Chris Owen - Die Wiedergeburt

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Kapitel 32: Der erste Schultag

Washington, D.C., September 2022

Nur wenige Monate, nachdem Chris aus dem Roman »Roots« rezitiert hatte, wurde er in der gleichen Grundschule, die auch seine Schwester besuchte, eingeschult.

Die jetzige Maret-Privatschule befand sich nördlich des Weißen Hauses, 3000 Cathedral Ave, NW. Ein imposanter, parkähnlich angelegter Schulkomplex, der an die moderne Umsetzung altenglischer Architektur erinnerte. Das geradlinige, helle Design der Gebäude war von einer Säulenarchitektur getragen und mit Runderkern ergänzt. Ende des 18. Jahrhunderts machten sich drei Schwestern von Genf aus auf den Weg, in ausländischen Schulen zu unterrichten. Während es die beiden Schwestern Louise und Jeanne nach Russland und auf die Philippinen verschlug, lehrte Marthe Maret, trotz ihrer Erblindung im zarten Alter von achtzehn, in Washington, D.C. Als dann die Schwestern Louise und Jeanne 1911 Marthe folgten, gründeten sie die Maret-Privatschule in der Hauptstadt der USA mit dem Ziel, der Schule internationales Flair einzuhauchen. Besagter Philosophie war man bis heute, 111 Jahre nach der Gründung, treu geblieben.

Aus dem Vorschulprogramm, der preschool, hatte Sandra ihren Sohn vor zwei Jahren – nach nur wenigen Tagen – wieder herausgenommen. Grund hierfür war, dass Chris meist gelangweilt in der Ecke saß, ohne Interesse für die Spiele oder Bastelaufgaben zu zeigen, denen gleichaltrige Kinder mit Freude folgten.

»Mrs. Deloy … Owen, Sandra Owen, wir hatten telefoniert.« Sandra streckte ihre Hand zur Begrüßung aus.

»Ah, Mrs. Owen! Nehmen Sie doch bitte Platz.« Freundlich deutete Mrs. Deloy auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

»Ihre Tochter geht in die zweite Klasse, richtig?«

Sandra nickte.

»Das Anmeldeformular für Ihren Sohn haben wir erhalten und ich freue mich schon, ihn kennenzulernen. So, wie die Planung derzeit aussieht, wird er in eine Klasse mit insgesamt vierzehn Schülern kommen – Ihren Sohn eingeschlossen.«

»Ist es eine gemischte Klasse?«

»Natürlich, Mrs. Owen. Weder im Geschlecht noch in der Hautfarbe machen wir hier an unserer Schule Unterschiede.«

»Das … das freut mich, Mrs. Deloy.« Sandra stockte.

»Hegen Sie irgendwelche Zweifel, Mrs. Owen?«, fragte die Direktorin, der die Redepause der jungen Mutter nicht entgangen war.

»Nein, nein, keineswegs. Es sind nicht die Zweifel an Ihrem Schulsystem, die mich nachdenklich stimmen. Vielmehr ist es mein Sohn.«

»Ihr Sohn?« Mrs. Deloy runzelte fragend die Stirn und nahm ihre braune Hornbrille von der Nase.

»Es ist so, mein Sohn ist anders als die Kinder in seinem Alter. Sowohl äußerlich als auch in seiner Entwicklung.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Mrs. Deloy, deren Augen nun ohne Brille wesentlich kleiner wirkten. »Mrs. Owen, hierüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn in unserer Schule eines ausgeschlossen ist, dann das Thema Rassismus. Wir leben die kultivierte Philosophie unserer Gründungsschwestern seit nunmehr über hundert Jahren.«

»Ich habe auch nicht die Befürchtung wegen meiner Hautfarbe«, erwiderte Sandra. »Vielmehr liegt es am, wie erkläre ich es am besten, abnormen Erscheinungsbild meines Sohnes. Er leidet – nein – das wäre falsch ausgedrückt … Sagt Ihnen menschlicher Albinismus etwas?«

»Sie meinen, Ihr Sohn ist ein Albino?«, fragte Mrs. Doyle, wobei ihr just in diesem Moment die Härte der Betonung auf »Albino« peinlich war.

»Ja, in seiner Hautfarbe ähnelt er mehr einem Weißen als einem Schwarzen.«

»Aber wo liegt da das Problem?«, fragte Mrs. Doyle nun sanft, ebenso im Versuch, den vorherigen Fauxpas wieder wettzumachen.

»Das alleine ist es nicht, auch wenn man ihm den Albinismus ansieht. Chris ist jetzt sechs Jahre alt und er hat sich diametral anders entwickelt als seine Schwester.«

»Meira, ich kenne sie. Ein wirklich liebes und aufgewecktes Kind.«

»Ja, das ist sie und sie freut sich auch sehr darüber, dass ihr Bruder jetzt ebenfalls in ihre Schule geht.«

»Na, dann ist doch alles perfekt«, lächelte Mrs. Doyle, hakte aber noch einmal nach: »Was verstehen Sie unter diametral anders?«

»Er liest«, flüsterte Sandra.

»Das ist doch toll. Etliche unserer Schüler kommen zu uns ins erste Schuljahr und haben bereits in der Vorschule etwas lesen und schreiben gelernt.«

»Sie verstehen nicht, Mrs. Doyle. Chris war nicht in der Vorschule und er liest auch nicht wie Kinder in seinem Alter. Die Bücher, die er … die er regelrecht verschlingt, sind Romane, Erwachsenenromane, Sachbücher. Er löst Rätselaufgaben wie Sudoku in wesentlich kürzerer Zeit, als ich es je schaffen könnte.«

Die Pause, die nun folgte, kam Sandra wie Stunden vor und erschwerte ihre Atmung. »Das ist in der Tat ungewöhnlich«, stimmte Mrs. Doyle zu. »Einige der Eltern sitzen vor mir in der Überzeugung, dass ihr Sohn oder ihre Tochter hochbegabt sei. Meist machen sie es an Themen wie Rechnen, Schreiben, Lesen fest. Aber ich muss zugeben, noch niemand hat mir je berichtet, dass sein Kind in diesem Alter Romane liest.«

»Es gibt immer ein erstes Mal«, entgegnete Sandra schüchtern lächelnd.

»Nun gut, Mrs. Owen. Machen Sie sich hierüber keine Gedanken. Ich bin überzeugt, dass, sollte sich eine derartige Begabung Ihres Sohnes bestätigen, wir hierfür die richtigen Mittel zur Verfügung haben und einen Weg finden, ihn, selbstverständlich in Rücksprache mit Ihnen, entsprechend zu fördern.«

In Rücksprache mit mir, dachte Sandra erleichtert. »Sie haben mich tatsächlich beruhigt, Mrs. Doyle. Mein Wunsch ist es, Chris so normal wie nur möglich zu erziehen. Das schließt die Schulbildung mit ein.«

»Dann sind wir uns ja einig. Gibt es sonst noch etwas, bei dem ich Ihnen behilflich sein kann?«

Die Unterhaltung mit der Direktorin Mrs. Doyle lag vier Wochen zurück, als Sandra neben ihrer Mutter in der großen Aula der Schule saß. Elias hatte seinen Rollstuhl, direkt neben dem Sitzplatz seiner Schwester, im Gang platziert. Die Aula, welche mit zahlreichen Stühlen gefüllt war, wurde von einer großen Bühne im vorderen Teil des Saals dominiert. Für Weihnachtsfeiern, Orchesteraufführungen, Musicals der Schüler und viele weitere Veranstaltungen war dieser theaterähnliche Raum bestens gerüstet. Heute stand die Einschulung der Neuzugänge auf der Tagesordnung. Während Eltern und Familienangehörige auf den hinteren Sitzreihen Platz fanden, saßen die jungen Schülerinnen und Schüler vorne, direkt vor der Bühne.

Sandra kannte bereits das »Aufnahmeritual«, welches kurz und knapp vonstattenging. Einer kurzen Ansprache durch die Direktorin, die sowohl die Erstklässler als auch deren Angehörige begrüßte, folgte die Zuordnung der Schüler zu den Klassenlehrern. Nach einer knappen Begrüßung der jeweiligen Lehrkraft wurden die zugeteilten Schüler namentlich aufgerufen. Sie sammelten sich an der Bühne, um anschließend ihren Lehrern zu den Klassenzimmern zu folgen.

Sandra schmunzelte erleichtert, als Chris und dreizehn weitere Schüler ihrer Lehrerin wie Entlein der Entenmutter hinterherliefen. Sein Äußeres stach aus der Gruppe hervor, doch Sandra konnte keinerlei negative Reaktion sowohl bei den Kindern als auch deren Eltern beobachten.

Chris stakste aufmerksam mit den Klassenkameraden der Lehrerin, Miss Rudolph, hinterher. Eine junge Lehrkraft, dachte er. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig, also konnte sie noch nicht allzu lange als Lehrerin tätig sein.

Die Flure des Schulhauses waren angenehm gestaltet. Hie und da waren Glaskästen angebracht, die Werkarbeiten oder Bilder von Schülern höherer Jahrgangsstufen zur Schau stellten. Jede Ecke des Hauses war lichtdurchflutet, entweder durch große Fenster oder, wenn keine Möglichkeit bestand, mittels einer gefällig ausgewogenen Beleuchtung.

Nachdem sie durch ein imposantes Treppenhaus in den ersten Stock gelangt waren, folgten sie einem in Zitronengelb gestrichenen Flur, bis sie im rechten Flügel des Gebäudetrakts das Klassenzimmer erreichten. Schüchtern traten die Schüler hinter Miss Rudolph ins Zimmer. Direkt vor ihnen stand das Lehrerpult, dahinter eine gläserne Tafel, auf die sowohl geschrieben als auch über das in den Lehrertisch eingelassene Arbeitsfeld projiziert werden konnte.

Wie am Haupteingang der Schule und sämtlichen Nebeneingängen waren beidseitig im Türstock der Klassenzimmertür Scanner eingelassen. Diese zeigten unmittelbar beim Betreten metallische Objekte an. So wurde sichergestellt, dass keine Waffen oder ähnlich gefährliche Gegenstände durch die Schüler und Studenten mitgebracht wurden. Chris fielen seit Betreten des Schulgebäudes ebenfalls die im gesamten Areal angebrachten Sicherheitskameras auf. Auch wenn sie sehr klein ausfielen, mit bloßem Auge kaum sichtbar, so spürte er ihre Anwesenheit – besser: die prüfenden Blicke des Personals, die über riesige, im Sicherheitsbüro montierte Screens jeden Winkel des Schulgeländes minutiös beobachteten.

Im Jahre 2019, also vor drei Jahren, hatte der Senat der Vereinigten Staaten, unter Mehrheit der Republikaner, ein Gesetz verabschiedet, welches diese Sicherheitsvorkehrungen an allen Schulen des Landes vorschrieb, ebenso wie das unauffällige Tragen von Handfeuerwaffen der Lehrkräfte. Miss Rudolph trug ebenfalls solch eine Schusswaffe, klein, verdeckt, doch Chris war die minimale Ausbuchtung unter der Kostümjacke, die ihre zierliche, sportliche Figur betonte, nicht entgangen.

»So, jetzt sucht sich jeder einen Platz, auf dem er heute sitzen möchte. Wir werden dann in den nächsten Tagen und Wochen die Sitzordnung ändern, falls es notwendig wird. Husch, husch, setzt euch!« Miss Rudolph lächelte den Schülern aufmunternd zu, während sie eine widerspenstige Strähne ihres braunen, langen Haares aus der Stirn strich.

 

Die Zweiertische waren in drei Reihen zu je fünf Bänken aufgestellt. Flink fanden die Erstklässler einen Platz. Als Chris sich neben einen rothaarigen Jungen setzte, der neben Tausenden von Sommersprossen dicke, wulstige Lippen aufwies, rutschte dieser möglichst unauffällig auf den Stuhl des Nebentisches. Grinsend beäugte der untersetzte Junge Chris. Dann drehte er sich zu seinem neuen Banknachbarn, einem dünnen, dunkelhaarigen Jungen mit Nickelbrille, und flüsterte ihm etwas zu. Dieser schien allerdings wenig interessiert an dem, was der Rothaarige ihm mitzuteilen hatte. Mit gefalteten Händen saß die Nickelbrille nur da, abwartend, was als Nächstes kommen würde. Nachdem alle Kinder ihren Sitzplatz gefunden hatten, trat Ruhe ein.

Vierzehn Schüler, dachte Chris. Eine gerade Zahl. Irgendjemand musste also ebenfalls alleine sitzen. Vorsichtig blickte er um sich und entdeckte ein Mädchen, das direkt hinter ihm ebenso allein die Schulbank drückte. Schon in der Aula war es ihm aufgefallen. Das Mädchen trug weite Jeans, ein weißes T-Shirt, eine grüne Wollweste und Turnschuhe. Das brünette Haar, straff nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, betonte eine hohe Stirn. Das augenscheinlichste Merkmal jedoch war die korpulente, unübersehbar dicke Figur. Er spürte förmlich die Unsicherheit des Mädchens, als sich ihre Blicke fanden. Mit einem kurzen, aufmunternden Augenzwinkern forderte Chris es kopfnickend auf, einen Platz nach vorn, direkt neben ihn, zu wechseln. Schüchtern folgte das Mädchen seinem Angebot.

»Wunderbar.« Miss Rudolph klatschte einmal in die Hände, offensichtlich ihrer Freude Ausdruck verleihend, dass jedes der Kinder eigenständig einen Stuhl gefunden hatte. »Ich schlage vor, wir nutzen den Tag, um uns besser kennenzulernen. Für die ersten drei Jahre bin ich eure Lehrerin. Mein Name ist Daniela Rudolph und ihr seid meine erste Klasse, die ich auf diesem Weg begleiten darf. Meine Hobbys sind Lesen, Squash und den Urlaub verbringe ich am liebsten am Meer mit Tauchen. Jetzt kann jeder ein wenig von sich erzählen. Wir fangen am besten gleich mit dir an.« Damit lächelte sie aufmunternd einer Schülerin zu, die in der vordersten Reihe saß.

Das Gesicht des Mädchens verfärbte sich von zartrosa in ein tiefes Rot. »Mein … mein Name ist Jodi Smith. Ich habe zwei ältere Brüder, die ebenfalls an dieser Schule sind. Meine Hobbys sind Spielen und Faulenzen.« Die Klasse lachte über letztgenanntes Hobby, was dazu führte, dass Jodi wie ein Feuermelder leuchtete.

»Sehr schön, Jodi. Faulenzen ist auch eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.« Miss Rudolph strahlte sie an, was Jodi sichtlich erleichterte.

Nacheinander führte Schüler für Schüler aus, wie er hieß und was er am liebsten in seiner Freizeit unternahm. Dann war Rotschopf an der Reihe.

»Mein Name ist Scott Fitzgerald Hunt. Ich spiele Football und lerne Karate.« Dabei schlug er eine schwammig-fette Faust in die Handfläche der anderen Hand. »Und dann bin ich der beste Rennfahrer auf meiner Playstation.«

»Sehr schön«, versicherte Miss Rudolph und nickte, um Chris anzudeuten, dass er als Nächster an die Reihe kam.

»Chris Owen. Ich verbringe viel Zeit mit meiner Familie, meiner Schwester Meira, Mom, Elias und Grandma. Ich lese viel und gerne.«

Miss Rudolph blickte in die roten Augen des neuen Schülers und spürte die funkelnde Kraft, die diese ausstrahlten. »Du liest gerne? Was liest du denn am liebsten?« Sie war von der Direktorin aufmerksam gemacht worden, dass Chris, wenn man seiner Mutter Glauben schenkte, außergewöhnlich war.

Sich seiner Begabung bewusst, überlegte Chris einen Augenblick, bevor er sprach. Im Versuch, nichts Unnatürliches von sich zu geben, antwortete er korrekt, wenngleich ausweichend: »Alles, was sich mir so bietet.«

»Und was wäre das?« Miss Rudolph ließ nicht locker und Chris fühlte geradezu ihre Neugier.

»Bücher halt«, gab Chris lapidar zur Antwort, während er ein wenig verunsichert zu Scott Fitzgerald blickte, der ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte.

»Schön.« Miss Rudolph lächelte besänftigend, als sie zur letzten, für sie offenbar entscheidenden Frage ausholte. »Welches Buch hast du denn zuletzt gelesen?«

Jetzt gibt es kein Entrinnen, überlegte Chris. »Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings«, antwortete er wahrheitsgemäß.

Das Erstaunen hierüber spiegelte sich im Gesicht der Lehrerin wider. Sie hatte zwar von diesem Roman gehört, ihn aber nicht gelesen. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Dann kommen wir zu dir – du musst Alica sein. Hab ich recht?«

Die Banknachbarin von Chris lächelte, während sie zustimmend nickte. »Ich heiße Alica Adams und bin bald sieben. Meine Hobbys sind …«

»Hamburger«, flüsterte Scott Fitzgerald gerade so laut, dass es jeder in der Klasse hören konnte. Alle lachten des gemeinen Spaßes wegen, außer Chris, Miss Rudolph sowie Alica selbst.

»Scott Fitzgerald. Wie ich höre, hast du der Klasse etwas mitzuteilen. Allerdings ist es mir offenbar entgangen, dass ich dich um einen Beitrag gebeten habe.« Die knappe Ansage der Lehrerin saß. Mit eingezogenem Kopf war Scott nicht in der Lage, dem Blick von Miss Rudolph standzuhalten. Seine Gesichtsfarbe glich sich den roten Sommersprossen an. »Also, Alica, fang noch mal an!«

Doch Alica war außerstande, zu antworten. Zwei Tränen rollten ihr langsam über die feisten Wangen.

»Alica Adams. Sie heißt Alica Adams. Sie liebt es, morgens in den Garten zu gehen, dann, wenn sich die ersten Sonnenstrahlen im Tau der Blätter spiegeln. Ihr bester Freund heißt Sammy, ein munterer Cocker Spaniel, der ebenfalls mit in den Garten kommt. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter helfen muss, malt sie gerne. Bunte Bilder von Regenbogen und hohen Bergen.«

Alica blickte verwundert und mit offenem Mund ihren Banknachbarn an.

»Danke, Chris. Wie ich sehe, kennt ihr beiden euch schon länger. Jetzt zu dir.« Miss Rudolph deutete auf den nächsten Schüler.

Nachdem sich alle der Klasse vorgestellt hatten, verteilte Miss Rudolph weiße Blätter mit Buntstiften und bat ihre Schützlinge, den jeweiligen Sitznachbarn zu malen. Gelächter erfüllte das Klassenzimmer, als die Kinder an der Entstehung von vierzehn Portraits arbeiteten.

Chris fand, dass Alica ihn gut getroffen hatte. Sie löste das Problem der Darstellung seiner hellen Haut, indem sie nur die Konturen mit schwarzem Bleistift malte. So hatte der Betrachter es selbst in der Hand, die Hautfarbe zu bestimmen. Neben einer komisch aussehenden Nase, die mehr einer Litfaßsäule glich, stachen die Augen aus dem Bild hervor. Sie waren im Gegensatz zu der mit schwarzem Stift gemalten restlichen Zeichnung durch rot leuchtende Kreise dargestellt.

Als Miss Rudolph durch die Bankreihen lief, blieb sie am Platz neben Chris stehen. Das, was sie auf dem Bogen des Schülers gezeichnet sah, verschlug ihr den Atem. Das war kein Gesicht, wie es ein Sechsjähriger malt! Vielmehr glich es einem flüchtigen Entwurf der großen Meister des 18. oder 19. Jahrhunderts. An dem gekonnten Strich erkannte man auf Anhieb Alica, auch wenn sie auf dem Portrait wenigstens zwanzig Pfund weniger zu wiegen schien.

»Erstaunlich, Chris. Du hast verschwiegen, dass Malen ebenfalls zu deinen Hobbys zählt.« Sie drehte sich zur Klasse, als ein klangvoller Gong die Pause einläutete. »Kinder, ich gehe vor und zeige euch den Park, den ihr in den Pausen aufsuchen könnt. Nehmt eure Brote, oder was ihr sonst zu essen dabeihabt, mit.«

Lautes Gepolter und Stimmengewirr hatte den Flur außerhalb des Klassenzimmers eingenommen. Dutzende Schüler aller Altersstufen drängten Richtung Erdgeschoss, hinaus aufs freie Gelände. Nachdem sie draußen angekommen waren, packte Chris seinen Müsliriegel aus und bot Alica an, zu teilen.

»Danke, aber ich habe selbst etwas mit.« Sie zog ein Knäckebrot aus der Tasche, welches mit einer Scheibe trocken aussehender Wurst belegt war. Eindringlich sah Alica Chris an. »Woher weißt du, dass ich morgens in den Garten gehe und wie mein Hund heißt?«

»Ich weiß es eben«, grinste Chris und schob den Rest des Riegels in den Mund.

»Du weißt es eben?«, fragte Alica.

Chris nickte.

»Egal, woher du es weißt, danke.« Alica lächelte.

Kapitel 33: Der Besuch

Washington, D. C., Oktober 2022

»Bitte, kommen Sie herein.«

»Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, Mrs. Owen.«

»Wenn ich über etwas verfüge, dann ist es Zeit, Miss Rudolph«, grinste Sandra. »Na ja, die Kinder rauben sie einem schon.«

»Sind sie denn hier?«, fragte Miss Rudolph.

»Nein; Marc, mein Schwager, ist mit ihnen zum Footballspiel der Redskins gefahren. Somit haben wir alle Zeit der Welt. Wollen wir Tee auf der Terrasse trinken? Es ist ja noch angenehm warm im Freien.«

Miss Rudolph folgte Sandra in den Garten und nachdem diese den Tee eingeschenkt hatte, machten es sich beide in den Gartenstühlen bequem.

»Unsere Direktorin, Mrs. Doyle, hatte mich bei der Einschulung schon auf Chris aufmerksam gemacht. Sie schilderte mir das Gespräch, welches sie mit Ihnen geführt hatte.«

Sandra schwieg, denn bis hierher waren ihr diese Fakten bekannt.

»Sie fragen sich bestimmt, warum ich heute hier bin.«

»Ich hoffe, Sie werden es mir gleich verraten«, antwortete Sandra.

»Mrs. Owen, zugegeben, ich bin noch eine junge Lehrkraft; also, was ich damit sagen will, ist: Mein Erfahrungsschatz Schüler betreffend hält sich gewiss in Grenzen, doch man braucht kein Hellseher zu sein, um die fantastische Entwicklung von Chris zu erkennen.«

»Sie sagen es«, erwiderte Sandra, noch immer im Dunkeln tappend, worauf Miss Rudolph hinauswollte.

»Chris ist definitiv seinen Altersgenossen um Jahre voraus.«

»Um wie viele Jahre?«, hakte Sandra nach.

»Genau das ist der Punkt, warum ich um das Gespräch gebeten habe. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Und eben das birgt eine enorme Gefahr.«

»Von welcher Gefahr sprechen Sie? Doch nicht von Chris ausgehend?«

»Nein, nein, verstehen Sie mich nicht falsch! Meine Befürchtung ist, dass Chris in die falschen Hände gerät. Noch nie habe ich einen sechsjährigen Jungen mit derart herausragenden Fähigkeiten erlebt. Tatsächlich existieren Einrichtungen, welche speziell für Hochbegabte konzipiert sind. Doch ist es wirklich das, was Sie für Ihren Sohn wollen?«

»Ich bin mir nicht sicher, Miss Rudolph. Was hätte es für Konsequenzen?«

»Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen, schockierende. Gleich einem Versuchskaninchen rauben wir ihm seine Jugend. Er mag zwar ausgesprochen intelligent sein, doch für die Entwicklung eines Kindes ist das soziale Umfeld der Familie und Freunde durch nichts anderes ersetzbar.«

»Sie glauben, man würde ihn mir wegnehmen?«

»Ich befürchte ja. Mein Gefühl sagt mir, Chris ist einzigartig. Es würde mich nicht wundern, wenn er mit sieben zu studieren beginnen würde.«

»Nun übertreiben Sie aber«, lächelte Sandra die Lehrerin an.

Doch Miss Rudolph blieb ernst. »Ich übertreibe nicht, Mrs. Owen.«

»Jetzt machen Sie mir Angst«, erwiderte Sandra.

»Dann sind wir schon zu zweit, doch ich habe einen Vorschlag.« Interessiert blickte Sandra zu Miss Rudolph. Diese beugte sich über den Tisch und flüsterte, als ob sie einer konspirativen Sitzung beiwohnte. »Was, wenn ich Chris in meine ganz besondere Obhut nehmen würde? Natürlich gemeinsam mit Ihnen. So wäre sichergestellt, dass wir allzeit die Kontrolle behalten und Chris nicht wie eine Laborratte behandelt wird.« Mit großen Augen blickte Miss Rudolph erwartungsvoll zu Sandra.

»Ich denke darüber nach und bespreche das mit der Familie. Im Besonderen mit Chris. Wie sähe denn Ihre – wie sagten Sie – Obhut aus?«

»Chris geht weiterhin in meine Klasse. Wir sollten mit ihm besprechen, dass er möglichst unauffällig bleibt. Um seine Talente kümmere ich mich in meiner Freizeit. Das würde bedeuten, dass wir uns häufiger sehen, da ich das nicht auf dem Schulgelände durchführen möchte. Am besten hier bei Ihnen. Wir haben Platz und Sie hätten ständig die Übersicht. Wie hört sich das für Sie an, Mrs. Owen?«

Sandra überlegte kurz. Dann sagte sie: »Sandra. Nennen Sie mich Sandra.«