Chris Owen - Die Wiedergeburt

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Kapitel 34: Heimlichkeiten

Obwohl gerade einmal sechs Jahre alt, begriff Chris vom ersten Augenblick an, worauf seine Mutter und die Lehrerin Miss Rudolph abzielten. Daran, dass er in seinem Alter sowohl fließend schreiben als auch lesen konnte, fand er nichts Außergewöhnliches. Ebenso empfand er sein künstlerisches Geschick als Normalität, auch wenn er erkannte, dass gleichaltrige Kinder wesentlich unsicherer und unpräziser vorgingen. Für ihn schien die Welt auf den Kopf gestellt. Betrachtete man ihn als bemerkenswertes Genie, so empfand er vielmehr die Menschen um sich herum als … eben untalentierter.

»Ich soll mich im Unterricht nicht vordrängeln, sondern zurückhalten?«

»Ja, genau so gehen wir vor«, sagte Miss Rudolph. »Sicher langweilst du dich bei dem, was ich deinen Mitschülern als Unterrichtsstoff vermitteln werde. Doch du musst dieses Gefühl verbergen und so tun, als ob du wie die anderen Schritt für Schritt dazulernst.«

»Dann werde ich mich verstellen. Wird bestimmt spaßig«, lächelte Chris seine Mutter an.

»Nachmittags treffen wir uns viermal die Woche hier; dann werden wir dein vorhandenes Wissen und Können weiter vertiefen. Du erhältst sozusagen Privatunterricht von mir.«

»Und keiner darf davon erfahren?«

»Keiner«, schaltete sich jetzt Sandra ein. »Außer der Familie und Daniela weiß niemand Bescheid.«

Dass seine Mutter die Lehrerin mit Vornamen ansprach, war ihm bisher entgangen. Chris gefiel der Vorschlag. Mit den anderen Kindern aus der Schule zu spielen, langweilte ihn. Ausgenommen Meira. Seine Schwester betrachtete ihn mit Stolz und er fühlte sich durch die Aufmerksamkeit, die sie ihm entgegenbrachte, geschmeichelt. Stundenlang erzählte er ihr Geschichten, die er zuvor gelesen hatte. Wenn es indes darum ging, über diese Geschichten und deren Inhalte nachzudenken, sich darüber zu unterhalten, verebbte das Interesse der Schwester. Noch war sie nicht so weit, seinen Überlegungen zu folgen. Sicher würde es mit Miss Rudolph spannend werden. Zweifellos würde sie ihm dabei helfen können, Themen, an denen er scheiterte – was ihn teilweise grimmig stimmte –, so zu erklären, dass auch er sie verstand. Würde Miss Rudolph auch das andere, das »Ding«, deuten können? War sie in der Lage, ihm das in seinem Kopf zu erklären? Sollte er sich ihr überhaupt anvertrauen? Im Internet hatte er heimlich über Hannibal Lecter gelesen. War er bei dem, was sich ab und an in seinem Kopf abspielte, ebenso verrückt wie Hannibal? Würde man ihn auch wegsperren, sollte er sein Geheimnis preisgeben?

Kapitel 35. Die Pause

Chris fand sich in der Rolle des »durchschnittlichen« Erstklässlers sehr gut zurecht und bewies schauspielerisches Talent – ganz zum Wohlgefallen seiner Lehrerin, die ebenfalls zur perfekten Inszenierung beitrug. Einzig Alica Adams, seine Banknachbarin, schien das Theaterspiel zu durchschauen. Zumindest vermutete Chris dies, da sie ihn hin und wieder seltsam wissend betrachtete. Alica war auch die Einzige in der Schule, mit der Chris intensiver in Kontakt kam. Ebenso freundete sich Meira mit Alica an, da sie die Pausen häufig zu dritt im Park des Schulgeländes verbrachten.

Wie in vielen Schulklassen, gab es auch in Chris’ Klasse einen Pausenclown. Daneben einen, der sich von allen anderen Respekt erkämpfte und vor dem jeder in Habachtstellung ging. Der Rest der Klasse gruppierte sich entweder zu den Außenseitern oder zu den eher unauffälligen Mitläufern. Wie sich herausstellte, nahm Tom ideal die Rolle des Kaspers ein. Keine Minute verging, in der er nicht versuchte, durch – zugegebenermaßen dämliche Kommentare – im Mittelpunkt zu stehen.

Außenseiter waren, wie nicht anders zu erwarten, Chris und seine Banknachbarin Alica. Schnell hatten beide Spitznamen weg, ärgerlich, doch unausweichlich. »Spook« oder »Spooky« spielte auf die blasse Gestalt wie auch auf Chris’ rote Augen an. Dieser konnte damit leben. Härter traf es Alica, wenn ihr »Miss Piggy« hinterhergerufen wurde. Sie zuckte jedes Mal zusammen und litt sichtlich unter dem Spott der Klassenkameraden.

Die große Ausnahme war »Hulk«, der den Namen für sich selbst gewählt hatte und darauf bestand, eben so angesprochen zu werden. »Hulk« war niemand anderes als Scott Fitzgerald, der den Respekt aller Mitschüler in nur wenigen Tagen erlangt hatte. Ein jeder, der in seinen Fokus geriet, wurde mehr oder weniger drangsaliert. Das Eigentum der Klassenkameraden zählte für »Hulk« nicht. Stifte, Pausenbrote – wenn er etwas wollte, griff er danach. Wehrte sich der- oder diejenige, gab’s Prügel.

Tom, der Clown, und Scott Fitzgerald hingen meistens gemeinsam ab. Während »Hulk« sich als König aufspielte, erfüllte Tom die Rolle des Hofnarren.

Im wiesengrünen Park des Schulgeländes teilten sich die Schüler der unterschiedlichen Altersstufen in den Pausen ihre Reviere ein. So hielten sich die unteren Jahrgangsstufen in der Nähe des Schulgebäudes auf, während die älteren weiter entfernt ihre Ruhe suchten, um unter sich zu sein.

»Du bist dran«, lachte Meira und sah zu Alica, die neben ihr unter einer ausladenden Ulme saß.

Alica wirkte etwas verlegen. Noch immer begriff sie die Regeln des neuen Kartenspiels, welches Chris mitgebracht hatte, nicht so recht. Daher lugte dieser ihr über die Schulter und tippte auf jene Spielkarte, die dem bunten Bild nach am sinnvollsten zu legen war.

»Du sollst ihr nicht immer helfen«, protestierte Meira, aber am Grinsen der beiden erkannte sie, dass ihr Einwand wenig Gehör fand.

»Mist, jetzt hat Alica schon wieder gewonnen«, schimpfte Meira, doch ihre Wut hielt sich in Grenzen.

Nun war Chris an der Reihe, die Karten neu zu mischen, als er von Weitem Scott Fitzgerald in Begleitung seines Schattens Tom herannahen sah. »Hulk« baute sich zusammen mit seinem Freund drohend vor der Dreiergruppe auf. »Na, was spielen die Babys denn da? Karten? Miss Piggy, kannst du die mit deinen Wurstfingern denn überhaupt halten?« Scott stieß Tom höhnisch lachend in die Seite. Dieser blähte die Backen, während seine Augäpfel hervortraten.

»Du bist ja sooo fett, Miss Piggy. Auf einer Ranch hätten sie dich längst geschlachtet.« Tom begann wie ein Schwein zu quieken.

»Lasst uns in Ruhe«, fuhr Chris sie an.

»Ach, Spooky kann reden«, gab Scott von sich. »Du willst wohl eine, was?« Wie immer schlug Scott seine Faust in die Handfläche, um zu demonstrieren, was für ein toller Hecht er war.

Keiner der drei gab etwas zur Antwort. Chris mischte weiter seelenruhig die Karten, spürte jedoch, dass Scott nicht von ihnen lassen würde.

»Spooky ist ein Angsthase, Spooky ist ein Angsthase«, begann Scott zu spötteln. Dabei stieß er mit seinem Turnschuh mehrfach an Chris’ Oberschenkel.

»Hör bitte damit auf«, ermahnte Chris ihn und sah Scott direkt in die Augen. Doch Scott spornte die Gelassenheit des Klassenkameraden geradezu an. Er holte aus, um Chris einen heftigeren Tritt zu verpassen. Blitzschnell fuhr Chris’ Hand zur Seite und er bekam Scotts Fuß zu fassen. Ebenso flink war Chris auf den Beinen. »Scott, ich will mich nicht mit dir streiten. Lass uns einfach in Ruhe und verschwinde.« Meira und Alica saßen verängstigt auf dem Rasen.

»Ich will mich nicht streiten«, äffte Scott die Worte von Chris nach. »Hulk« war in seinem Element. Als auch noch andere Kinder, die das Gerangel beobachteten, hinzutraten, hatte er das Publikum auf seiner Seite. Mit der Rechten stupste er Chris an der Schulter. »Na, was willst du jetzt machen?«, fragte Scott hämisch.

Chris blickte dem Klassenkameraden tief in die Augen. Wieder holte Scott aus, um ihn zu stoßen. Doch dieses Mal hielt Chris dagegen, fasste nach der Hand des Widersachers und zog diesen zu sich heran. »Ich werde mich nicht prügeln, hörst du!« Dann waren Chris’ Lippen direkt am linken Ohr Scotts. Keiner der Umstehenden hörte, was er flüsterte. Allerdings erstaunte es die Schaulustigen, dass »Hulk« wie versteinert wirkte und jegliche Farbe aus seinem Gesicht wich. Nur wenige Augenblicke später ließ Chris von Scott ab, setzte sich neben seine Schwester und begann von Neuem die Karten zu mischen. Tom starrte zu Scott. Sein Freund stand da wie zu einer Eisskulptur gefroren, bevor er Tom wortlos am Ärmel zupfte, um dann eiligst das Weite zu suchen.

»Was hast du ihm zugeflüstert?«, fragte Alica.

»Nichts weiter«, entgegnete Chris. »Lass uns weiterspielen.«

Fragend blickten sich Meira und Alica an.

Seit diesem Tag, diesem Zusammentreffen, wagte es Scott nicht mehr, die Hand gegen Chris oder dessen Freunde zu erheben.

Scott spürte den warmen Atem von Chris an seinem Ohr, als er die wispernde Botschaft vernahm, die ihn bis ins Mark erschreckte. Es waren zunächst nicht die Worte von Chris, nein, es waren die seines Vaters.

»Scott, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst deinen Baseballschläger nicht im Garten liegen lassen? Komm her, du Mistkerl, ich werd dich lehren, pfleglich mit den Sachen, die ich mit meinem sauer verdienten Geld gekauft habe, umzugehen!« Chris sprach weiter: »Lass dich nicht von deinem Vater schlagen. Er darf auch nicht die Hand gegen deine Mutter erheben! Hörst du? Sprich mit Miss Rudolph! Bitte sie um Hilfe!«

Kapitel 36: Privatstunden

»Wenn du liest, Chris, beschreibe mir, was du dir dabei denkst und wie sich der Text in deinem Geist bildet.«

»Was genau wollen Sie von mir wissen, Miss Rudolph?« Chris schien die Frage zu verunsichern.

 

»Schau mal, Chris. Wenn ich lese, dann wandern meine Augen von Wort zu Wort. Die Worte bilden Sätze und diese wiederum einen zusammenhängenden Text.«

»Genauso ist es doch auch bei mir, oder?«

»Sicher, mit dem Unterschied, dass du das Gelesene anscheinend anders im Kopf behältst, als es bei mir der Fall ist. Wenn ich mir etwas merken möchte, muss ich mich sehr konzentrieren. Auch muss ich den Text mehrmals lesen, bevor ich ihn behalte. Man nennt dies ‚auswendig lernen‘.«

Aha, dachte Chris. Bei mir ist also doch etwas kaputt im Kopf. Darauf wollte Miss Rudolph hinaus. Seine Verunsicherung wuchs. Miss Rudolph neigte den Kopf zur Seite und blickte Chris fragend an. »Was ist?«, fragte er.

»Okay, anders herum. Kannst du mir erklären, was sich vor deinem geistigen Auge abspielt, wenn du ein Buch weglegst, dessen Text aber auswendig deiner Schwester erzählst?«

»Der Text ist nicht weg. Ich sehe ihn doch noch vor mir, auch wenn ich das Buch nicht mehr vor mir habe.« Dem kleinen farblosen Chris lief eine Träne über die Wange. »Miss Rudolph, bin ich krank im Kopf? Ich weiß ja, dass ich anders bin. Aber für mich sind diese Dinge ganz normal. Muss ich ins Gefängnis, so wie Hannibal Lecter?«

Der jungen Lehrerin ging bei diesen Worten das Herz auf. Erst jetzt erkannte sie den gewaltigen Irrtum, dem sie und wahrscheinlich das gesamte soziale Umfeld von Chris aufgesessen waren. Ja, Chris hatte Fähigkeiten, die mit nichts und niemandem in seinem Alter zu vergleichen waren; dennoch: Chris war ein sechsjähriger Junge, der erkannte, dass er Gaben besaß, die ihn von anderen Menschen unterschieden. Und genau diese Tatsache machte ihm Angst! Vorsichtig nahm Miss Rudolph Chris in den Arm. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, als er die schlanken Ärmchen um ihren Hals schlang. Nicht nur seine Körperwärme nahm sie wahr, vielmehr glaubte sie, die Kraft seiner Aura zu erleben. Liebevoll strich sie ihm durchs Haar.

»Zuallererst nennst du mich außerhalb der Schule Daniela, während der Schulstunden natürlich weiterhin Miss Rudolph, sonst wundern sich alle. Und nein, du musst keineswegs ins Gefängnis, wobei die Romanfigur Hannibal Lecter mehr in eine Psychiatrie gesteckt gehört, und ebenfalls nein, du bist kein bisschen krank im Kopf! Das Gegenteil ist der Fall. Mach dir darüber keine Sorgen. Weißt du, es ist ungefähr so: Stell dir vor, die ganze Welt wäre ein Vogelnest; wenn der Sperling Eier legt, dann schlüpfen nach wenigen Wochen ganz kleine, junge Sperlinge, Babysperlinge, vergleichbar mit den Menschen auf unserer Erde. Nun gibt es aber kleine Sperlinge, denen wachsen die Flügel etwas schneller, anderen wachsen sie eben ein wenig langsamer. Dennoch können sie alle irgendwann fliegen. Und nun wird ein Babysperling geboren, der Chris heißt. Nach nur wenigen Tagen hat er schon so ausladende Flügel, dass er weiter und höher fliegen kann als seine Spatzeneltern. Darüber sind aber die Spatzeneltern ganz, ganz glücklich, denn sie wissen, dass sie ein sehr besonderes Spatzenbaby haben.«

Chris löste sich aus der Umarmung, blickte stirnrunzelnd zu seiner Lehrerin und prustete los. Die Tränen, die nun aus seinen Augen schossen, waren keine der Bekümmerung, es waren die eines Lachanfalls. »Sie reden mit mir, als wäre ich ein kleines – ein kleines Babykind.«

Miss Rudolph musste ebenfalls lachen, da ihr bewusst wurde, wie albern sich die Worte für Chris angehört haben mussten. Doch eines hatte sie erreicht: Sie gewann einmal mehr Chris’ Vertrauen.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, versuchte Chris auf die Frage einzugehen, die er noch nicht beantwortet hatte: »Miss Rudolph, Daniela, ich sehe alles in meinem Kopf, so als läge das Buch aufgeschlagen vor mir. Selbst wenn die Buchseite einen Fleck gehabt hat, erkenne ich diesen. Mir reicht es völlig aus, wenn ich den Text einmal lese.«

»Siehst du, das ist für dich ganz normal. Andere – vielleicht gibt es ja Ausnahmen, die mir nicht bekannt sind – können das halt nicht. So hast du eben größere Flügel als wir. Wie groß sie tatsächlich sind, das erforschen wir beide gemeinsam. Okay?«

Chris nickte erleichtert.

Daniela stellte einen genauen Plan auf. Zuallererst ging es ihr um die Themenbereiche. Neben Lesen und Schreiben waren dies Algebra, Geometrie und auch Kunst. Zusätzlich schien ihr die Erfassung der Zusammenhänge von Bedeutung. Noch immer war es Daniela nicht klar, ob Chris über ein ausgeprägt fotografisches Gedächtnis verfügte, oder ob er den Kontext des Gelesenen korrekt zu deuten in der Lage war. Der Privatunterricht stellte für beide in den kommenden Monaten ein faszinierendes Abenteuer dar. Während Chris endlich ein Gegenüber hatte, mit dem er sich austauschen konnte, lernte Miss Rudolph, dass ihr Schützling weit mehr als ein fotografisches Gedächtnis besaß. Schlussfolgerungen, die er zog, regten selbst sie zu neuen Erkenntnissen an. Jeden Abend, wenn sie in ihrem kleinen Apartment saß, notierte sie gewissenhaft sämtliche Ereignisse und Fortschritte in einem tabellarischen Tagebuch. Das Ereignis, welches sie am darauffolgenden Tag protokollieren würde, sollte ihr den Atem rauben.

Kapitel 37: Ego

Seit seiner Geburt kannte Chris diese – wie er sie bezeichnete – Dämmerzustände. Weder schlief er in jenen Momenten, noch war er wach. Diese traumähnlichen Zustände machten ihm zu schaffen. Er verspürte keine Angst; vielmehr schien es so, als wäre er in besagtem Augenblick eine andere Person. Der gute Freund saß vor ihm in seinem Zimmer, während Chris ihn im Schneidersitz vom Bett aus betrachtete.

»Raphael ist verzweifelt. Noch immer wartet er auf den Befehl von Thron.« Michail sprach zu Chris, ohne die Lippen bewegen zu müssen.

»Er wird kommen, dessen bin ich sicher. Warum sonst wäre ich hier?«

»Du fehlst in Immerzeit. Raphael glaubt nicht an deine Existenz! Er verhöhnt und verspottet dich, während er weiterhin seine gottlose Gewalt sät.«

»Es ist keine gottlose Gewalt, Michail! Raphael ist die Kehrseite der Medaille. Die Duplizität. Wie sonst sollte Throns Verkündung Gewissheit werden? Das Gute muss wieder Gewicht erlangen! Nur, wie das Gute erkennen? Ohne Vergleich kannst du das Helle nicht vom Dunkel unterscheiden, das Süße vom Sauren.«

»Aber der Mensch sollte doch wissen, was Gut und Böse ist! Die Geschichte lehrt es ihn.«

»Was habe ich dich gelehrt? Was unterscheidet die Menschen von den Seelen in Immerzeit?«

Michail kannte die Antwort. »Der Egoismus des Einzelnen«, flüsterte Michail.

Kapitel 38: Chris’ Geheimnis

»Was ist los, Chris? Mir scheint, du hast heute keine so rechte Lust auf unsere Arbeit.«

Sie saßen im Kinderzimmer von Chris, welches so gar nicht dem eines Sechsjährigen entsprach. Vielmehr vermittelten die deckenhohe Regalwand mit den vielen Büchern wie auch das Notebook auf dem Schreibtisch den Eindruck des Arbeitszimmers eines Collegestudenten.

»Möchtest du, dass ich dir eine Limo hole, oder wollen wir eine Pause machen? Du kannst gerne ein wenig zu Meira in den Garten.«

Nach wie vor starrte Chris seitlich an Daniela vorbei und es schien, als nähme er die Anwesenheit seiner Lehrerin nicht wahr. Dann blickte er ihr direkt in die Augen. Seine roten Pupillen weiteten sich. »Du kannst ihn nicht sehen, stimmt’s?«

»Was meinst du, Chris?«

Sein Blick wandte sich kurz von ihr ab, dann sah er ihr abermals in die Augen. »Wir sind nicht alleine.«

»Du meinst, es ist noch jemand hier?«

Chris nickte.

Verwirrt blickte sich Daniela im Zimmer um. »Aber hier ist niemand.«

Chris’ kleines Ärmchen deutete auf die hintere Ecke des Raums. »Michail ist wieder da.«

»Michail?« Daniela wandte ihren Blick in Richtung Wand, auf die der Finger nach wie vor zeigte. »Du willst damit sagen, da steht jemand, den du sehen kannst?«

»Ja«, war die lapidare Antwort ihres Schützlings.

»Und wer ist dieser Michail?«

Etwas verständnislos blickte der Kleine zu Daniela, als er aufzuzählen begann: »Gabriel, Uriel, Raphael und eben Michail.«

Als studierte Lehrkraft mit der christlichen Lehre vertraut, gruppierte sich Daniela eher in die Kategorie der Agnostiker ein, also jener, die sich nicht ausdrücklich zu etwas bekennen. Sie lehnte weder eine Gottesvorstellung ab noch hielt sie es für unmöglich, dass neben der »realen Welt« etwas anderes, Mächtigeres existierte. Doch die aufgezählten Namen waren ihr vertraut. »Sprichst du von einem Engel?«

»Erzengel. Erzengel Michail«, korrigierte Chris die Frage.

»Erzengel Michail ist also dein Freund. Und er steht direkt da drüben.« Ohne sich umzudrehen, nickte Daniela mit ihrem Kopf nach hinten zur Wand. Stumm bejahte Chris durch seinen Blick die Frage. »Ist dies das Geheimnis, von dem du mir erzählen wolltest?« Das Leuchten in Chris’ Augen verriet Daniela, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Sie überlegte kurz, wie sie mit dieser seltsamen Information umgehen sollte. »Wie habt ihr euch denn kennengelernt?«

»Ich habe ihn gerufen und erklärt, dass er mir zur Seite stehen muss.«

»Dir zur Seite stehen?« Daniela sah Chris entgeistert an.

Dieser überlegte kurz und beschloss, dass er womöglich schon zu viel preisgegeben hatte. »Jetzt würde ich doch gerne in den Garten zu Meira gehen«, wiegelte er daher ab.

»Nur einen kurzen Augenblick noch, Chris. Michail ist also dein Freund, weil du ihn gerufen hast. Wie lange kennst du ihn denn schon?«

»Schon lange. Da war ich noch nicht hier.«

»Was meinst du damit, du warst noch nicht hier?«, fragte Daniela verdutzt.

»Na, eben nicht hier.«

»Wo warst du denn, als du ihn kennengelernt hast?«

»Ich fand ihn im Schützengraben, als ich direkt aus Immerzeit kam.«

Völlig verwirrt starrte Daniela den Kleinen an. »Schützengraben, Immerzeit? Ich verstehe nicht!«

Chris dachte nochmals nach, dann traf er eine Entscheidung. Sicher würde es ihm besser gehen, da Daniela ihm doch versichert hatte, nicht krank im Kopf zu sein und auch nicht eingesperrt zu werden.

»Als ich nach Immerzeit kam, hat mir Aba von meiner Aufgabe erzählt. Also suchte ich Michail auf, der zum Mensch geworden war und gegen die Deutschen kämpfte. Dort im Schlamm des Schützengrabens fand ich ihn, gerade als er seinen Bruder Pjotr verlor. Als Michail wenige Stunden nach unserem Treffen nach Immerzeit zurückkehrte, hielt er den Schwur mir gegenüber und seither sind wir Verbündete.«

»Was ist Immerzeit, Chris?«

»Immerzeit ist hier und jetzt. Das Reich der Seelen – der Sperlinge.«

»Das Reich der Seelen und Sperlinge?«, wiederholte Daniela flüsternd. »Warum kann ich Michail nicht sehen?«, bohrte sie weiter.

Chris zuckte die Schulter. »Es ist das Reich von Thron. Zeitlos, denn von dort werden sie kommen.«

»Du sprichst in Rätseln«, meinte nun Daniela, der es allmählich unheimlich wurde. In ihr keimte Misstrauen auf. Was, wenn Chris sich das Ganze nur ausgedacht hatte, seine Vorstellungskraft ihm selbst einen Streich spielte? »Könnte es sein, dass du dir das Ganze nur einbildest?«, fragte sie daher.

»Zuerst hatte ich Angst davor. Ich wusste selbst nicht, wo die Grenze dessen ist, was ich sehe. So, als ob es zwei Chris in mir gibt. Schon als Säugling konnte sich der eine Chris in mir mit Michail unterhalten. Mehr und mehr erkannte ich, wer ich war und wer ich bin. Wir sind eins. Chris aus Immerzeit bin ich hier auf Erden. Und Michail steht mir zur Seite.«

»Also bist du dir sicher, dass es keine Einbildung ist?«, hakte Daniela nach, im Wissen, dass, egal was Chris ihr noch alles offenbaren würde, es dennoch ein Fantasiegebilde sein könnte.

Chris sah ihr tief in die Augen, dann wandte sich sein Blick zu Michail. Minutenlang starrte er wie hypnotisiert die Wand an. Als er wieder zu Daniela sah und sprach, waren seine Worte fest und überzeugend: »Nur weil du nicht sehen kannst, bedeutet dies kein Negieren der Existenz. Die Fantasie, der Glaube sind feste Bestandteile unseres Seins. Ergebenheit, die den Menschen mehr und mehr abhandenkommt. Ich spüre, was du denkst. Ebenso deine Unsicherheit. Diese empfand ich gleichermaßen zu Beginn meiner Erkenntnis. Frage Lea, sie hat Michail gesehen und sprich mit Olivia über Aba. Sie kennen sich. Dann kehrt auch dein Glaube zurück. Doch kein Wort zu meiner Mutter – hörst du.«

Daniela war wegen der Rhetorik wie auch des Inhalts von Chris’ Aussage verstört. Dies entsprach so gar nicht einem Sechsjährigen. »Warum darf Sandra nichts davon erfahren?«

 

»Sie ist noch nicht so weit. Doch es soll nicht mehr lange dauern, bis sie die ganze Wahrheit erfährt.«

Die Wortwahl, dieser Junge, wie er mit schneeweißer Haut und leuchtend roten Augen vor ihr saß, die Vorstellung eines unsichtbaren Erzengels im Nacken – Daniela lief ein Schauer über den Rücken. »Das ist ganz schön starker Tobak! Lass uns für heute Schluss machen!« Daniela rang sich ein Lächeln ab.

»Hab doch keine Angst vor mir«, kam die kindliche Bitte von Chris.

Zu Hause angekommen, nahm Daniela eine heiße Dusche. Mit Wollsocken, Jogginghose und kurzem grauem Shirt saß sie mit angewinkelten Beinen in ihrem Bett. Sie schloss die Augen und ließ das heutige Gespräch Revue passieren. Ihr stellten sich sprichwörtlich die Nackenhaare auf, als sie die Unterhaltung mit Chris Wort für Wort zu Papier brachte.

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