Chris Owen - Die Wiedergeburt

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Kapitel 16: Er soll Chris heißen

Washington, D.C., 7. Juli 2016

Dr. Sisley starrte auf das zwischen den gespreizten Schenkeln Sandras liegende Neugeborene. Fassungslos sah sie kurz in die strahlenden Augen der tapferen Mutter, auf deren dunkelhäutiger Stirn Schweißperlen glänzten. Sie griff zur Atemmaske und setzte diese sanft über Nase wie auch Mund des Säuglings. Ein tiefer Atemzug presste sich in dessen Lunge. Dann durchtrennte Dr. Sisley die Nabelschnur und versorgte den Wurmfortsatz am Bauch des Babys mit einer Klemme.

»Ist alles in Ordnung?«, hauchte Sandra sichtlich erschöpft.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sandra. Alles bestens.«

Wie, ich soll mir keine Sorgen machen?, dachte Sandra, während ein ungutes Gefühl in ihr aufstieg. »Was ist mit meinem Baby?«, fragte sie unsicher.

»Es ist alles okay, Sandra. Wir führen nur noch den APGAR-Test an Ihrem Kind durch. Ganz so, wie wir es besprochen haben.«

»Was ist mit ihm?«, wurde Sandra lauter.

»Beruhigen Sie sich, Sandra. Sie werden den Kleinen gleich in den Armen halten. Nur noch ein wenig Geduld.« Dr. Sisley griff zu einem großen weißen Tuch aus Leinen und wickelte den Säugling darin ein. Dann reichte sie das Paket der Hebamme, die in den rückwärtigen Teil des Entbindungszimmers verschwand.

Sandra streckte ihren Kopf nach hinten, doch die Hebamme glitt aus ihrem Sichtfeld. »Was ist mit meinem Kind?«, schrie die junge Mutter jetzt hysterisch. »Was machen Sie mit ihm?«

Ihre Schwägerin Janette, die ebenfalls zur Geburt im Zimmer war, fasste beruhigend Sandras Hand. »Mach dir keine Sorgen, Liebes, es wird alles gut.«

Sandra erkannte an Janettes Gesichtsausdruck, dass es sich hier nur um eine Besänftigung handeln konnte. »Wo ist mein Baby?«, kreischte sie, während Tränen in ihre Augen schossen. Sie drehte sich von einer Seite zur anderen in der Hoffnung, irgendetwas erhaschen zu können.

»Bleiben Sie ruhig, Sandra. Wir machen den APGAR-Test und schon haben Sie Ihren Sohn bei sich«, beschwichtigte Dr. Sisley erneut.

»Was für einen Scheißtest?«, schrie Sandra.

»Das haben wir doch besprochen. Das ist die Erstuntersuchung der Atmung, der Herzfrequenz, der Muskelbewegung sowie der Reflexe. Erinnern Sie sich?«

Der natürliche Instinkt der Mutter sagte Sandra, dass überhaupt nichts in Ordnung war. Wild entschlossen stützte sie sich im Entbindungsbett auf ihre Unterarme.

»Halten Sie sie«, wies Dr. Sisley, die eine Spritze in der Hand hielt, Janette an. »Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel, Sandra. Das wird Ihnen guttun.«

Kreischend wand sich Sandra unter den Händen ihrer Schwägerin, als Dr. Sisley die Spritze in die Vene setzte. »Ich will nicht … Ich will meinen Sohn!«, brüllte Sandra, als die Wirkung des Medikaments sekundenschnell einsetzte. Die Geräusche um Sandra herum wurden gedämpft, die Personen schienen wie in Zeitlupe zu agieren. »Was, was ist mit meinem Baby?«, hauchte sie. Ihre Lider wurden tonnenschwer und schlossen sich.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie erwachte. Wie in Watte gebettet, erkannte Sandra, dass sie noch immer auf dem Bett des Entbindungszimmers lag. Ihre Schwägerin saß neben ihr und hielt ihre Hand.

»Janette, was ist …«

»Ganz ruhig, du hast nur ein wenig geschlafen.«

Eine kurze Pause folgte, die Sandra wie eine Ewigkeit vorkam.

»Dr. Sisley, sie ist jetzt wach«, meinte Janette.

Von hinten trat die Ärztin ans Bett. »Sandra, schön, dass Sie sich beruhigt haben. Ihr Sohn ist kerngesund. Allerdings werden Sie sich ein wenig an seine Hautfarbe gewöhnen müssen.« Dr. Sisley lächelte zaghaft.

»Sie meinen, er ist nicht …«

»Nein, ist er nicht. Sehen Sie.«

Neben der Frauenärztin erschien die Hebamme mit dem in weißes Tuch gehüllten Neugeborenen. Behutsam hob Sandra den Blick und sah auf das Bündel, welches in der rechten Armbeuge der Schwester lag. Sie betrachtete das Gesicht ihres scheinbar schlafenden Sohnes, der wie in eine Mönchskutte eingehüllt war. Der Teint des Säuglings unterschied sich nur geringfügig vom bleichen Leinentuch. Helle, zartrosa Bäckchen, eine blasse Stirn, in die einige Haarsträhnen hellblonden, fast schlohweißen Haares fielen. Auch die vollen Lippen des milden Mundes gingen in die wolkenfarbige Haut über. Plötzlich zitterten die Lider, dann hoben sie sich vorsichtig, bis die Augen vollständig geöffnet waren. Hellblau und mit Rot durchzogen fixierten sie geradewegs Sandras wässrigen Blick. Während sich die Iris seiner Augen zusammenzog, strahlten die sonst schwarz erscheinenden Pupillen in leuchtendem Rot. Die Befürchtung, dass Sandra beim Anblick ihres Sohnes erschrecken könnte, erwies sich als unbegründet. Jener Blick, der in die Tiefe der Mutter drang, ein Gefühl von unermesslicher Wärme und Güte vermittelte, ließ sie unversehens lächeln. »Wie schön er ist«, sagte sie warmherzig und die bedingungslose Liebe der Mutter schwang in ihren Worten mit. Sandra streckte die Hand aus.

»Entzückend stämmig«, lächelte Janette.

»Wie soll er denn heißen?«, fragte Dr. Sisley.

»So wie sein Vater – Chris.«

Sandra blickte erschöpft zur Seite und spürte die freudige Anspannung, als die Hebamme ihr den 3.470 Gramm schweren Jungen auf den Bauch legte. »Gibt es irgendwelche gesundheitlichen …« Sandra hob fragend den Kopf, während die Hände zärtlich auf dem Säugling ruhten.

»Nein, keine. Wir sprechen hier von menschlichem Albinismus. Er ist etwas ganz Besonderes!«

Freudentränen liefen über Sandras Wangen.

»Wir werden Sie anschließend aufs Zimmer bringen. Dann haben Sie Zeit, zu schlafen. Es wird Ihnen guttun.«

»Und mein Sohn?«

»Keine Angst. Er ist bestens versorgt. Sobald Sie aufgewacht sind, wird er Ihnen gebracht.«

»Wenn du wach bist, werden auch wir da sein«, versicherte Janette ihrer Schwägerin. »Ich fahre jetzt gleich zu Marc und wir werden alle informieren, dass das neue Familienmitglied auf der Welt ist.« Janette streichelte Sandra über die verschwitzte Stirn.

Während seine Mutter in ihrem Zimmer schlief, lag Chris in einem der gläsernen Bettchen der Babystation. Aufmerksam wanderten seine roten Augen von einer Seite zur anderen. Intensiv betrachtete er die Säuglinge, welche neben ihm in ihren durchsichtigen Säuglingsbetten lagen.

Kapitel 17: Zwischenlandung Brüssel

Brüssel, 2016

Mit einem heftigen Ruck, der durch die ganze Maschine ging, setzte die Boeing 767-300 auf der Landebahn des Flughafens Brüssel-Zaventem, zwölf Kilometer vom Zentrum Brüssels entfernt, auf. Die Passagiere wurden gebeten, sitzen zu bleiben, bis das Flugzeug die endgültige Parkposition eingenommen hatte. Anschließend drängten 147 Fluggäste durch den engen Kabinengang nach draußen.

Als Tafari die Ankunftshalle musterte, überlegte er, den Aufenthalt zu nutzen, um Brüssel zu erkunden. Es war kurz vor halb drei Uhr nachmittags und so blieben ihm hierfür gute vier Stunden, bis er wieder am Flughafen sein musste und die Maschine um 19:30 Uhr zum Weiterflug Richtung New York abheben würde.

Tafari staunte über die Größe des Flughafengebäudes, welches in mehrere Stockwerke unterteilt war. Er befand sich im Ankunftsbereich des unteren Geschosses. Farbige Hinweistafeln markierten den Weg, um den Bahnhof, die Taxistände oder Bushaltestellen zu finden. Mittels einer Rolltreppe gelangte er in den oberen Flughafenkomplex, der neben Läden und Boutiquen auch Schnellrestaurants sowie Cafés beherbergte. Für Tafari war dies Stadt genug und er beschloss, die Wartezeit hier zu verbringen.

Staunend schlenderte er von Schaufenster zu Schaufenster, überwältigt von der Fülle an ausgelegten Waren wie Kleidung, Bücher, Schuhe etc. Noch mehr faszinierten ihn die Preise der angebotenen Artikel und er grübelte, wie viel die westliche Welt wohl verdienen mochte, um sich Derartiges leisten zu können. Tausende Personen um ihn herum bewegten sich wie Ameisen im Fluss hektischen Treibens.

Sein Blick fiel auf eines der großen englischsprachigen Werbeplakate. Eine wunderschöne Frau strahlte neben der Werbebotschaft, dass sie gesund abgenommen habe – dank des Produktes, welches sie lächelnd in Händen hielt. Belustigt schüttelte Tafari den Kopf, während er darüber sann, mit welchen Themen die Menschheit in diesem Land konfrontiert war. Er nahm sich fest vor, dies in den Vortrag für New York einfließen zu lassen. In seinem Dorf würde keiner, nicht einmal der Ältestenrat, auf diese Idee kommen – nein, man wusste überhaupt nicht, dass es Diätprodukte gab. Die zentrale Aufgabe der Dorfgemeinschaft bestand darin, Wasser zur Verfügung zu stellen, um nicht zu verdursten, beziehungsweise die Felder für das Wachsen des Korns zu versorgen. Das machte die Gemeinde reich – und glücklich.

Durch den Geräuschpegel der Lautsprecherdurchsagen wie auch der wirr durcheinanderredenden Menschen in Sprachen, die er nicht verstand, gelangte sein Geist wieder ins Hier und Jetzt. Als er erneut ein Werbeschild sah, hatte er endlich etwas vor Augen, das ihn an Burkina Faso erinnerte: McDonald’s! Zufrieden, dieses Lokal zu kennen, ging er hinein, bestellte zwei Hamburger, Pommes und Cola. Gesättigt, ausgestattet mit einem Stapel Servietten, die er heimlich in der Jackentasche verschwinden ließ, wagte er sich wieder in das Getümmel der vielen Reisenden.

Nach wie vor zwickte es in seiner Nase und es ärgerte ihn, dass er tatsächlich einen Schnupfen bekam. Immer wieder unterdrückte er den aufkeimenden Niesreiz, schniefte in die Papierservietten, bis er schließlich in einer Drogerie drei Packungen Papiertaschentücher kaufte, welche vorerst reichen sollten.

 

Eines der Päckchen war aufgebraucht, als er zwei Stunden später an Gate 2 anstand, um in seine Maschine zu kommen. Kurzer Check des Flugtickets und schon lief er über die Gangway der mobilen Fluggastbrücke zur Einstiegsluke der Boeing. Dann saß er aufs Neue neben dem Bullauge seines Platzes – gespannt auf den Weiterflug Richtung New York. Dieses Mal war die Maschine bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt.

Kapitel 18: Zu Hause

Washington, D. C.,12. Juli 2016

Marc holte seine Schwägerin aus der Klinik ab. Vorsichtig platzierten sie zu zweit den Säugling in den dafür vorgesehenen Kindersitz, der auf dem ledernen Beifahrerplatz verankert war.

»Ich würde gern vorne bei Chris sitzen«, schmollte Sandra, als sie hinten im Wagen einstieg.

»Dann musst du fahren oder eben so lange durchhalten, bis wir zu Hause sind.«

Zwischen Fahrer- und Beifahrersitz vorgebeugt, betrachtete Sandra ihren Sohn, der mit dem Gesicht gegen die Fahrtrichtung ihr zugewandt saß. »Schau mal, er lächelt mich an«, freute sich Sandra und blickte in die wachen, roten Augen des Babys.

»Er wird froh sein, so eine tolle Mutter zu haben. Zweifellos überlegt er gerade, wie er dich die nächsten Monate drangsalieren kann.« Marc lachte.

»Ach du, er ist bestimmt auf sein Schwesterchen gespannt und wie sein Zimmer aussieht«, orakelte Sandra.

»Klar doch – und wie die Redskins dieses Jahr den Super Bowl gewinnen«, ergänzte Marc.

Als sie die Auffahrt zu Sandras Villa hochfuhren, sah sie schon von Weitem das Transparent, welches über der Eingangstür gespannt hing: »WELCOME HOME, CHRIS«

»Ihr seid ja süß«, gluckste Sandra.

»Sie kommen«, rief Fredrik, nahm Olivia, die Meira trug, bei der Hand und folgte den anderen – Rachel, Elias im Rollstuhl, Janette und Lea – nach draußen.

»Hey, das volle Empfangskomitee«, staunte Sandra, als sie das neue Familienmitglied vom Sicherheitsgurt erlöste. »Schau mal, Chris, da wohnen wir und das hier ist deine buckelige Verwandtschaft«, scherzte sie.

»Ich werde dir was geben, von wegen buckelig«, erwiderte Rachel, um sich dann im Flüsterton an ihren Enkel zu wenden: »Ich habe schon den Willkommenskuchen vorbereitet.«

Chris blickte mit dicken Backen und weißblondem Haarflaum aufgeregt von einer Seite zur anderen, während Sandra ihn im Arm hielt. »Ich weiß gar nicht, was ich zuerst machen soll«, meinte diese. »Ist ungewohnt, jetzt mit zwei Kleinen.«

»Dann gehen wir als Erstes nach drinnen und legen ihn hin. Ich habe schon das Bettchen an den Esstisch gefahren, dann kann er uns beim Kaffeetrinken zusehen.« Olivia schien überglücklich. Jetzt war sie bereits zum dritten Mal Oma geworden, auch wenn sie sich längst nicht so alt fühlte.

Die Tatsache, dass Chris als Albino äußerlich vom Standard abwich, löste bei niemandem der Familie Unbehagen aus. Ganz im Gegenteil: Er war der Sohn seines verstorbenen Vaters und somit von Haus aus etwas ganz Besonderes.

Kapitel 19: Das Virus

Léo, Burkina Faso, 2016

Dr. Jamal Guambo war seit fast dreißig Jahren Arzt und hatte als junger Mann in Frankreich an der Universität Joseph Fourier Grenoble Medizin studiert. 2011 wechselte er als leitender Chefarzt in die Klinik nach Léo. Seine Domäne waren Viruserkrankungen und so wurde er 2014 zu einem Spezialteam hinzugezogen im Versuch, die damals drohende Ebola-Pandemie in Afrika einzudämmen. Innerhalb nur eines Jahres erkrankten mehr als 28.000 Menschen, über 11.000 starben. Der sogenannte Indexfall, also der Beginn der Epidemie, wurde im Südosten Guineas 2013 bekannt gegeben. In den darauffolgenden Monaten breitete sich das Virus auf die benachbarten Länder Sierra Leone, Liberia, Nigeria, Mali sowie den Senegal aus, bis er letztendlich Ende September 2014 in den USA nachgewiesen wurde. Spanien wie auch England folgten. Nur durch den Einsatz von Spezialteams unter Leitung der Weltgesundheitsorganisation WHO konnte eine Pandemie Ende 2014 verhindert werden. Oftmals wäre die in der Fachsprache Dissemination genannte Verbreitung nicht in so rasantem Tempo vorangeschritten, hätten sich Angehörige der Ebola-Erkrankten korrekt verhalten. Auch heute noch war das Verständnis, Leichen seuchengerecht zu entsorgen, nicht in die Köpfe der Bevölkerung gedrungen.

Es war bereits spät am Abend – Dr. Guambo hatte seit zwanzig Stunden keinen Schlaf mehr gefunden. Nachdem er die Hände gewaschen hatte, klatschte er sich kühles Wasser ins Gesicht und betrachtete die müde glänzenden Augen im Spiegel. Er würde nochmals nach der neuen Patientin sehen, um dann für ein paar Stunden zu schlafen.

Oluchi lag reglos im Krankenbett. Die Flüssigkeit des Infusionsbeutels tropfte in gleichmäßigem Takt durch die Kanüle. Dr. Guambo fühlte mit der Hand ihre Temperatur. Unnötig, ein Thermometer zu verwenden. Auch ohne erkannte er, dass sie noch immer heiß war. Im Krankenblatt las er 39,8 Grad Celsius, den Wert der letzten Messung. Zudem war der Blutdruck erhöht, was ihrer Körpertemperatur geschuldet sein konnte. Erst einmal schien sie versorgt. Näheres würde zuverlässig ihr Blutbild ergeben, dem er sich noch heute Nacht widmen wollte. So verließ er die Krankenstation, um sich wenig später auf dem Sofa des Arbeitszimmers, welches schon viele Nächte als Nachtlager gedient hatte, auszuruhen.

Verstört drehte er sich zur Seite, als die Krankenschwester aufgeregt an seiner Schulter rüttelte. »Dr. Guambo, wachen Sie auf. Dr. Guambo!«

»Was ist? Wie spät ist es?«

»Kurz nach 23:00 Uhr. Kommen Sie, schnell!«

Die Schwester eilte voraus, während Dr. Guambo an ihren Fersen hing. Als er Oluchi sah, lief es ihm eiskalt über den Rücken. »Wir müssen sofort isolieren. Sperren Sie den gesamten Trakt ab. Keiner darf mehr hinein oder hinaus.«

Er löste die Bremsen des Bettes und schob Oluchi mit dem Infusionsständer aus dem Krankenzimmer durch den schmalen Gang zur Isolierstation. Diese bestand aus einer zweigeteilten Schleuse, deren Ende in vier voneinander getrennte, fensterlose Zimmer mündete. Das filtergesteuerte Belüftungssystem versorgte die Räume mit dem unverzichtbaren Sauerstoff und ließ keine ungefilterte Luft nach außen dringen.

Sobald das Bett von Oluchi fixiert war, trat er aus dem Isolierraum und traf weitere Sicherheitsvorkehrungen. Zuallererst erhielt die Schwester notwendige Anweisungen, die Krankenstation zu isolieren sowie die Desinfektion aller Räume einzuleiten. Ferner musste er Meldung an das Zentralbüro für Viruserkrankungen machen. Er besaß genügend Erfahrung, um nervös zu erahnen, was ihn nun erwartete. Am Blick der Schwester erkannte er deren Angst und so versuchte Dr. Guambo ein sicheres »Ich habe alles im Griff«-Auftreten zu vermitteln.

Im Anschluss betrat er die Schleuse der Isolierstation, zog sich einen der weißen Schutzanzüge an, stülpte die Atemschutzmaske über und schlüpfte in spezielle undurchlässige Handschuhe. Schweiß rann ihm an den Augenbrauen entlang, als er abermals vor Oluchi stand. Aus Augen, Nase und Mund sickerte Blut und hatte bereits das dünne Kopfkissen rot gefärbt. Jetzt zitterte ihr ganzer Körper. Er musste verhindern, dass sie wegen des Flüssigkeitsverlustes unter Schock geriet und Blut durch die Atemwege in die Lunge gelangte. Vorsichtig hob er die befleckte Decke in die Höhe und seine Vorahnung wurde zur Gewissheit – Blut im gesamten Beckenbereich, ausgetreten durch ihre Genitalien. Ein weiterer Hinweis, der den Verdacht auf Ebola verstärkte. Er drückte den Knopf des Wandmikrofons und wies die Schwester an, Konserven der Blutgruppe A positiv in der Schleuse zu deponieren. Die knappe Rückmeldung vernahm er mittels des Lautsprechers, der Teil der Sprechanlage war.

Die Kranke glühte. Kurz überlegte er, das Medikament Favipiravir zu verabreichen, an dessen Tests er letztes Jahr beteiligt war. Hierbei handelte es sich um ein japanisches Grippemittel, welches in einigen Fällen den Verlauf von Ebola-Symptomen zum Stillstand brachte. Ein schwaches Signal, jedoch kein klinisch untermauerter Befund. Weiter stand ihm VSV-EBOV zur Verfügung. Ein experimenteller, rekombinanter Impfstoff. Ein leiser Fluch entfuhr ihm. Hätte er keine Ruhepause eingelegt, sondern wäre direkt ins Labor gegangen, hätte er lebenswichtige Stunden gewonnen. Hätte, wäre, wenn! Jetzt war er dazu verdammt, ihr den Blutverlust mit Fremdblut auszugleichen – Weiteres ergäbe sich im Labor. Er tastete Oluchis Bauch ab. Dieser zeigte Verhärtungen, was auf innere Blutungen im Bereich der Leber und Milz hindeutete. Sein schlimmster Albtraum wurde soeben Realität.

Nachdem die Blutkonserve sowie weitere fiebersenkende Infusionen an Oluchi angebracht waren, verstaute er in der Schleuse den Schutzanzug einschließlich der Kleidung in dem dafür vorgesehenen luftdichten Behältnis. Anschließend betrat er nackt eine Dusche mit speziellen Brausedüsen, welche seinen Körper desinfizierten. Durch eine zweite Sicherheitstür trat er in den Vorraum. Aus einem Spind entnahm er Unterwäsche, eine grüne Stoffhose, ein grünes Shirt sowie Synthetik-Clogs. Ohne Umwege suchte er das Labor auf. Dort standen fein säuberlich aufgereiht die Reagenzgläschen, gefüllt mit Oluchis Blutproben.

Nach knapp zwei Stunden gewann er Klarheit durch die Polymerase-Kettenreaktion, kurz PCR genannt. Die müden Augen Dr. Guambos starrten auf das Ergebnis des Monitors. Das, was sich vor ihm auftat, jagte ihm einen derartigen Schrecken ein, als würde eine 38er mit gespanntem Abzug direkt an seine Stirn gehalten. Die fadenförmige Gestalt des Virus wand sich erhaben auf dem Bildschirm und schien verknotet zu sein. Der Durchmesser betrug konstant 80 Nanometer, üblich für diese Virusgattung. Nur die Länge des Fadens, normalerweise zwischen ein und vier Mikrometern, passte mit über sechs Mikrometern nicht zu den bekannten fünf Gattungen des Ebolavirus. Sie glich weder dem Taï-Forest-Virus, dem Sudan-Virus, Zaire-Ebolavirus, dem Reston-Virus noch dem Bundibugyo-Virus. Was die Blutprobe zutage förderte, war eindeutig die Entdeckung eines neuen viralen »Wesens«. Er fühlte sich wie ein Tiefseetaucher, der plötzlich in Tausenden von Metern eine neue, unbekannte Spezies erblickt. Und ebenso lief er gerade Gefahr, in einen tiefenrauschähnlichen Zustand zu verfallen. Er speicherte die digital angezeigten Bildschirminhalte und verfasste eine Mail, wie es die Seuchenvorschriften vorsahen. Diese Mail, so war er sicher, würde Wellen schlagen und spätestens in einer Stunde im Büro der WHO, der Weltgesundheitsorganisation mit Sitz in Genf, einer Bombe gleich einschlagen.

Dr. Guambo rannte nach draußen. Er fand die Nachtschwester, die unter Hilfe einer Putzkraft das Krankenzimmer mit den von sieben Patienten belegten Betten desinfizierte. »Ist die Klinik abgeriegelt?« Die Schwester sah ihren Chef furchtsam an und nickte. Mit Blick auf die Reinigungskraft forderte Dr. Guambo noch einmal: »Keiner verlässt die Klinik. Keiner! Wo ist Oluchis Mann?«

»Im Wartezimmer. Ich denke, er schläft«, antwortete die Krankenpflegerin.

Ohne Zeit zu verlieren, lief Dr. Guambo den Flur entlang zum Warteraum. Thabo lag auf dem Boden, zitternd, das Bewusstsein verloren. Inmitten einer roten Lache aus Blut, welches aus Augen, Nase und Mund rann.

Das Siegel des Fahlen Reiters war gebrochen.