Chris Owen - Die Wiedergeburt

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Kapitel 8: Das zweite Siegel

Braunau am Inn, April 1913

Der Sonnenuntergang legte sich zart wie ein roter Seidenschal über den Marktplatz von Braunau, als ein stämmiger Mann mit rotem, bis zu den Stiefeln reichendem Ledermantel die von Zigarren und Pfeifenrauch vernebelte Wirtsstube betrat. Er behielt den dunklen Hut mit breiter Krempe auf, während er an den Tresen der gefüllten Gaststube trat.

Lisbeth war gerade damit beschäftigt, zwei Krüge mit Bier aus dem Zapfhahn zu füllen, als sie kurz aufsah. Beim Anblick des Mannes fröstelte sie. »Bin gleich bei Ihnen«, rief sie dem Fremden über den Geräuschpegel der vielen Gäste hinweg zu. Nachdem sie beide Bierkrüge auf der Theke abgestellt hatte, wandte sie sich dem groß gewachsenen Mann mit dem auffallend roten Mantel zu: »Was darf’s denn sein, der Herr?«

»Sie vermieten Zimmer?«

Lisbeth konnte das Gesicht des Fremden wegen des tief in die Stirn gezogenen Hutes kaum erkennen. Im Schatten der Kopfbedeckung erhaschte sie kurz zwei tief liegende Augen sowie eine ausgeprägte, glatt rasierte Kinnpartie. Die Lippen des Mannes waren dünne Striche und zuckten ein wenig, wenn er sprach.

»Da schau’n wir doch gleich, ob noch was frei ist.« Lisbeth wischte die feuchten Hände an ihrer Schürze ab und griff zu einem dunkelbraunen Buch unter der Theke. »Zwei sind noch frei, mein Herr, eins im ersten Stock sowie die kleine Dachkammer. Wie lang wollen’s denn bleiben?«

»Dann nehm ich die Dachkammer«, sagte der Mann in sonderbar wirkendem Tonfall, ohne auf die Frage einzugehen.

Na, von hier biste aber nicht, überlegte Lisbeth. »Das Zimmer im ersten Stock ist das schönere. Auch viel geräumiger.«

»Ich nehm die Dachkammer, Lisbeth.«

Verwundert darüber, dass dieser seltsame Mensch sie mit Namen ansprach, legte sie ihm das braune Buch auf den Tresen. »Wenn Sie da Ihren Namen reinschreiben würden; dann bekomm ich noch vier Groschen für die Nacht.«

Nachdem der Mann etwas eingetragen hatte, schob er Lisbeth das Buch mit vier Münzen darauf entgegen.

»Haben der Herr Gepäck? Wir können es nach oben bringen.«

Doch der neue Gast griff nur den Schlüssel, welchen Lisbeth hingelegt hatte, und verließ ohne Antwort die Gaststube.

»Wer war denn das?«, fragte die Wirtsfrau, die den skurril wirkenden Reisenden von der Küchentür aus beobachtet hatte.

»Keine Ahnung, aber er kennt meinen Namen.«

»Zeig mal«, bat die Wirtin, auf das Gästebuch deutend. Als sie versuchte, die geschwungene Schrift zu entziffern, schüttelte sie den Kopf. »Kann ich nicht lesen. Hab ein Auge auf den Kerl, ja, Lisbeth?«

Die Nacht brach herein, als der seltsame Hüne vor einem kleinen Holztisch in der mit Dachgiebeln versehenen Mansarde saß. Der rote Ledermantel lag neben dem Hut auf dem Bett. Ein dicker anthrazitfarbener Wollpullover mit rundem Ausschnitt ließ den muskulösen Brustkorb erahnen und zwei kräftige, dunkel behaarte Hände hielten einen gerollten Gegenstand, so als ob dieser zerbrechlich sei. Der Mann fixierte ihn mit zittrigen Fingern. Langsam neigte er den Kopf in den Nacken und blickte zur Zimmerdecke, während sein schwarz gewelltes Haar den Ansatz seiner Schultern umspielte. Gleichmäßige, tiefe Atemzüge durchzogen die Stille der Kammer.

Gedämpft begann er zu flüstern, doch niemand aus Braunau wäre in der Lage gewesen, die Worte zu verstehen. In bläulicher Dunkelheit der Nacht betete er ohne jede Regung, bis sich seine Muskeln nach über einer Stunde spannten. Vorsichtig legte er das Runde aus den Händen und entzündete die Kerze, die am oberen Rand des Tisches stand. Im trübgelben Schein der Flamme sah er auf das, was er zuvor mit Bedacht in Händen gehalten hatte.

Die ockergelbe Pergamentrolle schien alt – braune Verfärbungen zierten die Oberfläche. Verhalten rollte er sie mit dem Zeigefinger vor und zurück, während ein Widerstand am Pergament es auf der Tischoberfläche holpern ließ. Dann nahm er das Schriftstück in beide Hände und drehte es, bis das rote Wachssiegel im Lichtschein des flackernden Kerzenlichtes vor seinen Augen erschien. Zwischen Daumen und Zeigefinger gab das Siegel mit leisem Knacken nach. Es war gebrochen!

Als er die Schriftrolle öffnet, erkennt er die griechischen Buchstaben. Sie sind nicht neu für ihn. Er kennt sie seit Tausenden von Jahren! Und doch, in diesem Augenblick lassen sie ihn erschaudern. Laut liest er die Sätze der kriegerischen Verdammnis und als er das letzte Wort gesprochen hat, geht die Schriftrolle in Flammen auf. Er lässt sie nicht los, bis die letzte Glut in seinen Händen zu Asche zerfällt.

Es war bereits nach zwölf Uhr mittags, als Lisbeth an der Tür der Mansarde klopfte. Sie war nicht verschlossen und bewegte sich knarzend einen Spalt breit ins Zimmer. »Hallo, schlafen Sie noch? Es ist schon Mittag und ich würde gerne etwas sauber machen. Sind Sie da?«

Vorsichtig lugte Lisbeth durch den Türspalt. Was sie vorfand, ließ sie einen Schrei ausstoßen. Sie sah den roten Mantel, daneben den Hut. Der gesamte Raum war mit schwarzem Ruß überzogen, der Tisch von einer dunklen, rußigen Schicht bedeckt. Auf dem Stuhl lag ein Aschehaufen – die Kerze war abgebrannt und das Wachs formte ein tropfenförmiges Gebilde auf der Tischplatte. Von ihrem Gast war nichts zu sehen.

Kapitel 9: Ostfront 1915

Ostfront bei Bolimov an der Bzura, 12. Juni 1915

Michail war sechzehn, als er mit seinem älteren Bruder Pjotr in die Kaiserlich Russische Armee eingezogen wurde. Nun lag er im Schützengraben und die vom Schlamm schwer gewordenen Stiefel drohten bei jeder seiner Bewegungen vom Fuß zu rutschen. Nach der Musterung, deren einziges Kriterium darin bestand, aufrecht zu gehen, erhielt er die Ausrüstung, bestehend aus Uniform, Feldbeutel, einer M1891, Gasmaske, Socken und Stiefeln. In seiner Größe hatte man kein Schuhwerk vorrätig, was er jetzt mit zwei Nummern zu groß geratenen Stiefeln verfluchte. Blasen quälten ihn an den Fersen, doch dieser Schmerz war das unbedeutendere Problem. Den ganzen Tag schon hatte es geregnet, was seine grünbraune Reiterhose, die Breeches, völlig durchnässt an den Schenkeln kleben ließ.

Als die Abenddämmerung hereinbrach, wurde die Feuerpause in der von einem kleinen Wald umgebenen Lichtung eingestellt. Seitdem krachten Hunderte, Tausende abgefeuerte Schüsse der gegenüber verschanzten Deutschen über seinen Kopf und die seiner Kameraden hinweg. Pjotr lag neben Michail auf dem Rücken, das Gewehr, jene M1891, Kaliber 7,62 mm, nach oben gerichtet im Anschlag. »Auf drei hoch und feuern, hörst du, Michail? Und dann gehst du sofort wieder in Deckung!«

»Aber auf was soll ich schießen?« Es war stockfinstere Nacht und ein Wolkenmassiv hatte sich vor den Halbmond geschoben.

»Egal, einfach in die Richtung der Mündungsfeuer. Und dann: Kopf einziehen. Also! Eins – zwei – drei.«

Die beiden Brüder verließen sekundenschnell ihre Deckung, rissen die Gewehre über den Schlammwall und begannen in die pechschwarze Nacht hineinzufeuern. Einmal – Schlagbolzen spannen – zweimal – Schlagbolzen spannen – dreimal … Umgehend pressten sie sich wieder geduckt mit den Rücken in den sicheren Schlammwall. Den Donner des wiederkehrenden Kugelhagels durchzogen nun pfeifende Geräusche und Michail erkannte Rauchschwaden, die sich über ihn hinweg weiter hinten im Feld wie tödlicher Nebel senkten. Schließlich fanden viele dieser seltsamen Geschosse ihren Weg – einige landeten direkt neben Pjotr und Michail.

»Gas, Michail, Gas! Zieh deine Maske auf, schnell!« Pjotr hantierte an der Gasmaske, zitterte, riss an ihr, doch sie verhakte sich am offenen Riemen seines Armeebeutels. In Panik rüttelte er eine gefühlte Unendlichkeit, bis sie endlich vom Gurt des Beutels abfiel. Mit angehaltenem Atem zog er die Maske in die Stirn, bekam sie jedoch nicht ganz über sein Gesicht gestülpt. Ihm ging die Luft aus. Er röchelte, hustete – atmete im Reflex des Erstickenden einen tiefen Zug in die Lunge. Rasch breitete sich das Gift in seinem Körper aus. Die Maske halb über den Mund gezogen, brennende Augen, die den Schützengraben nur noch schemenhaft wahrnahmen. Mit all seiner Kraft widersetzte er sich dem Drang, seinen Mageninhalt von sich zu geben. Zu spät. Sauer Erbrochenes quoll die Speiseröhre Pjotrs nach oben, verklebte die Nasenlöcher, lief unter die Sichtfenster der Maske in seine Augen – er verlor das Bewusstsein.

Michail, der den Gummi der eigenen Schutzmaske roch, fragte sich, ob dies der Gestank der Maske oder des eindringenden Gases war. Hechelnd versuchte er, den Atem unter Kontrolle zu bringen, als er durch die schlammverdreckten Sichtfenster den reglosen Pjotr liegen sah. Im Hagel des Dauerfeuers schrie er, dumpf in den Luftfilter der Atemmaske hinein, den Namen des Bruders. An den Schützenwall gelehnt, zog er den leblosen Körper Pjotrs auf seine Oberschenkel und umfasste von hinten dessen Brust.

»Pjotr! Wach auf, wach auf!«

Hilfe suchend schweifte Michails Blick wie im Traum den Graben entlang. Hunderte Gasgranaten hüllten bereits den gesamten Schützengraben ein. Schreie der Soldaten, die sich aufbäumten im Versuch, die Grube zu verlassen, um hierdurch den Giftwolken zu entkommen. Sie krochen über regungslose Gefährten durch glitschigen Schlamm den schützenden Wall hinauf, um dann, von den Salven der gegnerischen Gewehrkugeln durchlöchert, einzusinken. Gleich einem Film, der in Zeitlupe abgespielt wird, brannten sich die Bilder in Michails Innerem ein. Nie wieder würde er diese vergessen können!

Durch Tränen hindurch, die wie ein See in den runden Sichtfenstern der Atemmaske schwammen, sah er wieder zu seinem Bruder. Der blecherne Behälter mit dem Kohlefilter hing seitlich an Pjotrs Wange herab. Er muss sie aufsetzen! Warum hat er die Maske nicht auf? Hektisch riss er an ihr, doch ohne Erfolg. Sie muss verhakt oder verdreht sein, dachte Michail – und im Bruchteil einer Sekunde stand sein Entschluss fest. Er holte tief Luft und streifte seinen Atemschutz vom Kopf.

 

Gerade als er die rettende Hülle dicht auf Pjotrs Gesicht presste, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Fast hätte er vor Schreck einen Atemzug getan, der seine Lungen mit dem giftigen Qualm füllen würde, als er eine Gestalt erblickte, die zu ihm herabsah. Ohne Schutz vor dem Gesicht, ohne Anzeichen einer Furcht, von den peitschenden Kugeln getroffen zu werden. Gütige Augen sahen ihn an. Das muss der Tod sein, dachte Michail, denn eine derartige Erscheinung hatte er noch nie zuvor gesehen. Dunkle Haut, nicht rußig, nein, eine schwarze Haut, kurze, gekräuselte Haare.

»Dein Bruder ist von uns gegangen.«

Jetzt erkannte Michail, wer da vor ihm stand, wer zu ihm sprach. Es war nicht der Tod. Nein! Es war ein Farbiger. Er hatte schon Bilder von Schwarzen gesehen, war aber noch nie einem begegnet. Er wollte Fragen stellen, doch dazu hätte er atmen müssen. Der Farbige griff zur Maske und legte sie Michail wieder an.

»Pjotr!«, flüsterte Michail verzweifelt in den Luftfilter hinein.

»Dein Bruder ist längst bei uns. Und du wirst ihm folgen.«

»Wer bist du? Was machst du hier?«, fragte Michail, indes all die Schreie seiner Kameraden – ja, der ganze Krieg um ihn herum in weite Ferne gerückt schienen. »Was meinst du damit, mein Bruder ist bei euch? Er ist doch hier. Bist du einer von uns?«

»Ich bin einer von euch. Der eine, der zurückkehren wird, um die Worte Throns zu verkünden.«

Michail verstand nicht. Zwar hörte er die Worte klar und deutlich, so als ob er mit diesem Fremden allein in einem Zimmer sitzen würde, doch er begriff deren Inhalt nicht. »Zurückgekehrt? Aber mein Bruder – Pjotr.«

»Michail, du bist einer der Engel. Und du wirst künftig auf meiner Seite stehen! Deine Seele ist rein. Deute die Zeichen.«

»Welche Zeichen?«

Noch bevor Michail weitere Fragen stellen konnte, lief der Farbige an ihm vorbei durch den Schützengraben, bis der Rauch seine Silhouette verschlang. Michail legte sich völlig entkräftet neben den toten Bruder, zu seinen toten Kameraden. Dann verlor auch er das Bewusstsein.

Kapitel 10: Die Erscheinung

Washington, D. C., Dezember 2015

Lea war am Tisch noch während des Mittagessens eingeschlafen. Die frische Luft des Vormittags hatte offenkundig ihr Übriges getan. Marc trug seine Tochter vorsichtig in den ersten Stock und legte sie ins Beistellbett, welches Sandra im Gästezimmer aufgestellt hatte. Dann schloss er leise die Tür und ging wieder hinunter. Der Truthahn, den Sandra schon tags zuvor zubereitet hatte, war gerade mal zur Hälfte verzehrt, doch alle in der Familie stöhnten ihrer vollen Bäuche wegen.

»Wollen wir noch einen Spaziergang machen?«, fragte Sandra, während sie gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Olivia die Teller in die Küche trug.

»Geht ihr ruhig«, meinte Janette, »ich bleibe solange hier, bis Lea wieder aufgewacht ist.«

»Soll ich bei dir bleiben?«, fragte Marc seine Frau.

»Nicht nötig, ich leiste Lea Gesellschaft. Ein Mittagsschläfchen kommt mir gerade recht.« Janette gab Marc einen Kuss auf die Wange, danach folgte sie Sandra in die Küche. »Los, Schwägerin, mach dich fertig zum Familienlauf. Ich räum das Geschirr in den Spüler und mache sauber.«

»Willst du sicher nicht mitkommen?«, fragte Sandra ein weiteres Mal.

»Einer muss auf Lea aufpassen. Ich lege mich nachher zu ihr. Vielleicht jogge ich heute Abend noch eine Runde.«

Zehn Minuten später hörte Janette die Tür ins Schloss fallen, während sie den Rest des Mittagessens in der Küche verstaute. Nachdem sie fertig war, machte sie sich auf den Weg ins obere Stockwerk zu ihrer schlafenden Lea. Gerade in dem Augenblick, da sie den Treppenabsatz des Foyers erreichte, hörte sie den Schrei der Tochter. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete sie die Treppe nach oben in Richtung des Gästezimmers. Als sie die Tür aufriss, kniete Lea mit der über die Nase gezogenen Schlafdecke im Beistellbett.

»Was ist denn los, Liebes? Hast du schlecht geträumt?«

»Mama, ein Mann!«

Janette blickte sich im Zimmer um. »Da ist niemand. Wo ist er denn hin?«

»Weg, Mami.«

»Du hast unschön geträumt, mein Schatz. Komm zu mir.« Janette setzte sich auf die Bettkante und Lea legte ihr verängstigtes Gesicht in den Schoß der Mutter. »Ich träume auch manchmal Dinge, weißt du. Und dann erschrecke ich mich ebenso arg. Aber es sind zuletzt nur Träume und sobald du aufwachst, ist alles wieder gut.«

»War da, Mami.«

»Wie hat er denn ausgesehen, dein fremder Besuch?«

»Schmutzig.«

»Schmutzig?«, fragte Janette.

Lea nickte.

»Sicher hast du das geträumt. Jetzt leg dich wieder hin, Mami schläft auch ein wenig. Magst du zu mir ins Bett? Dann können wir kuscheln.«

Lea rannte erleichtert durchs Zimmer und machte einen Satz ins große Doppelbett. Lachend folgte Janette ihr. Wie rasch ihre Tochter doch die Angst vergaß und wieder unbeschwert war. Wenige Schritte vor dem Bett hielt sie inne, als ihr Blick auf den rosafarbenen Teppich fiel. Im ersten Moment dachte sie, Lea hätte etwas liegen lassen, doch dann erkannte sie die schlammigen Abdrücke einer … einer Stiefelsohle. Sie erschrak. Wie ein Blitz durchfuhr sie ein Gefühl von Furcht! Hektisch blickte sich Janette im Zimmer um, sah weiter nichts Außergewöhnliches, doch panische Angst hatte sie ergriffen.

»Lea, komm, komm schnell! Wir gehen nach unten und suchen die anderen.«

»Mami, kuscheln!«, protestierte Lea.

»Wir kuscheln später, Schatz. Jetzt komm!« Sie riss Lea aus dem Bett, drängte aus der Tür und stieß diese mit ihrem Fuß krachend ins Schloss.

»Mami!«

»Keine Angst, ich habe vergessen, dass ich Daddy versprochen habe nachzukommen, wenn du wach bist.«

Während sie mit Lea auf dem Arm ins Erdgeschoss eilte, wirbelte ihr Kopf aufgeregt von einer Seite zur anderen in der Befürchtung, jeden Moment würde ein Fremder ums Eck treten. Panisch durchquerte sie mit Lea das Foyer, hin zur Haustür.

»Schuhe?«, fragte Lea.

»Es ist warm draußen.«

Tatsächlich hatte der Spätnachmittag frühlingshafte Temperaturen, dennoch wunderte sich Lea, dass ihre Mutter in Strümpfen die Auffahrt hinunterrannte. »Marc, Sandra!«, rief Janette laut. Sie waren fünfzig Meter vom Haus entfernt, als sie von Weitem Marcs Stimme hörte – dann sah sie ihn am Ende der Zufahrt. Elias war im Rollstuhl neben Marc. Als dieser seine Frau ohne Schuhe herunterstürmen sah, lief er ihr eilig entgegen.

»Was ist denn los, Liebes?« Marc nahm Janette die Tochter ab und streichelte über deren Haar.

»Schlecht geträumt, Daddy.«

Erstaunt sah Marc seine Frau an. »Was ist passiert?«

»Nicht jetzt, Marc, komm bitte mit hoch. Bitte.«

Währenddessen fand sich der Rest der Gruppe ebenfalls ein. »Ist etwas?«, wollte Fredrik wissen.

»Lea hat schlecht geträumt.« Marc zuckte unwissend die Schultern, legte den Arm um Janette und spürte, wie sie zitterte.

Nachdem sie im Haus angekommen waren, nahm Rachel Lea bei der Hand. »Komm, wir zwei gehen in die Küche und sehen nach dem Kuchen. Da kannst du mir sicher helfen, oder?« Lea grinste und tapste Rachel hinterher. Der Rest ging ins Wohnzimmer.

»So, und nun erzähl«, begann Marc, während er fragend seine Frau ansah.

»Also, ich war gerade auf dem Weg nach oben, als ich Lea schreien hörte. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und hat mir von ihrem Traum erzählt. Ein Mann sei da gewesen.« Janette blickte ängstlich zu Sandra.

»Ich glaube, wir können jetzt alle einen Scotch vertragen, was meint ihr?«, fragte Fredrik dazwischen.

»Warum warst du dann so aufgeregt, wenn es doch nur ein Traum war?« Marc grinste.

Janette blickte zu Boden. »Der Mann war schmutzig.«

»Sicher«, schmunzelte Marc, »und er hatte eine rote lange Nase im Gesicht.«

»Nein, Lea sagte, er war schmutzig!«

»Dann schmutzig, ohne Nase.«

»Marc, das ist nicht lustig! Als ich neben dem Bett stand, fand ich dort schlammige Abdrücke auf dem Teppich, wie von Stiefeln. Der Schlamm war noch feucht!«

»Abdrücke meinst du?« Marc wurde von einer Sekunde auf die andere ernst. »Du glaubst, es war jemand im Haus? Dad, komm mit, ihr anderen bleibt hier.«

Marc und Fredrik eilten die Stufen nach oben, hin zum Gästezimmer. Nachdem sie eingetreten waren, betrachteten sie den braunen Matsch, der eindeutig von Sohlen eines großen Schuhs stammte. Marc kniete nieder und befühlte die Erde. Sie war feucht und kalt.

»Es muss jemand hier gewesen sein. Dad, sieh nach den Fenstern.«

Fredrik prüfte jedes einzelne, doch sie waren allesamt verschlossen.

»Sieh in den übrigen Zimmern nach, ich gehe nach unten.« Marc rannte die Treppe hinab und vergewisserte sich, dass alle Fenster im Erdgeschoss verriegelt waren. In der Küche zwinkerte er Rachel und Lea zu, dann kontrollierte er die Hintertür, die in den Garten führte. Auch sie war abgesperrt, der Schlüssel steckte von innen.

»Dad, Kuchen«, gluckste Lea.

»Ja, Maus, toll.«

Rachel spürte, dass etwas nicht stimmte, fragte dennoch im Beisein der kleinen Lea nicht weiter nach.

Im Foyer traf Marc seinen Vater, der die Treppe herunterkam. »Alles in Ordnung. Es ist niemand da.«

Gespannte Blicke lasteten auf ihnen, als sie ins Wohnzimmer traten. »Habt ihr die Abdrücke gesehen?« Marc nickte.

Sandra wurde leichenblass. »Es war also jemand hier?«, flüsterte sie, blickte zu ihrer Tochter Meira, die auf der Babydecke krabbelte, und presste sich das Sofakissen an den Bauch.

»Das wissen wir nicht, aber die Abdrücke scheinen frisch.«

»Was machen wir jetzt?«, fragte Olivia.

»Ich rufe die Polizei.« Fredrik ging entschlossen zum Telefon und wählte die Nummer der USCP. »Hier Fredrik Haskins. Wir sind im Haus meiner Schwiegertochter. So wie es aussieht, wurde soeben eingebrochen. – Nein, es ist niemand mehr im Haus, also niemand Fremdes.« Fredrik diktierte die Adresse, dann legte er auf.

Fünfzehn Minuten später hielt ein Streifenwagen in der Auffahrt. Zwei Officer begrüßten freundlich die Anwesenden mit einem »Merry Christmas«, um sich anschließend in allen Einzelheiten die Geschichte von Janette schildern zu lassen. Wenig später führten Marc und Fredrik die Beamten ins obere Stockwerk.

»Seltsam.« Der Sheriff strich mit dem Finger über den Abdruck. »Ist klamm, Ed. Wie kommt jemand mit feuchten Schuhen bis hier nach oben? Heute hat es weder geregnet noch … Haben Sie im Garten oder vor dem Haus gegossen?«

»Nein, wir sind seit gestern hier. Es ist alles trocken«, gab Marc Auskunft.

»Und Sie sind sicher, dass sämtliche Fenster wie auch Türen verschlossen waren?«

»Wir haben alles geprüft, Officer«, erwiderte Fredrik.

»Der Schuhabdruck ist nur hier am Bett. Keine weiteren am Eingang oder an den Fenstern«, meinte Eds Partner. »Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir uns nochmals umsehen? Wird nicht lange dauern, Sir.«

»Ich bitte darum«, sagte Fredrik ernst und folgte den Polizisten nach draußen.

Die beiden Cops besahen Raum für Raum der Villa. Als einer der Beamten in der Küche anlangte, wimmelte Rachel ihn rasch an der Tür ab und versicherte, dass nichts, schon gar nichts in der Küche zu entdecken sei. Die resolute Dame machte dem Polizisten mit einem Kopfnicken ins Rauminnere klar, dass sie die kleine Lea nicht verängstigen wollte.

Nach zwanzig Minuten kamen die Beamten zu dem Ergebnis: »Alles okay im Haus. Wir konnten nichts feststellen. Weder Einbruchsspuren noch sonstige Hinweise. Könnte es sein, dass Ihre Tochter …«

»… Schuhgröße 48 hat? Sicher nicht«, unterbrach Janette schnippisch, der die Situation immer unheimlicher wurde.

»Gut, wir werden verstärkt Streife um Ihr Grundstück fahren, Ma’am. Bitte prüfen Sie, ob irgendetwas fehlt. Wenn etwas sein sollte, rufen Sie diese Nummer an.« Der Officer legte ein Kärtchen auf den Couchtisch. Danach verabschiedeten sich die Beamten und ließen ihren Wagen langsam die Zufahrt hinunterrollen.

 

Wenig später schien sich die Aufregung ein wenig gelegt zu haben und so trug Rachel, Lea an ihrer Seite, den Schokoladenkuchen ins Wohnzimmer. Doch außer Lea hatte niemand in der Familie rechten Appetit.