Chris Owen - Die Wiedergeburt

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kapitel 20: Ziel New York

New York, 2016

Tafari hatte schon der Flughafen in Brüssel beeindruckt. Doch jetzt fand er keine Worte, die seine Eindrücke und Gefühle beim Anblick des John F. Kennedy International Airports auch nur annähernd wiedergeben würden. Die Dimension des Flughafenareals, die vielen Menschen sowie der Geräuschpegel, den diese verursachten, überwältigten ihn. Nachdem er seinen Koffer auf dem Förderband gefunden hatte, suchte er den Weg zu jenem Ausgang, der ihm als Treffpunkt vorgegeben war. Kurz hatte er sich verlaufen, doch eine nette Stewardess wies ihm die korrekte Richtung.

Vor den großen Glastüren, welche sich selbstständig öffneten, drängelten reihenweise gelbe Taxis, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, laut hupend die beste Parkmöglichkeit zu ergattern, um gleichzeitig hektischen Fahrgästen Platz zu bieten. Obwohl es bereits nach Mitternacht war, stand die schwüle Luft still über dem Areal wie unter einer riesigen Käseglocke. Es waren bei Weitem nicht die gewohnten Temperaturen der Heimat, dennoch schwitzte Tafari und er fühlte die aufkeimende Grippe.

Da sah er es. Das Schild mit seinem Namen darauf. Ein Blondschopf um die zwanzig hielt es in die Höhe, während er suchend durch die von Straßenlaternen und Scheinwerfern erhellte Nacht in die Menge der Passanten spähte. Ihre Blicke kreuzten sich und am Lachen Tafaris erkannte der Junge in Collegejacke, dass er gefunden hatte, wonach er suchte.

»Tafari Ballo?«

»Ja.«

»Ich bin Milton. Wenn Sie möchten, können wir gleich ins Hotel fahren. Mein Wagen steht dort drüben.« Milton nickte mit dem Kopf in Richtung eines großen Parkplatzes.

Den Koffer hinterherziehend, folgte Tafari dem Blonden, der vermutlich sein Taschengeld durch die Abholung aufbesserte. Sie luden das Gepäckstück in den Kofferraum des VW Golfs und Tafari stieg neben Milton ein.

»Wie war der Flug, Mr. Ballo?«

»Lang und ich habe mir einen Schnupfen geholt. Die Klimaanlage im Flugzeug war fürchterlich.«

»Ja, das kenne ich. Morgen geht es Ihnen bestimmt besser. Ein Bad im Hotel und ein paar Stunden Schlaf wirken Wunder.«

Tafari hörte kaum die Worte des Fahrers – er starrte fasziniert aus dem Fenster, bis sie die N Conduit Avenue entlangfuhren. Das unfassbare Lichtermeer in der Ferne formte die Skyline von New York. Milton bemerkte die Faszination, die den Besucher erfasst hatte, und störte diesen nicht weiter. Ihm war es ganz recht, um diese Zeit nicht den Alleinunterhalter spielen zu müssen.

Über die Atlantic Avenue erreichten sie dreißig Minuten später die Sands Street, die direkt auf die Brooklyn Bridge führte. Jetzt war der Zeitpunkt, da Tafari nicht mehr still sitzen konnte. »Sehen Sie nur, diese Brücke, die Häuser, die vielen Lichter!«

»Toll, was?«, lächelte Milton im Versuch, sich in den farbigen Fahrgast zu versetzen. »So was gibt es bei Ihnen nicht, habe ich recht?«, fragte Milton. Tafari schüttelte verzaubert den Kopf. »Na, warten Sie erst mal ab, wenn Sie morgen am Time Square stehen. Es wird Sie umhauen. Noch ein paar Minuten, dann sind wir am Hotel.«

Ein Niesen unterbrach das Staunen Tafaris und er kramte nach seinen Taschentüchern.

Kurz darauf kamen sie am Hampton Inn, in Soho Manhattan, an. Direkt vor dem Eingang parkte Milton den Wagen. »Ich bringe Sie noch rein«, bot er sich an und trug den Koffer, gefolgt von Tafari, in die Lobby. Nach dem Check-In verabschiedete sich der Chauffeur: »Gegen 11:00 Uhr würde ich Sie abholen. Ist das in Ordnung?«

»Ganz recht«, meinte Tafari, hob zum Abschied die Hand und verschwand im Aufzug Richtung zwölftes Stockwerk.

Kapitel 21: Die Nacht im Hotel

Mit der Plastikkarte, die ihm der Portier ausgehändigt hatte, gelang es Tafari nach etlichen Versuchen, die Hotelzimmertür zu öffnen. Umständlich zwängte er den Koffer vor sich durch den Eingang. Im Raum befanden sich neben einem Doppelbett ein Tisch, ein Stuhl, ein Fernseher sowie ein Kleiderschrank. Eine schmale Tür, rechts im winzigen Flur, führte ins Badezimmer. Über dem Waschbecken flackerte, sobald man eintrat, automatisch eine Leuchtstoffröhre, bis sie das Bad in weißes, künstliches Licht tauchte. Im Spiegel betrachtete er seine fiebrig glänzenden Augen, die von geplatzten Äderchen durchzogen waren.

Tafari ließ die Jacke auf den Badezimmerboden fallen, streifte die Schuhe ab, ging zurück ins Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Er kannte das Gefühl des Fiebers, die schwindelnde Empfindung, dass gewiss gleich Knie und Beine nachgeben würden, wie auch den getrübten Blick, der das Umfeld in einem verschwommenen Gelbstich erscheinen lassen würde. Im nächsten Moment und ohne sich auszuziehen, schlief er ein.

Kapitel 22: Der Morgen danach

Vor einer Stunde war die Sonne über dem Dorf in Tamiga aufgegangen, als die Luft bereits unter der sengenden Hitze schwirrte und den Horizont in flirrendes Licht tauchte. Bahati und Orma trafen sich am Dorfplatz, um den Rest des Weges gemeinsam zur Schule zu gehen. Sie hatten ein paar Minuten auf ihren Freund Akono gewartet, wollten jedoch nicht zu spät kommen und schlenderten, nachdem dieser nicht erschienen war, los. Bestimmt, so dachten sie, hing es mit Akonos Mutter zusammen, die am Vortag ins entfernte Krankenhaus nach Burkina Faso gebracht worden war.

Neben dem länglichen Lehmbau, dem Schulhaus Tamigas, spielten einige Kinder. Gerade als die beiden ankamen, rief die Lehrerin auch schon zum Unterrichtsbeginn aus dem Klassenzimmer ins Freie. Lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum, bis sich nach und nach die Schüler an ihre kleinen Holztische setzten. Frau Contee, die Lehrerin, stand in ihrer bunten Tunika und gelben Plastiksandalen vor der Schiefertafel und lächelte freundlich in die Klasse.

»Weiß jemand, wo Akono heute Morgen ist?«, fragte sie, als ihr Blick von dessen leerem Sitzplatz zu den Freunden Bahati und Orma wanderte. Die beiden verzogen unwissend die Münder und zuckten mit den Schultern. »Na gut, er wird sicher gleich kommen. Wir fangen dennoch an. Schlagt euer Buch auf Seite 14 auf. Da sind wir gestern stehen geblieben.«

Der Vormittag verging dank des interessant gestalteten Unterrichts, den Frau Contee gerne mit dem einen oder anderen Spaß auflockerte, rasch. Das Lachen der Kinder erfüllte ihr Gemüt stets mit dem befriedigenden Gefühl, genau den richtigen Beruf gewählt zu haben.

Als sie zur Pause rief, winkte sie Bahati und Orma zu sich: »Könntet ihr zu Akono laufen und nachsehen, ob er verschlafen hat? Seine Eltern sind gestern mit Tafari nach Burkina Faso gefahren. Sicher liegt er noch träumend im Bett.«

Bereitwillig liefen sie los, rannten den ganzen Weg zu Akonos Hütte. Von Weitem riefen sie: »Akono, Akono, aufwachen«, und stolperten außer Puste ins Innere der schattigen Behausung. Tatsächlich lag Akono auf der Matratze, den beiden Freunden den Rücken zugekehrt. Orma rüttelte an Akonos Schulter, drehte ihn zur Seite – und die beiden Kinder erschraken fürchterlich. Regungslos lag ihr Freund vor ihnen. Aus Augen und Nase rann hellrotes Blut.

»Akono, wach auf.«

Das Gesicht Akonos zeigte keinerlei Regung. Orma zupfte Bahati am T-Shirt und dieser wusste, was sein Freund im selben Augenblick dachte. Noch schneller als zuvor rannten sie den Weg zurück zur Schule.

Frau Contee saß in ein Buch vertieft im Schatten eines Baobab, des afrikanischen Affenbrotbaumes. Sie hob den Kopf, als sie die Buben laut rufend auf sich zulaufen sah. Das Geschrei weckte die Neugier der anderen Schulkinder und sie umringten die Freunde, während sich diese schnaufend vor der Lehrerin gegenseitig ins Wort fielen.

»Frau Contee, Akono – kommen Sie – liegt tot in der Hütte und – kommen Sie schon – überall ist Blut. Kommen Sie!«

Verwirrt und aufgewühlt sprang Frau Contee auf und folgte eiligen Schrittes dem vorauslaufenden Orma, die restlichen Schüler wie eine Traube hintendrein. Nach wenigen Minuten erreichten sie Akonos Wohnstätte. »Ihr bleibt draußen«, befahl die Lehrerin den Kindern. Dann betrat sie die Lehmhütte.

Noch immer lag Akono regungslos auf dem Rücken. Sie sah das Blut, erkannte aber auch, dass sich sein Brustkorb hektisch hob und senkte. Vorsichtig fühlte sie mit ihrem Handrücken seine Wange. Er glühte und Schweißperlen sammelten sich auf der Stirn und Oberlippe. Nervös trat sie vor die Hütte.

»Für heute fällt der Unterricht aus. Akono hat hohes Fieber, aber er atmet. Orma, lauf zum Ältesten und bitte ihn, sofort herzukommen. Ich bleibe hier.«

Kapitel 23: Die Mail trifft ein

Genf, 2016, Weltgesundheitsorganisation, WHO, 03:17 Uhr Ortszeit

Victor Schranz saß an seinem Schreibtisch, während er, die Füße hochgelegt, in einem Männermagazin blätterte. Um die leidigen Nachtschichten durchzustehen, schwor er auf das »Wachhalteelixier«, bestehend aus Kaffee und Gummibärchen. Seine Aufmerksamkeit galt ganz und gar einer schönen Brünetten, die sich lediglich mit Stringtanga bekleidet auf einer schräg über dem weißen Sand gewachsenen Palme eines karibischen Strands räkelte. Wie gerne würde er in diesem Augenblick neben der Palme sitzen und ihr das Händchen halten! Er schmunzelte und schlürfte am heißen Kaffeebecher. In dem Moment, da er in erwartungsvoller Spannung die Seite umblätterte, um sich der nächsten lasziven Pose des Mädchens verträumt hinzugeben, erfasste er aus dem Augenwinkel heraus eine Mitteilung am Monitor des PCs.

 

»Eine neue Nachricht befindet sich in Ihrem Postfach«, war der lapidare Hinweis am Bildschirm.

Nicht gerade jetzt, dachte Schranz, doch der Job gebot, alle eingehenden Meldungen umgehend zu prüfen. Er nahm die Füße vom Tisch, stopfte eine Handvoll Gummibärchen in den Mund und bewegte den Cursor der Maus zum Öffnen der Mail.

Absender: eine Klinik in Léo, Burkina Faso. Verfasser: Dr. Jamal Guambo – wer auch immer das sein mochte. Rasch überflog er schmatzend den elektronischen Text, um dann den gesamten Inhalt konzentriert Zeile für Zeile neuerlich zu erfassen. Nachdem ihm die Kernaussage der Mitteilung bewusst wurde, schluckte er den Rest der Süßigkeit auf einmal und griff postwendend zum Hörer des Telefons.

Nach dreimaligem Läuten meldete sich eine verschlafene Stimme: »Ja.«

»Dr. Kleinschmidt, hier Schranz. Sie müssen unverzüglich in die Zentrale kommen.« Victor schilderte in wenigen Sätzen das Wesentliche der soeben eingetroffenen Mail und noch während er sprach, vernahm er ein Klicken in der Leitung.

Vierzig Minuten später stand Dr. Kleinschmidt, mit dem Mailausdruck in der Hand, in Schranz’ Büro. Dann begutachtete Victors Chef am Monitor die Bilddateien, die als weitere Anlagen der Mail aus Burkina Faso angefügt waren.

»Geben Sie W69 durch«, wies Dr. Kleinschmidt Schranz an. »In einer Stunde – Konferenzraum Schweiz.« Der Vorgesetzte stand bereits im Türrahmen, als er sich nochmals an Schranz wendete: »Leiten Sie die Mail umgehend an meinen Account.«

Bei »W69« handelte es sich um eine der Vorschriften oberster Priorität. Ein exakter Ablaufplan, wie in Krisensituationen vorzugehen sei und welche Personen informiert werden mussten. Victor Schranz öffnete ein Programm auf seinem Rechner und verfasste folgende Notiz: »W69 – Stopp – Raum Schweiz – Stopp – 05:30 Uhr – Stopp.« Nachdem er die Sende-Taste gedrückt hatte, ertönte ein schriller Signalton auf insgesamt zwölf mobilen Piepsern innerhalb des Stadtgebietes von Genf.

Kapitel 24: Der kranke Hotelgast

Hampton Inn, Soho, Manhattan

Milton, der blonde Chauffeur des Vorabends, erreichte pünktlich, kurz vor 11:00 Uhr, das Hampton Inn und stellte den Wagen auf einen Parkplatz mit dem Schild »Kurzparkzone«. Im Foyer des Hotels hielt er vergeblich Ausschau nach seinem Gast Tafari Ballo. Mr. Ballo war nirgends auszumachen und so ließ er sich entspannt auf einem der Sofas nieder, beobachtete das rege Treiben der Hotelgäste und schielte auf eine hochgewachsene Blondine, die mit weißem Pudel an der Leine nervös den Abtransport ihrer Koffer überwachte. Anschließend blätterte Milton desinteressiert in einem Modejournal, welches neben ihm auf einem gläsernen Tischchen lag.

Fünfzehn Minuten nach 11:00 Uhr legte er das Heft beiseite und ging zur Rezeption. »Guten Morgen, würden Sie bitte kurz im Zimmer von Mr. Ballo anrufen und mitteilen, dass Milton Miller in der Halle auf ihn wartet?«

Nachdem die farbige Rezeptionistin mit weiß lackierten Fingernägeln die Zimmernummer auf dem Telefon getippt hatte, erwartete sie geduldig lächelnd die Stimme des Hotelgastes. Nach mehrmaligem Klingeln unterbrach sie die Verbindung und versuchte es erneut. »Da geht leider niemand ran. Vielleicht ist er noch beim Frühstück. Sie können gerne nachsehen.« Mit ihrem schlanken Zeigefinger deutete sie Milton den Weg zum Frühstücksraum.

Eine Stunde vor dem Mittagsläuten hielten sich kaum Frühstücksgäste dort auf und Milton erkannte rasch, dass Mr. Ballo nicht im Saal war. Daher probierte er von Neuem sein Glück bei der netten Empfangsdame: »Entschuldigen Sie, Miss Lion«, er las ihren Namen am Schild des Revers ab, »aber Mr. Ballo ist auch nicht im Frühstücksraum. Es ist nur so, wir haben einen Termin für einen Vortrag um 13:00 Uhr. Wäre es möglich, im Zimmer nachzusehen, ob er verschlafen hat?«

Professionell lächelnd nickte Miss Lion: »Augenblick.« Sie lief in das hintere Büro und kam wenig später mit einem nach Dresscode gekleideten Zimmermädchen zu Milton. »Miss Santo wird mit Ihnen nach oben gehen.«

Dankend folgte Milton der etwas untersetzten Person in ihrem gestreiften Kostüm zum Fahrstuhl. Das Display des Aufzugs zeigte in leuchtend roter Digitalschrift eine 12, als die Fahrstuhltüren öffneten. Sie liefen einen engen, fensterlosen Gang auf einem weinroten Teppichboden entlang, bis sie Zimmer 1237 erreichten. Zaghaft klopfte Miss Santo an die dunkle Tür. Als sich nichts regte, wiederholte sie ihr Klopfen, diesmal etwas deutlicher.

»Es hängt auch kein ‚Bitte nicht stören‘-Schild am Türknopf, also sehe ich mal nach«, meinte Miss Santo, während sie eine Plastikkarte aus ihrer im Rock eingenähten Seitentasche hervorkramte. Geschickt zog sie die Karte durch den vorgesehenen Schlitz oberhalb des Türknaufs und eine kleine, nun grün schimmernde Leuchtdiode signalisierte die Freischaltung. Vorsichtig schob sie die Tür einen Spaltbreit nach innen. »Mr. Ballo, ist jemand da?«

Ihr Kopf spähte seitlich des Türrahmens in den kleinen Vorraum. Keine Regung im Zimmer. Auch kein Duschgeräusch aus dem Bad, was eine Erklärung dafür gewesen wäre, dass sich niemand meldete. Milton folgte dem Zimmermädchen in den Raum.

»Mr. Ballo, sind Sie da?«, rief Miss Santo erneut. »Oh Gott!« Die untersetzte Hotelangestellte schlug die Hand vor den Mund und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Milton.

Jetzt sah auch er den Gast angekleidet auf dem Bett liegen. Sogleich drängte er sich an dem Zimmermädchen vorbei direkt zu Tafari. Der Mann, den er erst gestern hier abgesetzt hatte, lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ein leises Röcheln erzeugte kleine rote Bläschen auf dessen Lippen. Sowohl im Bereich der Augenlider als auch an den Mundwinkeln erkannte man Rinnsale hellroten Blutes. Die Stirn schweißüberströmt, das Kopfkissen, auf dem er lag, von seinen Sekreten dunkel gefärbt.

»Mr. Ballo, können Sie mich hören?« Milton schüttelte zaghaft die Schulter des Farbigen. »Schnell, rufen Sie einen Arzt! Ich bleibe hier.«

Miss Santo rannte aus Zimmer 1237 in Richtung der Aufzüge.

Kapitel 25: Erste Maßnahmen

Genf, 2016, Weltgesundheitsorganisation, WHO, 05:30 Uhr Ortszeit

Neben Dr. Kleinschmidt und Victor Schranz hatten sich weitere elf Personen im Besprechungszimmer »Schweiz« eingefunden. Der Raum hatte die Größe zweier Klassenzimmer, dominiert von einem ovalen Besprechungstisch, welcher zu beiden Seiten mit zehn ledernen Besprechungsstühlen bestückt war. Am Kopf des Tisches stand Dr. Kleinschmidt, neben ihm ein geöffnetes Notebook.

»Guten Morgen, meine Herren. Wie ich sehe, sind wir fast vollzählig. Mrs. Regardo lässt ausrichten, dass sie in zirka dreißig Minuten ebenfalls kommen wird. Wir beginnen mit einem aktuellen Lagebericht.«

Alle Anwesenden spürten die Anspannung des bedeutungsvoll dreinblickenden Dr. Kleinschmidt. Code »W69« wurde, wie jeder wusste, nur bei sehr ernst zu nehmenden Ereignissen angewandt. Welche Hintergründe für selbige drastische Maßnahme vorlagen, würden sie nun in Kürze erfahren.

»Heute Nacht um null drei neunzehn erhielten wir eine Mail der Dringlichkeitsstufe AAA. Herr Schranz«, dabei nickte Dr. Kleinschmidt in Richtung Victor, »hat mich unverzüglich darüber in Kenntnis gesetzt. Ich habe die Zeit bis eben genutzt, mir einen Überblick aller vorliegenden Informationen zu verschaffen, und werde Ihnen diese jetzt vorstellen. Ferner versuchen wir, den Absender der Mail, einen gewissen Dr. Jamal Guambo aus Burkina Faso, telefonisch zu erreichen. Bisher ohne Erfolg; es kann sich jedoch nur noch um Minuten handeln, bis die Verbindung zustande kommt. Meine Sekretärin ist dabei, Dr. Guambo ans Telefon zu bekommen, und wird dann das Gespräch hierherleiten.«

Kleinschmidt machte eine kurze Pause, drückte einen Knopf auf dem Notebook und der große Flat-Screen-Monitor hinter ihm zeigte die Originalmail Dr. Guambos an.

»Wie Sie feststellen, meldet Dr. Guambo eine mit Ebola infizierte Person Anfang dreißig. Die Erkrankte, ich nenne sie folgend ‚Wirt 0‘, wurde um zirka sechzehn null null afrikanischer Ortszeit in der Klinik Léo mit hämorrhagischem Fieber eingeliefert. Gegen dreiundzwanzig null null stellte man bei ‚Wirt 0‘ äußere Blutungen an Mund und Augen fest, was Dr. Guambo veranlasste, sie sofort unter Quarantäne zu stellen. Das Klinikum verfügt über eine Quarantänestation mit insgesamt vier Betten, darüber hinaus über ein gut ausgestattetes Labor. Erste Untersuchungen des Blutes ergaben nachfolgenden Befund.«

Die Abbildung des fadenförmigen Virus erschien.

»Sollte Dr. Guambo mit seiner Aussage recht behalten – das hier gezeigte Virus lässt diese Annahme zu –, haben wir es mit einer neuen, uns nicht bekannten Gattung des bisherigen Ebola-Erregers zu tun. Wie sie erkennen können, beträgt der Durchmesser des Virus die allseits bekannte Ausprägung von 80 Nanometern, somit eindeutig der Kategorie Marburg-Virus zuzuordnen. Was jedoch erheblich von den uns bisher vertrauten fünf Spezies des Erregers abweicht, ist die Länge. Sie beträgt exakt sechs Mikrometer. ‚Wirt 0‘ wies erste Krankheitssymptome, wie hohes Fieber und Schüttelfrost, um sieben null null Ortszeit auf. Also eine Zeitspanne von gerade mal sechzehn Stunden, bis äußere Blutungen erkennbar waren. Neben ‚Wirt 0‘ erkrankte ein zusätzlicher Patient, und zwar der Mann von ‚Wirt 0‘. Man fand ihn im Wartezimmer des Krankenhauses. Gleiche Symptome, ebenso rapider Verlauf. Spanne geschätzte acht bis zwölf Stunden. Zwei nachgewiesene Fälle mit extrem kurzer Inkubationszeit.«

Leise öffnete sich die Tür, als Mrs. Regardo eintrat und mit einem flüchtigen Nicken zur Begrüßung wortlos auf einem der Ledersessel Platz nahm.

»So wie es ‚W69‘ vorsieht, bilden wir drei Teams zu je vier Personen. Team 1: Einschaltung des Ebola-Koordinierungszentrums in Guinea. Sie sollen umgehend einen Einsatztrupp in die Klinik schicken, um Unterstützung zu leisten und auch weitere Fakten zu liefern.

Team 2: Sie brechen unverzüglich in die Krisenregion auf. Unsere Transportmaschine mit mobiler Quarantänestation steht ab zehn fünfzehn zum Abflug bereit. Endziel: Das Dorf der Erkrankten, Tamiga, zwei Stunden Fahrzeit westlich von Burkina Faso. Transporter zur Weiterfahrt warten einsatzbereit vor Ort.

Team 3: Koordinierung der …«

Ein futuristisch anmutendes, sternförmiges Plastikgerät auf dem Tisch unterbrach surrend. Es war Telefon und Freisprechanlage in einem.

»Dr. Kleinschmidt, ich höre.«

»Ich stelle durch«, hörte man die rauchige Frauenstimme der Sekretärin.

»Hallo, hallo.«

»Dr. Kleinschmidt hier. Dr. Guambo, sind Sie es?«

»Hier Dr. Jamal Guambo. Ich gehe davon aus, Sie erhielten die Informationen vorschriftsmäßig. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie mich erst jetzt persönlich sprechen können. Alle Maßnahmen sind gescheitert. Keine Medikation hat angeschlagen. Die Patientin ist soeben verstorben.«

Die ohne Umschweife formulierten Sätze des afrikanischen Kollegen hallten deutlich und hingen wie ein todbringender Schleier im Raum.

»Sie wollen damit sagen, dass innerhalb weniger Stunden Ihre Patientin verstorben ist?«

»Genauso ist es, Dr. Kleinschmidt. Bei der Spezies handelt es sich um eine äußerst aggressive Virengattung, die sämtliche bisherigen Forschungsergebnisse von Inkubationszeit bis Exodus in den Schatten stellt. Patient 2, ihr Mann, weist identische Symptome auf und reagiert auf keine uns bekannte Medikation. Innere Blutungen können nicht gestoppt werden. Er löst sich regelrecht auf. Geschätzter Exodus in … ein, maximal zwei Stunden.«

»Mein Gott«, flüsterte Dr. Kleinschmidt.

»Ich habe das Klinikum unter Quarantäne gestellt. Eile ist geboten. Wir müssen dringend ein Team nach Tamiga entsenden, dem Dorf der Patienten.«

»Ist bereits veranlasst, Kollege«, antwortete Dr. Kleinschmidt noch immer fassungslos.

»Es gibt ein schwerwiegendes Problem, Dr. Kleinschmidt. Der Fahrer, der die Verstorbene in unser Hospital brachte, ein gewisser Tafari Ballo, hat die Klinik vor Stunden verlassen und ist auf dem Flug nach … New York.«