Schwarzer Kokon

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Veronikas Flucht

Noch in derselben Nacht des Jahres 1735 verließ Veronika das Herrenhaus. Während Clexton in der Bibliothek weilte, hangelte sich Veronika, mit beiden Händen am Geländer der großen Foyertreppe, gebeugt, Stufe für Stufe ins obere Stockwerk. In ihrem Zimmer stopfte sie rasch Kleidung in einen Koffer und schlich anschließend, Jos schlafend auf dem Arm, vors Haus.

Es war eine laue Sommernacht, deren leuchtende Sterne am Firmament sie zu beobachten schienen. Langsam sog sie die frische Nachtluft in ihre Lungen, während sie sich zu beruhigen begann. In der Linken den Koffer, rechts Jos im Arm, überlegte Veronika, wohin sie gehen solle. Als naheliegende Lösung kamen die Stallungen in Betracht, allerdings wollte sie eine Begegnung mit Sam vermeiden. Die Option, einen Pferdewagen anzuspannen, um in das Stadthaus von Charleston zu fahren, verwarf sie. Jos könnte aufwachen und sie verraten, außerdem hätte sie in diesem Moment nicht die Kraft hierfür aufgebracht. Ihr kam das Kutscherhaus in den Sinn. Ursprünglich als Wohnraum für Sam gedacht, hatte sich dieser jedoch entschlossen, in seiner Kammer bei den Pferdestallungen zu bleiben.

Langsamen Schrittes, seitlich am Herrenhaus vorbei, erreichte sie mit Jos im Arm das etwa hundert Meter hinter dem Gutshaus liegende Gebäude. An der untersten Stufe der seitlich an der hölzernen Hauswand angebrachten Außentreppe stellte sie den Koffer ab und stieg mühsam zur Eingangstüre hoch. Diese war abgesperrt. Veronika legte Jos auf eine der Stiegen. Sie schlich wieder hinab, lief um die Ecke zum Haupttor des Kutscherhauses. Dieses war unverschlossen und ließ sich seitwärts an einer Führung aufschieben.

Veronika gelangte in die dunkle Halle der Droschken. Es roch nach Farbe eines frisch gestrichenen Fuhrwerks. Gleich neben dem Eingang stand eine Lampe gefüllt mit Rapsöl und Veronika entzündete den Docht. Im Lichtschein der hochgehaltenen Laterne suchte sie ein Werkzeug, geeignet, um die Türe im ersten Stock aufzustemmen. Auf einer Werkbank lag eine Eisenstange für Reparaturen an den Wagenrädern. Circa fünfzig Zentimeter Länge, unten abgewinkelt, hervorragend als Brecheisen zu verwenden. Vorsichtig löschte sie das Licht, schob mit Einsatz ihres ganzen Körpers das schwere Holztor zu und lief, etwas außer Atem, zurück zur Außentreppe.

Sie fasste nach dem Koffer am Treppenabsatz und stellte diesen, oben angekommen, neben den noch immer schlafenden Jos. Sofort setzte sie das Eisen seitlich zwischen Türe und Rahmen an. Ohne Widerstand gab das Schloss knarzend nach. Als sie den kleinen Raum betrat, legte sie den kleinen Jos in ein Federbett im hinteren Eck des Raumes. Oberhalb des Bettes schien das sternklare Nachtlicht durch ein Fenster, was ausreichend war, den Raum genügend zu erhellen.

Veronika erkundete weiter das Zimmer. Der Raum war karg ausgestattet. In ihm ein Bett, eine Kommode sowie ein Tisch mit vier Stühlen. Besorgt fiel Veronikas Blick auf die aufgebrochen Türe! Sowohl das Bett als auch die Kommode waren aus massivem Holz. Ihre Kraft würde nicht ausreichen, um die schweren Möbel vor die Türe zu schieben. So entschloss sie sich, den Tisch mit allen vier Stühlen als Türbarrikade zu verwenden. Anschließend legte sie sich angekleidet neben Jos ins Bett und stierte zur Zimmerdecke. Ihr schwerer Atem beruhigte sich nach und nach.

Wie weiter? Was würde der Tag bringen, wenn Clexton ihr Verschwinden bemerkte? Sie wusste es nicht. Mit ihrem Sohn lag sie im Dunkeln. Allein. Doch jetzt, zum ersten Mal seit jener Nacht, als Aba lichterfüllt die Grenzen des bis dahin wahrgenommenen Lebens aufzeigte, erfüllte sie ein Gefühl der Freiheit. Wie eine Raupe hatte sich Veronika seither in einen Kokon gesponnen und kam aus diesem nicht mehr heraus. Alles außerhalb des Kokons schien seit Jahren verschwommen zu sein. Ihre ausnahmslose Aufmerksamkeit galt Jos. Die Welt um sie herum war verhüllt. Keine Gefühle, keine Gedanken an das Geschehene. Doch nun?

Die Gewalt, die sie heute Nacht durch ihren Mann erfahren hatte, hatte ihren Käfig gesprengt und dem Schmetterling Freiheit geschenkt. Sie wusste jetzt: Clexton hatte sich damals schuldig gemacht. Wodurch? Überlegungen hierüber hatte sie all die Jahre erfolgreich verdrängt. Auch sprach sie seit jener schicksalhaften Nacht weder mit Sam noch mit Tumelo darüber. Jetzt, hier in der Stille des sternklaren Raumes, ahnte sie: Clexton musste sich in jener Nacht an Zola vergangen haben. Er war fähig dazu und nur dies gab dem ganzen Verlauf einen Sinn.

Ihr Blick verschwamm durch Tränen. Sie hatte ihren Mann geliebt, jenen, der sich nun an ihr vergangen hatte. Veronika erschrak. Was, wenn sie von Clexton schwanger würde? Keinesfalls durfte sie ein Kind des Zorns in sich tragen! Ein unerträglicher Gedanke.

Ihr Blick, der auf Jos gerichtet war, ließ sie für einen Augenblick die Liebe spüren, die sie einst für Clexton empfunden hatte. Jos war ein Geschenk dieser Liebe. Doch jetzt … „Ich muss etwas unternehmen.“

Sie setzte sich auf die Bettkante, hob ihr Gewand und spreizte die Beine. Ihre Scham war feucht. Veronika presste, ein verzweifelter Versuch, den Saft des Dämons aus ihrem Leib zu verbannen. Einige Tropfen quollen hervor, doch würde sie damit etwas ändern? Mit dem Saum ihres Kleides trocknete sie ihre Scham. Gottes Wille, dachte sie.

Dann lag sie wieder mit geschlossenen, zuckenden Lidern, bis sich der Horizont blutrot färbte. Hatte sie Schritte von außen gehört? Sie riss die Augen auf und blickte entsetzt zur Tür. Dumpfe Tritte schweren Schuhwerks, eine Stufe nach der anderen nehmend, ohne Hast.

Sam schaltet sich ein

Es rüttelte an der Tür. Erst leicht, dann stärker werdend. Veronika erbleichte. Sie rappelte sich auf, nahm Jos in den Arm und saß wie versteinert mit angezogenen Knien, den Rücken ans Kopfende des Bettes gepresst. Für einige Sekunden Ruhe. Doch dann ein heftiger Stoß und die Tischbarrikaden wurden zur Seite gerammt, die Stühle fielen knallend zu Boden. Jos erwachte, wusste nicht, wo er war, und sah zu seiner Mutter. Er spürte ihre Angst, unterdessen sein Blick zur Türe ging, die sich laut knarrend öffnete.

Clexton trat ein. Unrasiert, von der Nacht gezeichnet. Er sah aus wie ein grober Gewaltverbrecher. »Hier hast du dich versteckt.« Ein unheimliches Grinsen verzerrte sein Gesicht zu einer Fratze.

»Lass uns in Ruhe, Clexton, du hast genug Unheil über die Familie gebracht.«

Die zittrige Stimme Veronikas erweckte in Clexton ein Gefühl der Macht, welche er nun auskosten wollte. »Du denkst, du kannst deiner Schuld entkommen, Veronika. Das wird dir aber nicht gelingen. Ich bin dein Mann, schon vergessen?« Er streckte ihr beide Hände entgegen und seine Finger bewegten sich so, als wolle er ihr befehlen, zu ihm zu kommen.

Veronikas Beklemmung wich dem Hass, der in ihr aufstieg. Dieser Dämon war nicht mehr ihr Mann! Mit lauter Stimme, ohne Anzeichen von Unsicherheit schmetterte sie ihm entgegen: »Du hast dich versündigt, Clexton. Versündigt an deinem Sohn, versündigt an deiner Frau und versündigt an einer Unschuldigen. Weder ich noch Jos können dir die Strafe zukommen lassen, die du verdienst. Aber solltest du vergessen haben, welche Kraft von dir in jener Nacht Besitz ergriffen hat, so werde ich dich in jeder Sekunde deines Lebens daran erinnern. Aba und Zola werden dich in der Hölle schmoren lassen, zu Lebzeiten und im Tode.«

Augenblicklich wurde Clexton leichenblass. Veronika hatte seine tiefsten Ängste ausgesprochen. »Ich, ich werde dir die Seele aus dem Leib prügeln!«, schrie Clexton und machte einen Satz nach vorne.

In diesem Augenblick erschien Sam im Zimmer. Er musste die Außentreppe hochgekommen sein, ohne dass beide dies bemerkt hatten. Leise und ruhig, als ob er diesen kurzen Satz jahrelang mit sich herumgetragen hätte, sprach Sam: »Mr. Baine, es ist genug.«

Clexton fuhr herum und sah wutentbrannt zu Sam. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu dem eines verängstigten Tieres in der Falle. Er warf Veronika und Jos einen letzten Blick zu, dann drängte er sich nach draußen.

Die Vernissage

Stephen saß vor einer Tasse Kaffee in der Küche, war unleidlich, wusste jedoch nicht so recht warum. Mein Bruder kann sich alles erlauben, ohne hierfür wirklich bestraft zu werden. Hausarrest, dachte er. Lächerlich. Marc zieht den Ruf unseres Vaters und den der Familie in den Dreck und schert sich einen Scheiß um die Konsequenzen.

Seine Mutter dagegen hatte sich wieder einmal vor Marc gestellt. Unbegreiflich. Warum nur habe ich das Gefühl, sie würde dies zwar für Marc, aber nie für mich tun? Liebt sie Marc mehr? Ich bin Dad ähnlicher, überlegte er. Ich und Vater teilen die gleichen Ansichten, kleiden uns ähnlich, beide tragen wir stolz den Namen Haskins. Nicht, dass Olivia keinen Stolz hätte. Nein, sie war nur anders. Im Gegensatz zum Vater und ihm reagierte sie emotional, selten sachlich durchdacht. Dies wird es wohl sein. Daher Olivias Nähe zu Marc. Auch mein Bruder handelt aus dem Bauch. Bevor er nachdenkt, ist der Satz gesagt, der Ball in der Scheibe, dem Widersacher eins auf die Nase gegeben. Erst hinterher denkt Marc über die Auswirkungen nach. Jetzt allerdings hat Marc den Bogen überspannt. Er bringt die Familie in Schwierigkeiten und hält es nicht für angebracht, dafür geradezustehen, dachte Stephen.

Seine Gedanken bewegten sich allmählich im Kreise und er beschloss, sich abzulenken. Fredrik und Olivia waren dieses Wochenende auf einem Kongress der Republikaner und würden erst Sonntag wiederkommen. Marc lümmelte schon den ganzen Morgen gelangweilt auf der Couch und sah Footballspiele im Fernsehen. Er wagte es nicht, seinen Hausarrest zu brechen. Dad hatte angekündigt, mehrmals täglich anzurufen, um dessen Anwesenheit zu prüfen.

 

Nachdem Stephen fertig gefrühstückt und geduscht hatte, fuhr er ohne Verabschiedung mit dem Aufzug zur Tiefgarage. Der Mustang bog aus der Garage und Stephens Laune besserte sich. Der Fahrtwind des offenen Verdecks blies ihm warm ins Gesicht. Sein Ziel war das College. Susan hatte samstags Training der Cheerleader und hinterher sicherlich Zeit, mit ihm eine Spritztour zu unternehmen. Er parkte seinen Wagen direkt vor dem Zaun des Uni-Sportplatzes. Von Weitem konnte er Susan im Kreis junger Mädchen mit knappen Kostümen und rot-weißen Pompons ausmachen.

Nach der Geburtstagsfeier hatte Susan mehrfach bei ihm angerufen sowie SMS geschrieben, die er allesamt unbeantwortet ließ. Er hatte die ganze Woche über den Kontakt zu ihr vermieden, um nicht Vorwürfe seines Verschwindens auf der Geburtstagsparty über sich ergehen zu lassen. Stephen war sich nicht einmal im Klaren, ob er richtig fest mit Susan zusammen war, geschweige denn, ob er sie liebte. Zugegeben, sie hatten ein paarmal miteinander geschlafen, das war es dann aber auch. Liebe? Wofür? Ich bin jung und das ganze Leben – hübsche Frauen! – liegt vor mir.

Doch jetzt hatte er Verlangen nach Susan, stand am Zaun und hob winkend die Hand. Sie musste ihn gesehen haben. Ihm war, als ob ihre Blicke sich getroffen hätten. Allerdings reagierte Susan nicht. So wartete Stephen, bis circa zehn Minuten später das Training zum Ende kam. Er betrat durch eine Öffnung im Zaun das Sportplatzgelände und lief quer über den Rasen. »Susan, warte!«

Sie drehte sich um und verschränkte beide Arme. »Ach, der liebe Herr lebt noch«, zickte sie ihn an.

»Na klar lebe ich noch, was denkst du denn? Hatte nur echt keine Zeit, mich letzte Woche zu melden.«

»Keine Zeit«, äffte Susan ihn nach. »Hör mal, Stephen, mir ist echt unbegreiflich, wie man Hunderte von SMS ignorieren und keine fünf Minuten telefonieren kann. Wenn du das unter Freundschaft verstehst, dann pfeif ich drauf.«

»Hör zu, Susan.«

»Nein, jetzt hörst du mir zu. Du schläfst mit mir, versprichst das Blaue vom Himmel und dann …«, Susan kam richtig in Fahrt, »… dann verschwindest du einfach mir nichts, dir nichts von meiner Party, nur weil ich dir keinen blasen wollte. Hast du sie noch alle?«

Die umstehenden Mädchen kicherten, da Susan es nicht vermied, wenigstens das letzte Thema leise auszusprechen.

»Okay, dann eben nicht. Ich wollte dich auf eine Spritztour einladen und es wiedergutmachen. Aber wenn du meinst, du musst mich vor all deinen Freundinnen runtermachen, gut so.«

»Auf eine Spritztour, ha, wie passend. Du kannst mir gestohlen bleiben mit deiner Spritztour. Tom holt mich nachher ab und der hat eine Spritztour mehr verdient als du.«

Stephen hatte endgültig genug. Um sich nicht weiter vor all den Mädchen zu blamieren, machte er mit einem »Dann lass es« kehrt und stolzierte zurück zum Mustang. Cool, wie er fand, erhobenen Hauptes, doch er fühlte die Demütigung, deren Krönung das Date mit Tom war. So eine dumme Gans, was denkt sie denn, wer sie ist. Blöde Kuh.

Der Motor heulte auf und eine Staubwolke hinter sich lassend, fuhr er vom Gelände. Immer wieder schlug er mit der flachen Hand zornig auf das Lenkrad, während er den Mustang zur Hauptstraße steuerte. Schon wieder hatte Susan seine Laune verdorben. Soll sie doch. Ich finde jederzeit eine Neue. Ich bin es: Stephen Haskins!

Was wohl Dad in einer solchen Situation gemacht hätte? Er überlegte, zu einer Prostituierten zu fahren. Ab und an taten es seine Freunde und sie hatten mächtigen Spaß daran. Doch jetzt war ihm nicht danach. Er fühlte eine gähnende Leere. Was also dann? Mit Kumpels irgendwo abhängen, ins Kino – keine der Ideen wollte ihn aufmuntern. Minutenlang stierte er vor sich hin, bis er wusste, was er brauchte. Das Gefühl der Eroberung! Vor seinen Augen schwirrten die unterschiedlichsten Mädchen. Welche davon wäre geeignet, flachgelegt zu werden? Genau das hatte er heute nötig. Keine, die sich bezahlen ließ, nein, eine, um die man kämpfen musste. Haupttreffer! Stephens Wahl fiel auf …

Der Gedanke daran ließ ihn innerlich jubeln. Er fuhr geradewegs zum Kino, aß eine Kleinigkeit und besuchte anschließend die Nachmittagsvorstellung. Der Film war Nebensache – er wollte die Zeit totschlagen bis … Als die Vorstellung um 18 Uhr endete, steuerte er den Mustang direkt zum anvisierten Ziel: das Brown Sugar. Einige wenige Gäste saßen an der Bar. Die Tische waren allesamt unbesetzt, viele mit dem Schild »Reserviert« versehen. Nur mehrere Bedienungen erweckten den Eindruck regsamen Treibens. Doch keine davon war Sandra. Vielleicht ist sie in der Küche oder kommt später, sann Stephen. Eine der Angestellten mit einem leeren Tablett in der Hand stand plötzlich neben ihm.

»Ist Sandra da?«

»Sandra? Warte mal kurz.« Sie rief über ihre Schulter hinweg einer Kollegin zu: »Hat Sandra heute Dienst?«

»Nein, die hat frei, irgendeine Vernissage.«

»Sorry, kann ich ihr was ausrichten?«

»Weiß jemand, wo diese Vernissage ist?«

Die Blondine in engen Jeans und bauchfreiem Top schüttelte den Kopf. »Nein, aber Frank könnte es wissen, der ist für den Dienstplan zuständig. Scheint dir ja wichtig zu sein. Wenn sie nicht kommen sollte, ich habe um zwei Schluss.« Sie zwinkerte, indes sie ihn von oben bis unten musterte.

»Ist Frank da?«, fragte Stephen unbeeindruckt.

»Na, dann nicht. Ja, ist hinten, kommt sicher gleich. Du kannst ihn nicht übersehen. Mehr breit als hoch.« Eine Kaugummiblase aus ihrem Mund schwoll an wie ein kleiner Luftballon und platzte auf den roten Lippen. Damit ging sie, die Kerzen der Tische anzuzünden.

Stephen blickte sich um, als schon ein kleiner Dicker mit buntem Hawaiihemd aus der Küche kam und einen Karton auf die Bar wuchtete. Während er die Pappe aufriss und Flaschen entnahm, ging Stephen auf ihn zu. »Frank? Ich suche Sandra. Eine Kollegin hat mir verraten, dass sie heute auf einer Vernissage ist. Wissen Sie zufällig …«

»Klar, weiß ich wo, bin ja eingeladen. Wer will das wissen?«

»Ich bin ein Freund von Sandra und wollte sie treffen.«

»Wenn du ein Freund bist, wieso weißt du dann nicht, wo die Vernissage ist? Sandra macht doch schon die ganze Woche Werbung dafür.«

»Ich hab sie letzten Samstag kennengelernt, anschließend nach Hause gefahren. Ich würde sie gerne wiedersehen.«

»Tatsächlich, heimgebracht?« Anscheinend hatte der Dicke jetzt etwas mehr Zutrauen. »Massachusetts Avenue, im College, da stellen sie und ihre Malerfreunde heute aus. Freut sich bestimmt, dich zu sehen. Sag ihr, Frank kann leider nicht kommen.« Damit drehte er sich um und marschierte mit dem leeren Karton zurück in die Küche.

Stephen steuerte in die Wisconsin Avenue, vorbei an der Georgetown University, wo er erst vor wenigen Stunden mit Susan gestritten hatte, und bog in die Massachusetts. Zwanzig Minuten später erreichte er den Haupteingang des College of Arts. Bunte Blumen sowie prachtvolle, von weißen Blüten bedeckte Bäume zierten das Gebäude. Breite Steinstufen führten zum Eingang, dessen massive Überdachung – mit dem Schriftzug ›Batterial Memorial‹– von zwei griechisch anmutenden Steinsäulen getragen wurde.

Als Stephen das Foyer betrat, stand dort vereinsamt auf dem Steinboden ein Flipchart:

»Heute Vernissage des Studiengangs Malerei und Plastik. Erste Etage.«

Bis in den ersten Stock hinauf begegnete er keiner Menschenseele, Stephen befürchtete schon, dass die Ausstellung vorüber sei. Er schritt einen hellen Gang entlang, als ein junger Mann mit Vollbart und Rastalocken aus einer Türe kam und ihm entgegenschlurfte. Seine Baggy Jeans hing ihm bis an die Knie.

»Entschuldige, kannst du mir sagen, wo die Ausstellung ist?«

Ohne Antwort gab dieser nur mit seinem Daumen über die Schulter Zeichen und ging weiter. Stephen schritt den Flur entlang, bis er den Raum betrat, aus dem der »Rasta« soeben gekommen war. Etwa dreißig Personen befanden sich in einem großen Saal mit weiß gestrichenen Wänden. Überall hingen bunte Bilder in unterschiedlichsten Stilen, auch lagen wie hingeworfen und vergessen obskure Installationen im Raum.

Sandra fiel ihm sofort ins Auge. Sie stand mit zwei Jungs vor einem großen, mit Facetten unterteilten Fenster, welches nach oben hin rund zulief. Neben ihr hing ein großes Portrait einer alten Frau an der Wand. Sandra lächelte erstaunt, als sie Stephen erkannte.

»Hey, Stephen, was machst du denn hier?«

»Ich soll dir ausrichten, dass Frank nicht kommen kann.« Stephen grinste über beide Backen.

»Ach, du warst im ›Sugar‹? Und jetzt hier?«

»Hast du das gemalt?« Stephen deutete auf die Leinwand.

»Ja, gefällt es dir?«

»Es ist toll.« Damit log Stephen nicht. Das Portrait war realistisch gemalt und hatte dank bunter, dick aufgetragener Farben einen beeindruckend pastosen Ausdruck. »Mein Dad hat vor Jahren zwei Bacon ersteigert, die bei uns im Wohnzimmer hängen. Ihm würde dein Bild sicher gefallen.«

»Wow, Francis Bacon.« Sandra stieß einen Ruf der Bewunderung aus, auch die beiden Jungs neben ihr nickten zustimmend. »Na, wenn meine Bilder mal neben dem hängen, kann ich dich auch zum Essen einladen.« Sie lachte und einige Sekunden blickten sich beide schweigend an.

Dann zog sie ihn zur Seite.

»Stephen, ich möchte mich entschuldigen. Es war nicht nett von mir, was ich dir letztes Mal an den Kopf geworfen habe.«

»Mach dir keine Gedanken, obwohl du total danebenlagst. Vorschlag: Ich verzeihe dir, wenn du mit mir Essen gehst und mich über Kunst aufklärst. Bin tatsächlich kein Profi. Vielleicht kann sich Dad ja mal deine Bilder ansehen?«

Sandra war überglücklich. Zumal sie neben dem Date auch die Aussicht bekam, Stephens Vater ihre Bilder zu zeigen. Plötzlich, als suche sie jemanden, drehte sie sich in den Raum und schien fündig geworden. »Da drüben steht mein Bruder. Ich hab dir doch von Elias erzählt?«

»Ja, ich kann mich erinnern. Die Bulldogge, an der man erst mal vorbeikommen muss.«

»Genau.« Sie kicherte und zog ihn am Ärmel durch den Saal.

Ihr Bruder hatte etwa Stephens Alter, trug kurzes, wie ein Teppich auf der Kopfhaut liegendes, schwarzes Haar und war einen Kopf kleiner als Stephen. Gleich der Schwester, blitzten ihn die strahlend weißen Zähne ihres Bruders an.

»Elias, darf ich bekannt machen. Das ist Stephen.«

»Hey, Stephen, studierst du auch Kunst?«

»Nein, ich bin zufällig hier.« Dabei zwinkerte er Sandra zu.

»Dachte schon, denn die meisten, die hier sind, studieren auch hier. Woher kennt ihr euch?«

»Aus dem ›Sugar‹«, warf Sandra ein. »Stephen hat mich neulich heimgebracht.«

»Ah«, nickte Elias vermeintlich wissend, indes Stephen überlegte, ob Sandra ihrem Bruder von ihm erzählt hatte. Elias musterte Stephen. »Willst du ein Bier? Hinten stehen Kästen, kostet nichts.«

Stephen nickte und folgte Sandra zum Biervorrat.

»Wie lange geht das hier heute?«, fragte Stephen wenig später mit der Flasche in der Hand.

»Denke, noch ein, zwei Stunden. Ist ja sowieso nicht viel los.«

»Wollen wir danach essen gehen? Du bist eingeladen.«

Sandra wirkte aufgeregt, doch verzog sie etwas nachdenklich das Gesicht. »Ich bin mit Elias hergekommen, aber er kann sicher alleine nach Hause. Ich frag ihn kurz.« Sie huschte hinüber und kam nach rascher Unterredung mit Elias freudestrahlend zurück. »Passt. Er bittet nur, dass du mich spätestens gegen Mitternacht nach Hause bringst.«

»Klar, Punkt zwölf liefere ich dich ab.«

Eine Stunde später saßen sie gemeinsam in einem japanischen Restaurant. Sandra staunte, als Stephen das Menü für beide bestellte. Um die Zeit einzuhalten, verschlangen sie die Speisen, während Sandra lachend und plaudernd aß, was das Zeug hielt. Sie erläuterte Stephen voller Hingabe alles, was sie über Kunst gelernt hatte. Kurz nach Mitternacht standen sie vor Sandras Wohnung. Die Verabschiedung verlief dieses Mal anders. Sandra küsste Stephen leidenschaftlich auf den Mund.