu Hünermann 2006b; ein Text, der die Neuheit der Konzilstheologie des Vatikanum II gegenüber der des Vatikanum I gerade wegen der akzeptierten radikalen Vergeschichtlichung des Glaubens aufzeigt: Theologie wird zur ‚interpretatio temporis‘ und verbleibt damit im Raum der immer zweideutigen kulturellen Zeichen.

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