Schwarzer Kokon

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Stephens Frauen

Stephen fuhr direkt von der Uni nach Hause und parkte seinen knallroten Ford Mustang Cabrio, Baujahr 1968, in der Tiefgarage. Noch wusste er nichts von der Schlägerei seines Bruders, auch nicht, dass dieser hinter Gittern der United States Capitol Police einsaß. »Mom«, rief er, als er durch die Aufzugstür, die direkt in die Wohnung führte, eintrat. In der Küche erblickte er den wunderschönen Kuchen mit vielen Kerzen darauf. Er zählte nach – es waren siebzehn. Nochmals rief er seine Mutter, als er zu seinem Zimmer lief.

»Hier, Stephen, ich bin im Schlafzimmer.«

»Hey, Mom, ein toller Kuchen. Ich zieh mich nur schnell um und fahr dann gleich zu Susan. Kann heute spät werden.«

»Warte kurz«, bat seine Mutter und legte einen Stapel Kleider, den sie für die Obdachlosensammlung herrichtete, aufs Bett. »Lass uns ins Wohnzimmer gehen, ich muss mit dir reden.«

Beide saßen auf der weißen Couch und Olivia berichtete Stephen in Kurzform, was sein Bruder am Vormittag angestellt hatte.

»Au Mann«, war die erste Reaktion von Stephen. »Marc reißt Dad ganz schön in die Scheiße. Weißt du schon was von Michael? Hat er sich gemeldet?«

»Nein, noch habe ich nichts gehört und Dad ist im Club mit Senator Brown. Nun fahr du zu Susan und erzähl um Gottes willen niemandem davon.«

»Geht klar, aber stell dich nicht wieder wie eine Löwenmutter vor ihr Junges. Marc muss endlich lernen, was aus seinem Leben zu machen. Wenn du ihn ständig in Schutz nimmst, hilfst du ihm nicht und Dad rastet noch mehr aus.«

Belehrende Worte, dachte Olivia.

Stephen ging in sein Zimmer, welches direkt neben dem von Marc lag. Fein säuberlich hängte er die ausgezogene Hose über einen Bügel in den Schrank, sein weißes Hemd landete auf dem Boden. Ein kurzer, prüfender Blick in den Spiegel seines Kleiderschrankes bestätigte seine Erwartung und ihm gefiel, was er sah.

Stephen, ein paar Zentimeter kleiner als sein blonder Bruder Marc, hatte etwas dünneres, dunkles Haar, welches er zu einem akkuraten Seitenscheitel frisierte. Sein Gesicht zeigte männlich markante Züge, vor allem durch das ausgeprägte, breite Kinn, welches, durch starken Bartwuchs, etwas dunkel schien. Nicht so muskulös wie Marc, war seine Figur schlank, drahtig durchtrainiert. Man sah es Stephen an, dass er den Sportarten der Leichtathletik mehr zugeneigt war, als den Mannschafts- und Kraftsportarten seines Bruders.

Stephen schlüpfte in seine Designerjeans, streifte ein Poloshirt über, dann zog er seine beigefarbenen, ledernen Mokassins an.

»Was schenkst du Susan eigentlich?« Olivia lehnte am Türrahmen.

Aus seiner Hosentasche kramte er ein unverpacktes Schmucketui. Darin lag ein kleines, dünnes Goldkettchen mit einem Anhänger. Dieser hatte die Form des Dollarzeichens.

»Wäre ein Herzchen nicht persönlicher gewesen?«, fragte Olivia und runzelte die Stirn.

»Mom, du kennst mich doch, ein Dollarzeichen passt eben besser zu mir als ein Herzchen.« Stephen grinste.

»Aber sie trägt doch das Kettchen!«

Stephen lächelte, drängelte sich an ihr vorbei und warf ihr hauchend einen Handkuss zu, als er in der Küche den Kuchen holte und durch die Aufzugstür verschwand.

Sein Mustang steuerte direkt zu Susan, die wenige Meilen entfernt bei ihren Eltern wohnte. Da vor dem Haus viele Autos schon angekommener Gäste standen, parkte er in einiger Entfernung. Laute Musik dröhnte ihm entgegen, als er direkt um das Anwesen herum nach hinten in den Garten ging. Etwa vierzig Jugendliche, einige, zum Teil in Badehose und Bikini, feierten bereits ausgelassen. Stephen sah auf seine Patek Philippe. Es war kurz nach 17 Uhr und er lächelte erwartungsvoll. Wenn um diese Zeit schon so eine Stimmung herrscht …

Lex, ein etwas untersetzter Kommilitone aus der Uni, kam ums Eck und legte freundschaftlich seinen Arm um Stephen. »Hey, alter Knabe, da geht heute die Post ab.« Dabei hob er seinen Cocktail in die Höhe. »Campari, Wodka und ein Schlückchen O-Saft. Kann ich dir empfehlen. Haut rein, wenn die Mischung stimmt.«

»Hast du Susan gesehen?«

»Oh ja, zuletzt war sie drüben an der Poolbar. Tom baggert an ihr.«

Stephen lächelte süffisant, während er seitlich zum Pool lief. Susan stand mit Tom an der Bar, der ihr etwas ins Ohr flüsterte. Laut lachend warf sie ihren Kopf in den Nacken und ihre roten, langen Haare wirbelten, als sie Stephen erblickte. »Stephen, hierher«, rief sie ihm zu und winkte.

»Hey, Zuckermäuschen, ich hab gehört, hier feiert jemand seinen Geburtstag.«

Nachdem der Kuchen abgestellt war, drückte er Susan einen dicken Kuss direkt auf ihre knallrot geschminkten Lippen. Tom verzog missmutig das Gesicht.

»Wow, ein selbst gebackener Kuchen.« Susan tat so, als ob sie ein Wunderwerk bestaunte.

»Hab ich die ganze Nacht nur für dich gebacken, Mäuschen.«

Mäuschen, Mäuschen, Tom wurde sichtlich sauer.

Sodann holte Stephen aus seiner Hosentasche das unverpackte Etui hervor. Susan verzog beim Anblick der hellgrauen Schmuckbox leicht ihre Augenbrauen, ließ sich jedoch nichts anmerken, als ihr nach Öffnung der Dollar-Anhänger entgegenblitzte. »Ganz mein Schatz Stephen«, witzelte sie und umarmte ihn.

Da die Schlacht für Tom vorerst verloren schien, trat er, mit einem kurzen Wink, den Rückzug an.

Mit Susan im Arm griff Stephen zu einem gemixten Cocktail, der zumindest genauso aussah wie der von Lex. Ausgelassen wurde gefeiert und getanzt, bis kurz vor 23 Uhr Stephen gemeinsam mit Susan deren Zimmer aufsuchte. Sie küssten sich leidenschaftlich.

»Schau mal, was ich da habe«, schmunzelte Stephen und zog aus seiner Gesäßtasche ein verpacktes Kondom heraus. Er hielt es winkend vor Susans Nase. »Erdbeergeschmack.«

»Stephen, sorry, das geht nicht. Die ganzen Gäste, und ich hab meine Tage.« Susan verzog ihr Gesicht.

»Fuck«, fluchte Stephen kurz. »Aber du kannst mir sicher einen blasen?« Und schon griff er an seine Hose, um die Knöpfe zu öffnen.

»Du spinnst doch. Ich werde dir jetzt ganz bestimmt keinen runterholen. Lass uns nach draußen gehen und weiterfeiern.« Susan zeigte sich beleidigt.

»Bist du bescheuert, du hast mir doch schon öfter einen geblasen. Was soll das jetzt?«

»Nun sei nicht sauer. Es ist doch mein Geburtstag.« Beschwichtigend drückte sie ihre Lippen auf seine Wange und zog ihn aus dem Zimmer.

Stephen hatte sich den Verlauf des Abends anders vorgestellt. Er wollte feiern, um anschließend mit Susan zu schlafen. Seine gute Stimmung war verflogen. Wieder unten angekommen, schnappte er sich ein Glas Bourbon mit Cola, setzte sich alleine auf einen Gartenstuhl, während Susan in einer Gruppe tanzender Mädchen unterging.

Mit glänzend fröhlichen Augen gesellte sich Lex zu Stephen. »Na, du schaust ja mal kotzig drein. Wohl nicht zum Stich gekommen?«, grinste er und traf damit ins Schwarze.

»Genau, Kumpel, nicht mein Tag heute. Ich glaub, ich mach die Biege und fahr noch auf nen Sprung ins Brown Sugar. Kommst du mit?«

»Nö, Stephen, ich find’s gut hier. Zudem habe ich ein echt heißes Eisen im Feuer.« Er deutete auf eine dunkelhaarige, etwas Mollige, deren massige Brüste das Bikinioberteil zu sprengen drohten und deren Stringtanga gerade einmal zu erahnen war. Sie hatte Lex direkt im Visier. »Die ist scharf auf mich und meine Peperoni! See you.« Lex tänzelte beschwipst zu der Molligen und gab ihr frech einen Klaps auf den blanken Hintern.

Stephen hatte die Nase voll. Er kramte seinen Autoschlüssel hervor und ohne sich zu verabschieden, verließ er die Party. Sein Wagen steuerte direkt zum Brown Sugar, eine beliebte Bar im Westen von Georgetown. Angekommen nahm er als einziger Gast am Tresen Platz. Eine hübsche Farbige mit kurzem Top fragte nach seiner Bestellung.

»Bourbon Cola, viel Bourbon.«

Die Bardame lächelte und mixte ihm seinen Drink. Sie stellte das Glas vor ihm auf die Bar. »Na, miesen Tag gehabt?«

»Hatte schon bessere. Aber morgen ist ja auch wieder einer.«

Ihm den Rücken zugedreht, betrachtete er das Mädchen und ihm fiel ihre schlanke, durchtrainierte Figur auf. Wenn sie keine Schwarze wäre, dachte er, träfe sie genau meine Kragenweite.

»Darf ich Ihnen einen Drink spendieren?«, fragte er, während sie mangels zu bedienender Gäste Gläser polierte.

Abrupt drehte sie sich um und strahlend weiße Zähne lächelten ihn charmant an. »Ich trink einen mit, geht auf Kosten des Hauses. Ist eh nichts los.« Sie goss sich einen Schluck Wodka ins Glas und mischte mit Ginger Ale. »Cheers.«

»Cheers. Ich heiße Stephen, Stephen Haskins.«

»Sandra, angenehm, Stephen.«

Sandra schien nicht auf den Namen Haskins anzusprechen. Sonst wurde Stephen gefragt: »Der Sohn von Senator Haskins?«

»Was machst du so, Stephen?«, fragte Sandra.

»Ich bin der Sohn von Senator Haskins«, gab Stephen angeberisch von sich. Ein Trumpf, so glaubte er, der ihn interessant erscheinen ließ.

»Hab ich mir gedacht, und? Ich wollte wissen, was du so machst.«

Stephen war perplex. So eine Reaktion hatte er nicht erwartet. »Ich studiere an der Georgetown und werde wohl in die Fußstapfen meines Vaters treten. Haskins Corporation, du weißt schon. Und du, was machst du so, wenn du nicht hinter dem Tresen stehst?«

»Tagsüber studiere ich am College of Arts Kunst. Ansonsten jobbe ich nachts hier und dreimal die Woche als Aushilfe in einer Wäscherei. Wenn du also mal ein Hemd gebügelt brauchst, komm einfach vorbei.«

Sie lächelte unwiderstehlich. Ihre exakt sitzenden, weißen Zähne wurden von weichen Lippen umrahmt – beim Lächeln bildeten sich kleine Grübchen. Stephen war von ihr angetan.

 

»Wenn du dir ein zusätzliches Trinkgeld verdienen willst, dann bring mir bitte noch einen.« Dabei deutete Stephen auf sein Glas.

»Wenn’s weiter nichts ist?« Sandra goss ihm Bourbon mit Cola nach. »Und warum sitzt ein Mr. Haskins mutterseelenallein bei mir an der Bar? Etwa Liebeskummer, der ertränkt werden will?«

»So in etwa oder auch nicht«, murmelte Stephen. Sie hatte recht. Was mache ich eigentlich hier? Stephen saß vor seinem Glas und dachte über den Tag nach. Kurz an die Uni, um dann, so sein Plan, auf einer tollen Party die Freundin zu bumsen.

Sandra unterbrach seine Gedanken: »Hey, ich will dich ja in deinem Leiden nicht stören, aber es ist schon nach Mitternacht und wir schließen gleich.«

»Jetzt macht ihr schon zu?«

»Ja, unter der Woche immer. Am Wochenende ist mehr los, da haben wir bis vier offen. Aber ich sollte ins Bett, muss morgen früh raus – zur Uni.«

Stephen legte eine Fünfzig-Dollar-Note auf den Tresen. »Stimmt so.«

»Das ist aber ein großzügiges Trinkgeld, Stephen, ich kann das unmöglich annehmen.« Sandra griff an den Geldbeutel, der unterhalb ihres kurzen Tops an ihrer Hüfte hing.

»Nein, lass gut sein, das passt.« Erstmals lächelte Stephen zurück.

Den Blick auf ihn gerichtet, legte Sandra den Kopf zur Seite. »Bist du mit dem Wagen da, kannst du noch fahren?«

»Ja und ja«, erwiderte Stephen.

»Würdest du mich ein Stück mitnehmen?«

»Wenn du dich traust, zu einem Fremden ins Auto zu steigen, dann gerne.« Stephen zwinkerte ihr zu.

»Ein Haskins ist doch kein Fremder, außerdem hatten wir doch gerade unser erstes Date.«

Zwanzig Minuten später saßen beide im Mustang und fuhren mit offenem Verdeck zur Georgia Street. Die Gegend, in die sie kamen, war Stephen nicht ganz geheuer, was Sandra ihm offensichtlich anmerkte. »Du kannst mich gerne da vorne rauslassen, den Rest gehe ich zu Fuß.«

»Kommt gar nicht in Frage«, gab Stephen den Helden, »ein Kavalier fährt seine Angebetete direkt vor die Haustür.«

»Ich weiß nicht, ob es einem Haskins gefallen wird, wo seine Angebetete wohnt.« Sandra sah ihn verunsichert an.

»Ein Haskins steht zu seinem Wort. Also los, wie muss ich fahren?«

»Bieg dort vorne rechts ab, wir sind gleich da.«

Die Straße, zu beiden Seiten mit eng aneinandergereihten, mehrstöckigen Gebäuden, bot einen traurigen Anblick, der bei Tageslicht sicher nicht besser werden würde. Vor einer dreistöckigen Klinkerfassade parkte Stephen.

»Da wohnst du?«

»Da wohne ich. Ist echt lieb von dir, dass du mich heimgebracht hast. Wenn es nicht so spät wäre und meine Mutter nicht schon schlafen würde, könnte ich dich auf einen Kaffee, wohlgemerkt«, und sie betonte, »auf einen Kaffee, noch mit hoch bitten.«

»So, du wohnst also mit deiner Mutter hier?«

»Ja und mit Elias, meinem älteren Bruder. Er ist der Wachhund der Familie und passt auf uns auf.« Sandra lachte. »An dem musst du erst mal vorbeikommen.«

»Okay, okay, ich habe verstanden«, lachte Stephen zurück. »Dann mach dich mal auf nach oben.«

Sandra blickte verlegen auf ihre Knie. Sie wollte Stephen wiedersehen, war sich aber nicht sicher, wie sie die Frage möglichst belanglos formulieren sollte. »Kommst du mal wieder in der Bar vorbei?«

»Mal sehen, wie sich’s zeitlich einrichten lässt«, gab Stephen linkisch zurück und biss sich gleich darauf die Unterlippe. Im Versuch, das eben Gesagte wiedergutzumachen, begann er etwas hilflos: »Ähm, du weißt schon …«

Sandra ärgerte sich wegen ihrer eigenen Frage. Und Stephens Antwort gab ihr den Rest. »Gut, dann vielen Dank, Mr. Haskins.« Mit diesen Worten stieg sie aus und lief auf den Hauseingang zu, der über wenige kleine Steinstufen hinauf zu einer hölzernen Haustür führte.

Stephen sah ihr hinterher, als sie sich plötzlich umdrehte und nochmals zum Wagen kam. Beide Hände auf der Beifahrertür aufgestützt, zischte Sandra: »Ist das so bei euch reichen Weißen? Traut ihr euch nur nett zu sein, wenn es dunkel ist und man euch nicht mit einer Schwarzen sehen kann? Ja, ich weiß schon, du bist reich und ich bin arm. Aber das ist es wahrscheinlich nicht. Du bist weiß und ich schwarz, das meintest du doch, oder?« Sie schlug ihre flache Hand auf die Oberseite der Autotür. »Merde!«

Damit machte sie kehrt, nahm die engen Steinstufen zur Eingangstür und verschwand im dunklen Flur des dreistöckigen Gebäudes.

Der Sperling

Charleston, South Carolina, 1732

Sanfte Wellen plätscherten gegen den hölzernen Rumpf der Barke. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht und tauchte den im Boot liegenden Körper in eine wohlige Wärme. Auf dem Rücken liegend, blinzelte Zola zaghaft in das helle Tageslicht. Vorsichtig drehte sie sich zur Seite, wagte ihren Kopf ein wenig über die Bootswand hinweg zu heben und erkannte, dass ein ins Wasser ragender Ast die Barke davon abhielt, noch weiter nordwestlich zu treiben. Und so schlenkerte das kleine Schiffchen mit der Flüchtigen an Bord wie eine Nussschale hin und her.

Zola blickte in alle Richtungen, wusste aber nicht, wie weit sie die Nacht hindurch getrieben war. Panik kroch in ihr hoch. Was, wenn sie noch ganz in der Nähe der Plantage war? Doch um sie herum herrschte absolute Stille. Lediglich eine samtige Brise sowie das Plätschern des Wassers.

Plötzlich erschrak Zola. Direkt an ihrem Gesicht vorbei, sodass sie die aufgewirbelte Luft der kleinen Flügelschläge spürte, flatterte ein Sperling und setzte sich wenige Zentimeter von ihr entfernt auf die Bootswand. Sein braun gefleckter Kopf wackelte hektisch, aber auch lustig nach allen Seiten und schien sie zu betrachten. Neugierig wanderten seine kleinen Krallen auf der Bootswand auf und ab. Selbst als Zola sich vorsichtig aufsetzte, zeigte er keine Anstalten wegzufliegen.

»Wer bist denn du?«, fragte Zola, froh und etwas belustigt, nicht mehr ganz allein zu sein.

Als ob er ihre Frage verstand, blickten seine kleinen Knopfaugen sie direkt an.

»Weißt du, wo ich bin?«

»Du willst wissen, wo du bist?«, zwitscherte der Sperling.

Zola war es, als verstünde sie den Piepmatz, der vor ihr Platz genommen hatte.

»Ich kann dir helfen«, hörte sie erneut eine Botschaft des Sperlings.

Sie glaubte, womöglich ihren Verstand verloren zu haben, und fixierte fassungslos den kleinen Vogel.

»Entspann dich, Zola, noch bist du in Sicherheit. Es gibt Dinge, die du erst lernen musst. So auch, dass du mich hören kannst.«

»Wie kann es sein, dass ich dich verstehe?« Ungläubig, dass sie sich gerade mit einem Sperling unterhielt, klangen ihre Worte wie die eines Kleinkindes.

»Wie kann es sein, dass ich dich verstehe?«, ahmte der Sperling Zola nach. »Wie kann es sein, dass Leben entsteht? Vieles wird einfach, wenn man nur gut genug zuhört und die Vorstellungskraft dazu besitzt. So wie du, Zola! Aber lass uns das später besprechen. Zuerst musst du aus dem Boot und dort in den Wald. Geh!«

Obwohl verwirrt, kletterte sie behände aus dem Kahn und zog diesen unter großen Mühen in den Ufersand. Einige herumliegende Äste sowie Schilf und Gras deckte sie über die Barke und schlich, den Lederbeutel fest im Griff, ins nah gelegene Unterholz. Noch wusste sie nicht, wo genau sie war. Wie auch? Seit ihrer Verschleppung aus Ghana hatte sie das Innere eines Schiffes, den Hafen von Georgetown und die Plantage kennengelernt. Aus Erzählungen Tumelos wusste sie jedoch, dass sie in einem sehr, sehr großen Land lebte.

Der Sperling flog voraus und Zola folgte ihm, bis sie aus dem Wäldchen heraus auf eine kleine Lichtung kam. Neben einem Baumstumpf setze sich Zola und kramte in der Ledertasche nach etwas Essbarem. Herzhaft biss sie in ein Stück Wurst, schob ein Stück Käse hinterher, bis ihr zuletzt kühles Wasser aus der Feldflasche in die Kehle rann. Sie fühlte sich frisch, trotz der schrecklichen Erlebnisse der vergangenen zwei Nächte.

Als sie ins Boot gefallen war, war es ihr unmöglich gewesen zu erkennen, was weiter geschah. In ihrer Erinnerung spürte Zola lediglich einen heftigen Ruck, der sie vom Ufer gestoßen und in den Fluss treiben ließ. Dann lag sie zusammengekauert im Dunkel der Nacht, spürte den Regen niederprasseln, bis gleich darauf Schüsse wie Donnerschläge an ihr Ohr drangen. Die Salve ließ sie in Todesangst zusammenzucken, ahnungslos, ob Kugeln in ihre Richtung abgefeuert wurden oder – sie hielt kurz inne – ihre Mutter trafen.

»Mama«, flüsterte sie neben dem Baumstumpf sitzend und ihre Liebe zu Aba forderte, wieder zur Plantage flussaufwärts zu gehen. Doch ihr Verstand hielt sofort dagegen. Damit wäre niemandem geholfen. Weder ihrer Mutter noch Tumelo noch Sam, welche ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, ihr die Flucht zu ermöglichen. Nein, jetzt trug sie die Verantwortung für sich selbst und jeder Schritt, dem Fluss nach Norden folgend, würde sie weiter in die Freiheit bringen.

Sie nahm das Jagdmesser aus dem Sack und durchschnitt einen darin liegenden Apfel. Der Sperling saß direkt vor ihr.

»Dein Brandzeichen«, sagte er plötzlich. »Es muss weg!«

Noch immer erstaunt, sich mit einem Vogel zu unterhalten, drehte Zola ihren linken Unterarm. Das eingebrannte Mal, ein großes »B«, kennzeichnete sie als Sklavin von Mr. Baine. Sollte man sie finden, wäre dies wie ein Wegweiser zurück zu dieser Bestie. Ja, sie musste es loswerden. Sofort.

Langsam streifte sie beide Seiten des Messers an ihrem Baumwollkleid, bis es vom Saft des Apfels gesäubert war. Vorsichtig setzte sie an. Die scharfe Klinge ritzte in ihre Haut bis ein stechender Schmerz in ihrem Arm brannte. Ohne eine Träne zu vergießen, führte sie das Messer wie eine Sense über ihre Haut, so lange, bis rotes Blut den Unterarm hinablief und die gesamte Klinge des scharfen Messers verfärbte. Schon als Kind hatte Zola lernen müssen, mit Schmerz zu leben. Wenige Minuten später lag ein blutgetränkter Hautlappen vor ihr im Gras. Es war ihr, als hätte sie ein eisernes Halsband abgelegt.

Plötzlich flatterte der Sperling, griff mit seinem kleinen Schnabel das Fragment Haut und flog davon. Verwundert blickte Zola ihm hinterher.

Nachdem sie einen Fetzen ihres Baumwollkleides abgerissen und ihren Unterarm verbunden hatte, machte sie sich barfuß auf den Weg. Sie spürte den weichen Waldboden an ihren Fußsohlen und hastete ohne Pause, geschützt durch Bäume und Gestrüpp, immer nördlicher, am Rande des Ashley Rivers entlang. Als die Dunkelheit hereinbrach, suchte Zola einen geeigneten Schlafplatz, den sie inmitten hoher Bäume, die sie wie eine riesige Mauer umgaben, fand. Erschöpft sank sie auf moosbedecktem Boden in tiefen Schlaf.

Die dunkle Nacht lag noch über ihr, als sie ein Geräusch weckte. Unsicher blickte sie um sich. Da war es wieder – das leise Knacken von Ästen. Sollten ihr etwa die Wachen von Mr. Baine hierher gefolgt sein? Die Iris ihrer Augen weiteten sich. Helle Punkte huschten um sie herum, kreisten sie ein und schienen sie zu beobachteten. Es waren gelb leuchtende Augen, jedoch in zu niedriger Höhe, als dass sie menschlich wären. Wieder das Geräusch eines brechenden Astes. Zola hielt den Atem an, während ihre Hand vorsichtig in den Proviantbeutel griff. Fest umschloss sie den Griff ihres Messers. Einer Raubkatze gleich, richtete sich Zola in die Hocke, ein Knie am Boden, das andere Bein angewinkelt, gleich einem knienden Bogenschützen. So war sie bereit und entschlossen, mit der Waffe in ihrer Faust auf die drohende Gefahr zu reagieren. Sollten sie nur kommen, wer immer da auch war. Ich, Zola, habe nichts mehr zu verlieren! Ihr lasst euch mit der Falschen ein!

In diesem Augenblick erkannte Zola ihren Feind. Langsam näher kommend, fletschten sie die Raubtierzähne eines Wolfes an, der sie angriffslustig fixierte. Zola sprang auf und stieß einen furchterregenden Schrei aus. Der Wolf wich erschrocken zur Seite, floh jedoch nicht. Weitere Augen des Rudels kamen von allen Seiten direkt auf sie zu.