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2 Erster Angang: Gaudium et spes 44 und der neue pastoraltheologische Dreischritt

Man kann mit einigem Recht sagen: Eine Gewinnerin dieser Entdeckung des Kontextes in seiner konstitutiven Wichtigkeit für theologische Erkenntnis ist die Pastoraltheologie. Sie erhält nun ihr eigentliches Formalobjekt als Wissenschaft. Auch wenn die Selbstdefinition dieser Disziplin vielfältig ist und die „Pluralität im eigenen Haus“25 großgeschrieben wird, so wird man doch zwei gemeinsame Nenner behaupten können. Erstens sind die Zeiten vorbei, in denen man Pastoraltheologie einfach als die handwerkliche Ausbildung von Pfarrern oder als Erfüllungsgehilfin einer überzeitlich immer schon Bescheid wissenden Dogmatik verstand. Zweitens steht im Vordergrund der Forschungen, dass man empirisch erforschte Praxis in Anschlag bringt für den Erkenntnisprozess der Theologie an sich. Welche Praxis von wem dann methodisch wie für welche Theorie erschlossen wird, das ist kontrovers. Das ‚ob überhaupt‘ aber nicht.

2.1 Eine Ellipse: Tradition und Kontext

Interessanterweise sind es oft gerade Dogmatiker und Fundamentaltheologen gewesen, die die systematische, ja: die offenbarungstheologische Bedeutung einer pastoraltheologischen Kontextanalyse betont und als Desiderat gefordert haben. Die akademische Pastoraltheologie verdankt Denkern wie Karl Rahner, Klaus Hemmerle, Johann Baptist Metz, Walter Kasper, Karl Lehmann, Elmar Klinger, Jürgen Werbick, Hans-Joachim Hilberath oder Hans-Joachim Sander sehr viel.26 Was sich in den Werken dieser in sich natürlich wieder sehr differenten Autoren spiegelt, ist der Optimismus, dass ‚Tradition‘ kein Vorgang der Reformulierung des immer Gleichen und prinzipiell Wissbaren bedeutet, sondern prozessuale, relationale und damit performative Qualität hat: Tradieren als Prozess im Vollzug erschließt der kirchlichen Glaubensgemeinschaft als Ganzer neue Potenziale der Erkenntnis, des Ausdrucks und der Verehrung. Tradieren hat substantiell mindestens genauso viel mit Risiko wie mit Sicherheit zu tun. Denn erst die mutige, lernende Selbstüberlieferung an den Kontext beglaubigt, was die Verkündigung des Evangeliums inhaltlich aussagen will: dass über der Welt das Versprechen eines Gottes liegt, diese zum Heil zu führen; dass man im Glauben an die Erfüllung dieses Versprechens gewagte Vertrauensvorschüsse an Andere hin signalisieren kann; dass man sich im Fremden seiner selbst gerade nicht verliert, sondern findet.27

Letztlich geht es hier um ein dynamisches Verständnis von Tradition, das sein uneinholbares Zielbild in der ‚Tradition‘ (wörtlich: Dahingabe; griechisch: paradosis) des Gottessohnes selbst am Kreuz findet.28 Nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Schriften wird Jesus in vielfacher Weise ‚tradiert‘, so oft und vielfältig, dass man sagen kann, dass der Gestus des Selbstrisikos geradezu das Typische der Jesusgeschichte selbst ist: Beim Letzten Abendmahl übergibt sich Jesus den Jüngern in den Gestalten von Brot und Wein (Lk 22,19 f); Judas liefert ihn an die jüdische Obrigkeit aus (Mk 14,10), der Hohe Rat übergibt ihn den Römern (Mk 15,1), und schließlich übergibt ihn Pilatus den Soldaten zur Kreuzigung (Mk 15,5). Im innertrinitarischen Geschehen ist es der Vater, der den Sohn dahingibt (Joh 3,16; vgl. auch Röm 8,32) und ist es der Gekreuzigte, der seinen Geist aufgibt (Joh 19,30; vgl. Joh 15,13). Schließlich bekennt Paulus, dass er für den Sohn Gottes lebt, der sich für ihn hingegeben hat (Gal 2,20). ‚Tradition‘, Selbstüberlieferung ist nach diesem exegetischen Kurzbefund also ein Prozess, der alle Geschehenspartner involviert und anfordert und niemanden unverändert hinterlässt – und ist eben keine Nachlassverwaltung eines bereits definierten Erbes, das keinen Außenweltkontakt mehr vertrüge. Tradition ist ein paradoxes Verb: die Entdeckung der je neuen Neuheit dessen, was der gegenwärtige Gott in seinem Geist je heute wirken will. Die konstitutive Hinwendung zum Kontext fügt der restfreien Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus nichts hinzu; sie vollzieht die Grundbewegung dieser Selbstmitteilung aber prozessual nach; und sie macht sie erst zur Mitteilung, das heißt: Ohne den Kontextbezug bleibt eine als Kommunikation verstandene Offenbarung reine Information. Zur echten Mitteilung wird sie erst über das Aussetzen ihrer selbst in einen externen Verstehenshorizont.29

Diese Idee: dass der christliche Glaube sich erst findet, wenn er sich von seinem externen Kontext her neu sieht und empfängt, ist die Leitperspektive dieses Buches. Die Milieus der Deutschen werden als Kontexte modelliert, an denen und von denen her Pastoral selbst neu lernen kann, was ihre Begriffe und Rituale überhaupt bedeuten wollen. Erst die Dezentrierung, die risikofreudige Selbsttradierung an ihre kulturellen Kontexte verschafft kirchlichem Sprechen neues Erkennen und Verstehen der Botschaft, die sie nach diesen Durchgängen wiederum in ihre Kultur hinein verkünden soll.

Das Konzil selbst wollte dieses ‚aggiornamento‘ des Gottesgeistes nachgehend bedenken und ausformulieren. Darum muss auch die Rezeption der Konzilsaussagen von einer „Hermeneutik der Erneuerung“ gekennzeichnet sein, wie Kardinal Walter Kasper dies in seinem jüngsten Buch benennt.30 „Reform bedeutet demnach nicht nur Rückführung auf den Ursprung oder auf eine frühere als authentisch angesehene Traditionsgestalt, sondern Erneuerung, damit das Alte, Ursprüngliche und Bleibend Gültige nicht alt aussieht, sondern in seiner Neuheit neu zur Geltung und zum Leuchten kommt.“31

Das Alte nicht alt aussehen lassen – „das Alte neu sagen“32: Das ist die herausfordernde Aufgabe, die speziell der Pastoraltheologie zukommt. Sie muss hierzu eine Methode finden, die die beiden Brennpunkte der Ellipse aufzunehmen vermag: den Kontext und das bisherige Wissen um den Glauben.33

2.2 Gaudium et spes 44

Kein Text des Konzils eignet sich hierzu besser als die Nummer 44 der Pastoralkonstitution Gaudium et spes. Nur wenige Stellen des gesamten Textmaterials des Konzils gipfeln die kulturhermeneutische Wende der Theologie und ihrer Verkündigung so auf wie GS 44. Dieser Text ist das Portal in eine ganz neue und aufregende Programmatik von Theologie und kirchlicher Präsenz. Er katapultiert die Kirche in ihren säkularen Kontext – und dies nicht, damit sie dort geistlich verhungert, sondern damit sie sich an ihrem Gegenüber neu vitalisiert. GS 44 weist einen Weg heraus aus Gegenwartsangst, kulturpessimistischer Nörgelei und kleinkrämerischem Selbsterhalt. Die Passage zeigt, wie die Gemeinschaft der Glaubenden heute den kenotischen Weg Jesu nachvollziehen kann und damit ihrem Ursprung und Auftrag nicht nur treu bleibt, sondern neu erkennt.

Da dieses Buch implizit die Gliederungslogik von GS 44 zitiert, ist der Text hier in voller Länge aufgeführt. Der Fettdruck sowie die Passagen in eckigen Klammern sind hinzugefügt.34

44. Die Hilfe, welche die Kirche von der heutigen Welt erfährt

Wie es aber im Interesse der Welt liegt, die Kirche als gesellschaftliche Wirklichkeit der Geschichte und als deren Ferment anzuerkennen, so ist sich die Kirche auch darüber im klaren, wieviel sie selbst der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt. Die Erfahrung der geschichtlichen Vergangenheit, der Fortschritt der Wissenschaften, die Reichtümer, die in den verschiedenen Formen der menschlichen Kultur liegen, durch die die Menschennatur immer klarer zur Erscheinung kommt und neue Wege zur Wahrheit aufgetan werden, gereichen auch der Kirche zum Vorteil.

Von Beginn ihrer Geschichte an hat sie gelernt, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der verschiedenen Völker auszusagen und darüber hinaus diese Botschaft mit Hilfe der Weisheit der Philosophen zu verdeutlichen, um so das Evangelium sowohl dem Verständnis aller als auch berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen zu verkünden. Diese in diesem Sinne angepaßte Verkündigung [praedicatio accomodata] des geoffenbarten Wortes muß ein Gesetz aller Evangelisation [lex evangelizationis] bleiben. Denn so wird in jedem Volk die Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszusagen, entwickelt und zugleich der lebhafte Austausch [commercium] zwischen der Kirche und den verschiedenen nationalen Kulturen gefördert [Fußnote auf LG 13]. Zur Steigerung dieses Austauschs bedarf die Kirche vor allem in unserer Zeit mit ihrem schnellen Wandel der Verhältnisse und der Vielfalt ihrer Denkweisen der besonderen Hilfe der in der Welt Stehenden, die eine wirkliche Kenntnis der verschiedenen Institutionen und Fachgebiete haben und die Mentalität, die in diesen am Werk ist, wirklich verstehen, gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt.

Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören [auscultari], sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfaßt, besser verstanden und passender verkündet [aptus proponere] werden kann.

Da die Kirche eine sichtbare gesellschaftliche Struktur hat, das Zeichen ihrer Einheit in Christus, sind für sie auch Möglichkeit und Tatsache einer Bereicherung durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens gegeben, nicht als ob in ihrer von Christus gegebenen Verfassung etwas fehle, sondern weil sie so tiefer erkannt, besser zur Erscheinung gebracht und zeitgemäßer gestaltet werden kann.

 

Die Kirche erfährt auch dankbar, daß sie sowohl als Gemeinschaft wie auch in ihren einzelnen Kindern mannigfaltigste Hilfe von Menschen aus allen Ständen und Verhältnissen empfängt. Wer nämlich die menschliche Gemeinschaft auf der Ebene der Familie, der Kultur, des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, der nationalen und internationalen Politik voranbringt, leistet nach dem Plan Gottes auch der kirchlichen Gemeinschaft, soweit diese von äußeren Bedingungen abhängt, eine nicht unbedeutende Hilfe.

Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben [Fußnote auf Texte von Justin und Tertullian sowie auf LG 9].

GS 44 ist in der Aula und hinter den Kulissen intensiv diskutiert worden. Die Neuheit dieser Sätze, ja: ihre Sprengkraft, wurde erkannt. Es gab mehr als einen Versuch, die sich hier deutlich erkennbare Vision einer lernenden Kirche abzuschwächen, die dieses Lernen eben nicht taktisch versteht, sondern als Notwendigkeit für sich selbst erkennt.35 Auch der Hinweis in der ersten Fußnote auf die Kirchenkonstitution Lumen Gentium, Nr. 13 kann nicht verbergen, dass es sich um eine wirklich neue und Lumen Gentium übersteigende ekklesiologische Einsicht handelt. Dies zeigt ein kurzer Textvergleich. Kapitel 13 aus Lumen Gentium betont zwar wie GS 44, dass die Kirche im Austausch mit den „Anlagen, Fähigkeiten und Sitten der Völker“ steht – daher wird die Passage in GS 44 zitiert –, schränkt aber ein: „soweit sie gut sind.“ Und fährt dann fort: „bei der Übernahme aber reinigt, kräftigt und erhebt sie diese.“ Die Austauschkommunikation mit dem kulturellen Kontext bleibt damit klar einseitig gesteuert: Es ist die Kirche, die bestimmt, was (für die Kultur und für sie) gut sei, was verbessert, gestärkt und betont werden müsse. Niemand wird dagegen verkennen können, in welche neue Dynamik der Wechselseitigkeit GS 44 vorstößt. Hier ist davon die Rede, dass die Kulturen eigene Reichtümer aus sich heraus hervorbringen, die in sich nicht noch einmal extern bewertet werden müssen; dass schon der rein immanente Einsatz für die Humanisierung der Gesellschaft hilfreich für die Kirche ist; dass diese Hilfe erfolgt, „gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt“; ja sogar davon, dass die Kirche von der „Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger“ profitiert. GS 44 ist (fast) gänzlich frei von der Gefahr einer „epistemologischen Arroganz“ des Schreibers36 und präsentiert eine Kirche, die sich als Akteur in kulturelle Pluralität einordnet, die andere Akteure respektiert, deren Leistungen dankbar nutzt und die sich ihrerseits ihrer Kultur anbietet, ohne eine Holschuld der anderen zu konstruieren. „Wohl noch nie zuvor“, so kommentiert Yves Congar, hat die Kirche „formell so anerkannt, dass sie gegenüber der Welt auch die Empfangende ist. Sie bekennt das in diesem Artikel 44, dessen Dichte und relative Neuheit einen eingehenderen Kommentar verlangen würden.“37

2.3 Akkomodation: Die Methode von GS 44

Der Text wäre tatsächlich in vielerlei Hinsicht zu kommentieren. Er steht in enger Reihung zu den Nummern 40–43, dem vierten Großabschnitt von GS, in denen die Kirche entfaltet, wie sie der ‚Welt‘ zu helfen beabsichtigt. Er leitet hin auf die christologische Nummer 45, die den ganzen ersten Teil von GS beendet und den zweiten präludiert. Er ruft missionstheologische Themen genauso auf wie die Möglichkeiten eines ‚consensus fidelium‘ usw. All dies soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Für den Zusammenhang dieses Buches ist der methodische Fokus zu betonen. Er findet seine Überschrift in dem programmatischen Satz: „Diese in diesem Sinne angepaßte Verkündigung des geoffenbarten Wortes muss ein Gesetz aller Evangelisation bleiben.“

Diese Formulierung reklamiert deutlich programmatische Ansprüche (‚muss ein Gesetz bleiben‘). Dies gilt, auch wenn natürlich im Rahmen redlicher und unaufgeregter Konzilshermeneutik eine einzige Passage nur aus dem integralen Gesamtzusammenhang des ganzen Textes und des ganzen Konzils gelesen werden darf.38 Was so prominent wie hier als ‚lex evangelizationis‘ betont wird, muss man hermeneutisch als normative Spitzenformulierung verstehen dürfen. Es wird überdeutlich greifbar, was auch für GS als ganzer Konstitution gilt: Das Konzil als Gesamtereignis eines pastoralen Konzils „sprengt (…) sowohl inhaltlich als auch in der Sprachgestalt die traditionelle Systematik theologischen Denkens“39. Die Pastoralkonstitution hat hierfür die „Schlüsselrolle (…): Die Kirche bezieht mit ‚Gaudium et spes‘ einen Standort außerhalb ihrer selbst, um von dort aus – von den ‚Zeichen der Zeit‘ her – die irdischen Wirklichkeiten ‚im Lichte des Evangeliums‘ zu deuten.“ GS 44 ist ein Haupttext genau für diesen Perspektivwechsel in die pluralen Kontexte hinein. Kirche bekommt sich selbst und ihre Entwicklungspotenziale in den Blick, weil sie sich in ihre Kultur hinein dekontextuiert. Die Kirche erfährt eine Verortung, wird im Wortsinn ‚Ortskirche‘, und genau diese Bereitschaft zum Fragment aktiviert ihr Potenzial, eine Botschaft mit universaler Geltungskraft zu verkünden.

Diese Sprengung eines in sich geschlossenen Theologie- und Verkündigungszusammenhanges kann an drei, aus heutiger Sicht erstaunlichen Implikationen des Evangelisations-Gesetzes verdeutlicht werden:

– Das ‚Gesetz‘ fußt ganz unverhohlen auf einem Vorgang der kulturellen Anpassung (Akkomodation), der sozusagen den ganzen Algorithmus der kirchlichen Verkündigung anleiten soll (vgl. 2.4.).

– Diese Anpassung bezieht sich nicht auf Äußeres, Oberflächliches, zu Vernachlässigendes, sondern auf das Herz der Theologie: die göttliche Offenbarung (vgl. 2.5.).

– Diese Anpassung hat eine Zweck- und eine Ausführungsbestimmung: Beide liegen in den Herausforderungen der Versprachlichung des Glaubens (vgl. 2.6.).

2.4 Akkomodation als Anpassung?!

Sicher kann man heute sagen, dass die Sorge vor vorgeblich zu starker kirchlicher Anpassung an die ‚Welt‘, den ‚Zeitgeist‘ oder die ‚Bedürfnisse der Leute‘ den allgemeinen Ton beherrscht. Wenn sich auch gegenteilig nicht mehr viele Kreise in dem Wunsch treffen, aus der Kirche eine kontrastgesellschaftliche, hochunangepasste sozialrevolutionäre pressure group zu formen, so ist es doch weiter guter katholischer Ton, sich irgendwie ‚der Gesellschaft‘ gegenüber in mentaler Distanz zu bewegen. Gerade im Zusammenhang einer beherzten Nutzung der soziologischen Milieuforschung ist diese mentale Reserve unverkennbar. Man warnt vor Marketing, Selbstauslieferung oder sogar dem vorgeblich allgemein grassierenden Turbokapitalismus. Die Forderung nach ‚Entweltlichung‘ durch Benedikt XVI. bei seinem letzten Deutschlandbesuch – so genau man hier theologisch sondieren muss, was gemeint war40 – steht in auffallendem Kontrast zu der Drift, die offenbar das Konzil geprägt hat. Es ist schon bemerkenswert, dass das lateinische Wortfeld von ‚Anpassung‘, also akkomodatio, adaptio, assimilatio u. a. in den Dokumenten über 60-mal auftaucht. Und dies keineswegs nur an Randstellen.41

Der in GS 44 gebrauchte Begriff der ‚accommodatio‘ bzw. das Adjektiv ‚accomodatus‘ bedeuten so viel wie: Anpassung, Entgegenkommen, Rücksichtnahme, passende Einrichtung, schicklich, entsprechend, geeignet. Das Wortfeld ist schon weit vor dem Konzil im missionswissenschaftlichen Sprachgebrauch durchaus üblich, wird hier aber in die neue Akzentuierung gebracht. Gemeint ist eben keine Übernahme kultureller Güter von einem feststehenden Rahmen in einen anderen, sondern ein wechselseitig geschichtlich-hermeneutischer Vorgang. Heute spricht man wohl missverständnisfreier von ‚Inkulturation‘.42 Wichtig ist aber, was beide Begriffe verbindet: die Risikodimension, die GS 44 klar darlegt. Beide Partner in der Akkomodation bzw. der Inkulturation wollen und werden sich durch ihre kulturelle Begegnung verändern. Bei beiden geht es nicht um eine Konversion in die Logik des anderen hinein. Vielmehr finden sich gerade durch ihre Begegnung beide vor einem gemeinsamen Dritten wieder, über das man die Querschnittsfläche, aber auch die weiter bestehende Abgrenzung zum Anderen erfährt. Es ist nicht leicht, dieses gemeinsame Dritte genauer zu bestimmen. Letztlich geht es wohl um die grundlegenden Errungenschaften humaner Daseinsgestaltung, um das, was man dem ‚Leben‘ an Sinn und Gewinn abschöpft, um Techniken und Einsichten der Lebensbewältigung, um Grundwerte, um Welt- und Existenzmodelle. Es geht, um alte Worte neu zu sagen, um ‚Weisheit‘ und ‚Heil‘. Hierfür ist eine akkomodierende Pastoral engagiert: Was verstehen andere kulturelle Akteure unter ‚Lebensgelingen‘, unter ‚Glück‘, unter ‚humaner Qualität‘? Woher beziehen sie diese Begriffe? Welche Wege haben sie zu ihrer Erfahrbarkeit erkannt? Welche Symbole, Metaphern und Rituale haben sie sich als sinn- und heilvoll erarbeitet? Und welche Fragen bleiben offen?

In einem hellsichtigen Beitrag hat der französische Theologe Christoph Theobald die hier aufgerufene Haltung einer pastoralen Relationalität auf den Kontext hin als „Bewunderung“43 gefasst. Er wünscht sich eine Kirche, die vor ihrer Kultur steht wie Jesus selbst, der den römischen Hauptmann kennenlernt – einen kultisch Unreinen, einen Heiden, einen Besetzer, einen Feind! – und ausruft: „Einen solchen Glauben habe ich in Israel noch bei niemand gefunden“ (Mk 8,10). Dabei ist damit keine oberflächliche ‚Heiligsprecherei‘ von Kontexten gemeint, die etwas nur deswegen schon prima fände, weil es anders und säkular ist. Es geht gar nicht um Werturteile, sondern um eine Haltung. Wer bewundert, respektiert. Wer bewundert, zeigt seine Fähigkeit, von sich abzusehen. Wer bewundert, richtet auf. Wer bewundert, will lernen. Theobald sieht nicht, dass das Konzil in seiner Gesamtheit diese Haltung dokumentiert. Das wäre überzogen. Wohl aber gibt es die Durchbrüche in sie hinein, etwa in der emotionalen Passage von GS 3: „Deshalb bietet die Heilige Synode, indem sie die überaus hohe Berufung des Menschen bekennt und erklärt, dass gewissermaßen ein göttlicher Same in ihn eingesenkt ist, dem Menschengeschlecht die aufrichtige Mitarbeit der Kirche an, um jene Brüderlichkeit aller herbeizuführen, die dieser Berufung entspricht.“

Und eben in GS 44. Theobald nimmt diese Nummer heran, um die große Aufgabe zu markieren, die aufgeworfen wird: die Offenbarung in prozessualer und kontextueller Relationalität neu zu verstehen. Oder einfacher: die Selbstmitteilung Gottes von Zeitpunkten und Ortskoordinaten her neu zu verorten.