Chris Owen - Die Wiedergeburt

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Kapitel 4: Vorbereitung auf das Familienfest







Washington, D.C., Dezember 2015





Marc Haskins besuchte mit seiner Frau Janette und Tochter Lea seine Schwägerin Sandra. Diese bewohnte mit ihrer einjährigen Tochter Meira, ihrem Bruder Elias und ihrer Mutter Rachel eine imposante Villa in Washington, D.C. Gemeinsam hatten sie beschlossen, das Weihnachtsfest im Kreise der Familie zu verbringen. Das erste Weihnachten nach Stephens Tod.



Eine große, bunt geschmückte Tanne stand bereits inmitten des Wohnzimmers. Ebenso waren die Auffahrt wie auch sämtliche Fenster der Villa mit farbigen Lichterketten verziert. Im Dunkeln erinnerte das Anwesen an Disneyland.



»Wann wollen Mom und Dad kommen?«, fragte Marc.



»Morgen, gegen Mittag«, antwortete Sandra, die soeben eine Flasche selbst angerührten Eierlikörs öffnete.



»Wie geht es dir?«, fragte Marcs Frau Janette zaghaft.



»Ich vermisse Stephen, aber Meira und er hier«, Sandra deutete auf ihren Bauch, dem man allerdings kaum etwas ansah, »bringen mich immer wieder auf andere Gedanken.«



»In welchem Monat bist du jetzt?«, wollte Janette wissen.



»Ende des zweiten«, antwortete Sandra voller Stolz mit einem strahlenden Lächeln. Dabei blitzten die schneeweißen Zähne der Afroamerikanerin.



»Na, dann werden wir im Sommer mächtig was zu feiern haben«, freute sich Marc, während Janette verwundert die Stirn runzelte.



Lea kam laut lachend hereingestürmt und hätte beinahe ihren Onkel Elias in dessen Rollstuhl umgerannt. Hinter Lea schnaufte Oma Rachel, der bei dem Tempo, in dem sie das kleine Mädchen verfolgte, die Luft ausging.



»Erste«, rief Lea überglücklich und ließ sich auf die Couch fallen.



»Was machst du, wenn das Kind da ist?«, fragte Janette ihre Schwägerin.



»Es lieben, Janette, wie Meira, abgöttisch lieben. Mache ich jetzt schon. Stephen wäre so stolz darauf gewesen. Und dann sind ja noch Rachel und Elias da, die mir helfen können. Und ihr, hoffe ich.« Sandra grinste.



»Da kannst du Gift drauf nehmen. Sobald der Nachwuchs laufen kann, nehmen wir ihn mit ins Fitnessstudio, oder, Elias?« Marc lachte seinen dunkelhäutigen Schwager und Geschäftspartner des eigenen Sportstudios an.



»Klar«, prustete dieser, »wird sicher die oder der jüngste Bodybuilder unseres Landes. Sandra, stell dir nur vor, mit drei Jahren ebenso durchtrainiert und muskulös wie Schwarzenegger.« Elias hob den Arm und deutete auf seinen Bizeps.



»Untersteht euch, ihr Irren. Nichts dergleichen. Ihr könnt babysitten, Talkshows schauen und dabei Chips essen.«



»Das ist doch eher was für euch Frauen«, lachte Marc.



Als es dämmerte, wurde Lea zu Bett gebracht, Meira schlief bereits in ihrem Zimmer. Der Rest der Familie verbrachte den Abend im Wohnzimmer; man saß auf dem Sofa, knabberte Plätzchen, trank Weißwein und unterhielt sich.



»Ich habe das Gefühl, Lea hat sich gut von den Geschehnissen erholt«, mutmaßte Rachel an Janette gewandt. »Sie macht einen so fröhlichen und ungezwungenen Eindruck.«



»Ja, zum Glück. Ihr Psychologe, Professor Collins, meint auch, sie habe den Anschlag in der Kirche extrem gut verkraftet. Dem natürlichen Verdrängungsmechanismus ihres Alters geschuldet, folgert er. Das Problem ist nur, dass man schwer einschätzen kann, ob in späteren Jahren ein Rückfall kommt.« Janettes Worte klangen besorgt.



»Sei froh, Schatz, dass es so ist, wie es ist. Hätte viel schlimmer kommen können«, beruhigte Marc sie beiläufig, während er aufstand. Unterdessen platzierte Elias seinen Rollstuhl etwas abseits und sah fern. »Und, ziehst du dir Weihnachtsfilme rein?« Marc ließ sich in den Sessel neben Elias’ Rollstuhl plumpsen.



»Nein, eben liefen noch die Nachrichten. Es ist wirklich deprimierend. Wir feiern Weihnachten, während überall um uns herum Terror und Kriege toben.«



Marc zuckte merklich, da ihn Elias’ Worte an das Attentat in der Kirche von Charleston erinnerten, jenes grauenvolle Ereignis, bei dem sein Bruder Stephen ums Leben gekommen war. Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Selbstschutz!



»Hey, jetzt lass dich nicht so runterziehen! Alter, es ist Weihnachten.«



»Mach ich schon nicht, aber es kotzt mich echt an, das alles zu sehen. Kinder, Frauen, Schwangere, Männer jeden Alters auf der Flucht. Millionen, die ihr Land verlassen, und unsere Truppen sind mittendrin.«



»Doch lieber ein Weihnachtsfilm?«, schlug Marc vor, als seine Hand auf die Schulter des Schwagers sank.



»Hast ja recht, auf Kanal 19 kommt

Das Wunder von Manhattan



Genau, die Dialoge kann ich schon mitsprechen, sann Marc.







Kapitel 5: Der Schwarze Reiter







Changchun, Nordosten Chinas, 1875





Tian rannte neben seiner kleinen Schwester Lien zwischen den Buden des Marktplatzes, während sie einen Heidenspaß hatten, mit ihren Köpfen gegen die an Schnüren befestigten bunten Seidenschals zu springen. Aufgeregte Beschimpfungen der Budenbesitzer brachten sie noch lauter zum Lachen. Der große Markt war überdacht durch endlos gespannte Decken und Tücher, die angenehmen Schatten spendeten.



»Komm rüber, Lien. Dort hinten ist der Stand.«



Sie bogen in eine kleine Gasse und von Weitem roch man – neben den süßlichen Aromen der Gewürze, der Teesorten, des Obstes und Gemüses – den ekligen Gestank von ungekühlt liegendem Fisch und Fleisch.



»Ihhh, Tian, das stinkt! Müssen wir da wirklich hin?«



»Mutter hat uns Geld dafür gegeben und wenn wir ohne das Huhn heimkommen, reißt sie mir den Kopf ab.« Tian legte beide Hände seitlich an seinen Kopf und zog daran. Dabei verdrehte er die Augen und streckte die Zunge heraus.



Lien prustete vor Lachen. »Aber du trägst das Huhn. Ich fass es nicht an!«



Direkt vor dem Verkaufsstand angekommen, lief zwischen ihren nackten Füßen ein Rinnsal aus Wasser, vermischt mit dem Blut ausgenommener Tiere.



»Sieh mal, Tian, die Fliegen.«



Etwas nach hinten gerückt, befand sich eine offene Tonne, gefüllt mit Innereien und abgetrennten Fischköpfen, um die Tausende von Insekten wild herumschwirrten. Ein kleiner weißhaariger Chinese schnitt gerade mit flinker Messerführung einem Fisch den Bauch auf und zerrte Herz, Lunge und Darm heraus. Dabei betrachtete er lächelnd die beiden Kinder, die, halb staunend, halb sich ekelnd, vor ihm standen. »Na, Tian, was soll’s denn sein? Wieder Fischköpfe für die Suppe?« Die langen, wie Flusen herabhängenden weißen Barthaare zu beiden Seiten seiner Lippen tanzten, während er sprach.



»Ja, und ein Huhn. Schön fett, hat Mutter gesagt.«



Lien stieß ihren Bruder in die Seite, denn von den Fischköpfen hatte er nichts verraten. Sie hasste Fischsuppe. Zwar schmeckte diese, doch es würgte sie bei der Vorstellung, dass Köpfe mit Augen und Kiemen in der Flüssigkeit schwammen, die sie essen sollte.



»Gibt’s denn was zu feiern?«, wollte der Alte wissen.



»Unser Onkel aus Shenyang kommt zu Besuch.«



»Ahhh, der Onkel. Da muss sicher ein großes Huhn her. Sieh dir dieses an. Fett und gerupft.« Er nahm von einer seitlich angebrachten Stange eine Henne vom Haken, indem er das Hakenende aus dem gestreckten Hals des Tieres zog. Flink wickelte er den Vogel in braunes Papier und legte ihn zur Seite. »Wie viele Fischköpfe will deine Mutter?«



»Sechs, hat sie gesagt.«



Ohne zu zögern, tauchte der Weißhaarige mit seinen knorrigen Fingern durch den Schwarm Fliegen hindurch in die Tonne und legte einen abgetrennten Kopf nach dem anderen auf ein weiteres braunes Papier. »Dann sagt eurer Mutter einen Gruß von mir.« Er reichte ihnen die beiden Pakete und Lien war bedacht, das Huhn zu greifen. Eh schon eklig genug!



Tian wühlte die Käsch aus seiner Hosentasche und bezahlte den Händler. Der Alte lächelte, griff nach der Hand von Tian und legte einen der Kupfer-Käsch zurück. Blinzelnd flüsterte er: »Nicht verraten.«



Freudestrahlend zeigte Tian seiner Schwester den Käsch, als sie um die Ecke bogen. Jetzt konnten sie auf dem Markt noch jene Plätzchen kaufen, die zuckersüß nach Honig schmeckten.



Yazhen, der Fisch- und Fleischhändler, hatte bereits als kleiner Junge an diesem Stand geholfen und führte, nachdem sein Vater verstorben war, die Tradition des Händlers fort. Es war ein geruhsames Leben, das nun schon über siebzig Jahre währte. Zur Morgendämmerung begann er, die gelieferten Fische auszunehmen und die gerupften Hühner sowie anderes Getier appetitlich zu präsentieren. Appetitlich hieß in diesem Zusammenhang, es auf einen Haken zu hängen oder frisch auf dem Standtisch zu platzieren. Andere Tiere, wie Shrimps, Seeschlangen oder Krebse, aber auch Algen, lagerten in Fässern. Nach hinten war die Marktbude durch einen bunten Vorhang abgetrennt. Von außen nicht zu sehen, befanden sich dort eine kleine Feuerstelle sowie ein Bastteppich.



Hier genoss es Yazhen, nach getaner Arbeit des Morgens den ersten Tee aufzugießen. Er schmunzelte zufrieden, bereits vor Beginn des eigentlichen Markttreibens ein Huhn verkauft zu haben, als er den Vorhang zur Seite schob. Zu seiner Verwunderung saß im Hinterzimmer ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet, den Blick auf den Boden gerichtet.



»Was machen Sie hier? Wer sind Sie?«, fragte Yazhen verwundert, gleichermaßen ängstlich, denn es wäre ihm doch aufgefallen, hätte jemand den Privatraum betreten.



Ohne aufzublicken, wies der Fremde Yazhen mit einer Handbewegung an, sich zu setzen. Zögernd kniete sich der Händler gegenüber dem schwarz Bekleideten auf den Bastteppich.

 



»Was wollen Sie hier?«



»Du bist ein alter Mann, Yazhen. Ohne Kinder, ohne Familie. Und du bist reinen Glaubens«, antwortete der Fremde frei jeder Betonung und jedes Akzentes.



»Woher kennen Sie meinen Namen? Ich kenne Sie nicht!«



Jetzt hob der Fremde den Kopf – gerade so weit, dass Yazhen in dessen Augen blicken konnte. Es waren dunkle, kalte Augen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Yazhens Unwohlsein wich der Panik, die in ihm hochstieg.



»Die Zeit ist gekommen. Es hat begonnen.«



Von der eisigen Musterung des Fremden schien Yazhen wie gelähmt. »Welche Zeit?«



»Deine und die der Menschen.«



Tiefgläubig ahnte Yazhen plötzlich, wer da vor ihm saß. Doch – war dies möglich?



Mit zittriger Stimme flüsterte der Chinese: »Bist du der Tod?«



Der Fremde senkte wieder den Kopf. »Fürchtest du dich vor dem Tod, Yazhen?«



Fürchten?, dachte dieser. Mehr als das! Die Panik ließ ihn am ganzen Körper zittern, wodurch er außerstande war, auf die Frage eine Antwort zu geben. Imaginäre Hände umschlangen seine Kehle und drückten zu.



»Nein, ich bin nicht der Tod, den du fürchtest. Ich bin einer der Tode, welche die Menschheit zu fürchten hat. Und du wirst mein Zeuge sein. Mein Zeuge vor Thron, dass ich das Siegel gebrochen habe.« Kaum hatte der Unbekannte die Worte gesprochen, zog er eine Schriftrolle hervor, die durch ein rotes Kerzensiegel zusammengehalten wurde.



»Was ist das?«, krächzte der Chinese, während Tränen in seinen dünnen, ausgeblichenen Bart sickerten.



»Sieh, wie ich das Siegel breche; der Schwarze Engel, der Schwarze Reiter, jener, der euch hungern lässt!«



Gebannt blickten die schlitzförmigen Augen auf die Hände des Mannes, als das Siegel brach. Nur Yazhen konnte das Donnern vernehmen, als Bruchstücke des roten Kerzenwachses auf den Bastteppich fielen. Beide Hände an die Ohren gepresst, begann Yazhen laut zu schreien. Doch niemand hörte ihn.



Es dauerte nicht lange, bis sich Kunden bei Xia über den üblen Gestank am Nebenstand beschwerten und nach Yazhen fragten. Also beschloss sie nachzusehen. Nicht, dass der Alte über seinem Tee eingeschlafen war.



»Yazhen, bist du da?«



Xia schlug vergebens mit den Händen, um Tausende Mücken zu vertreiben, die sich an verwesten Hühnerkadavern, stinkendem Fisch sowie an undefinierbaren, mit Schimmel überzogenen Schleimmassen der Tonnen labten. Stechender, verwesender Geruch umgab Xia, was sie die Linke vor die Nase halten ließ. Schwungvoll warf sie den Vorhang zur Seite, als ihr Herzschlag für Sekunden aussetzte. Sobald sie begriff, begann sie zu wimmern. Das Wimmern mündete in lautes Schreien und wenige Augenblicke später säumten viele Neugierige mit Tüchern vor den Nasen den Stand von Yazhen. Dieser kniete aufrecht am Boden, beide Hände an die Ohren gepresst, Mund und Augen weit aufgerissen. Aber war es tatsächlich Yazhen, der da mysteriös kauerte? Das Gesicht, der ganze Körper waren ausgezehrt – nur eine graufahle Haut überzog sein Gerippe und glich der einer ausgedörrten Mumie. Die hervorgetretenen Wangenknochen ließen die aufgerissenen Augen groß und ängstlich erscheinen. Gegenüber von Yazhen staubte ein noch glimmender Aschehaufen.







Kapitel 6: Besuch am Grab







Washington, D. C., Dezember 2015





Schon zeitig am Morgen standen Fredrik und Olivia an der Tür. Sandra öffnete mit Meira auf dem Arm ihren Schwiegereltern und nach den Begrüßungsküsschen gingen sie zu viert in die Küche.



»Die anderen schlafen noch. Wollt ihr vorab einen Kaffee?«



»Danke, Sandra. Ich hoffe, wir sind nicht zu früh?«, fragte Olivia etwas unsicher.



»Nein, nein, gar nicht, dann haben wir was vom Tag. Ihr könnt gleich mit dem Frühstück helfen. Fredrik, holst du bitte den Karton Orangen aus der Speisekammer und presst sie aus?«



Fredrik lief zur seitlichen Kammer, während Olivia lächelnd Sandra betrachtete. »Du siehst gut aus.«



»Es geht mir auch gut, Olivia.«



»Keine Übelkeit durch die Schwangerschaft?«



»Nichts dergleichen, mir geht es richtig blendend. Nächste Woche bin ich wieder zur Voruntersuchung – scheint alles in bester Ordnung zu sein.«



»Wunderbar. Wir freuen uns schon so auf den Nachwuchs.«



»Und wie«, lachte nun Fredrik, während er begann, die Orangen in zwei Hälften zu schneiden.



»Marc und Janette werden sicher auch gleich kommen. Denke nicht, dass Lea sie lange schlafen lässt – ach, wenn man vom Teufel spricht.«



»Morgen Mom, Dad.« Marc kam ums Eck gebogen, nur in Shirt und Boxershorts bekleidet, die blonden Haare vom Schlaf zerzaust. Er drückte seiner Mutter Olivia einen flüchtigen Kuss auf die Wange und fragte: »Wie spät ist es?«



»Kurz nach acht«, antwortete Sandra mit einem Nicken zur Küchenuhr.



»Ihr seid zeitig dran, was, Mom?«



»Na, wir wollten nichts verpassen und wussten nicht so recht, wann ihr frühstückt.«



»Jetzt wissen wir’s«, schmunzelte Fredrik, die Hand an der Fruchtpresse.



»Janette wird auch gleich hier sein. Macht gerade Lea fertig.«



»Wie geht es Lea?«, fragte Olivia ihren Sohn.



»Gut so weit. Professor Collins meint, dass sie alles sehr gut wegsteckt.«



»Wann fahren wir zum Grab?«, unterbrach Fredrik.



»Ich dachte, gleich nach dem Frühstück. Da ist die Luft noch schön kühl und rein. Anschließend sind wir mit dem Mittagessen beschäftigt und heute Abend werden wir zu tun haben, Lea ins Bett zu bringen.«



Kurz nach zehn Uhr standen alle angezogen im Foyer. Auf zwei Jeeps verteilt fuhren sie zum Nationalfriedhof Arlington, der unweit des Weißen Hauses auf der gegenüberliegenden Seite des Potomac Rivers lag. Der Tag war sonnig, die Luft so, wie Sandra versprochen hatte: klar und kühl.



Als sie vor dem gewichtigen Grabstein aus Marmor standen, betrachteten sie dessen Inschrift.





Chris Owen







* geboren am 30. Mai 1984 † gestorben am 17. Juni 2014





Sie hatten bewusst nicht Stephens Namen gewählt, um zu verhindern, dass seine letzte Ruhestätte zum Pilgerort wird.



Stephen Haskins, alias Chris Owen, wurde in einem Atemzug mit Martin Luther King genannt, nachdem er 2012 in einem landesweit verfolgten Prozess als Anwalt jenen weißen Polizisten vertrat, der einem Schwarzen während einer routinemäßigen Fahrzeugkontrolle acht Kugeln in den Rücken schoss. In monatelangen Verhandlungsmarathons gelang es Stephen Haskins als Verteidiger zunächst, alle Annahmen zu zerstreuen, die die Schuld seines weißen Mandanten nahelegten. Er hatte die Jury aus zwölf Geschworenen bereits auf seiner Seite, als er plötzlich – mitten in seinem Schlussplädoyer – das Blatt wendete.



Seine Rede vor Gericht dauerte gerade einmal dreißig Minuten. Danach war allen im Gerichtssaal, im ganzen Lande bewusst, dass er Geschichte geschrieben und den schwarzen Menschen weit über die Vereinigten Staaten hinaus zu ihrem Recht verholfen hatte. Zwar entzog man ihm den Fall, doch über Nacht war er zum Symbol der Farbigen geworden, weit über die Landesgrenzen der USA hinaus.



Zeitgleich mit der erlangten Berühmtheit wurde er Feind Nummer eins aller Rassisten, die ihm nach dem Leben trachteten. Zum Schutz seiner Person, seines Lebens, änderte das FBI seine Identität: Aus Stephen Haskins wurde Chris Owen. Als Weißer geboren, zu einem Schwarzen mutiert, starb Stephen Haskins, alias Chris Owen, durch ein Attentat in der Mother Emanuel African Methodist Episcopal Church in Charleston.



Schon von Weitem war ihnen der imposante Baum am Grab aufgefallen und Fredrik war der Erste, der nun danach fragte: »Hast du diesen Baum gepflanzt? Der ist ja riesig.« Fredrik blickte zu Sandra, die an Meiras Kinderwagen stand.



»Nein, ich dachte bis jetzt, ihr hättet ihn hier einpflanzen lassen.«



»Schöner Baum«, meinte Marc, »aber von uns ist er auch nicht.« Marc lief um den Grabstein herum. »Man könnte meinen, er steht schon immer da. Der Stamm hat mindestens einen halben Meter Durchmesser.«



Kaum hatte Marc die Worte ausgesprochen, als eine Schar Sperlinge aus der Baumkrone aufwirbelte und im quirligen Durcheinander in die Höhe flog. Etwas erschrocken sahen alle den Vögeln nach.



»Ich werde mich gleich nach den Feiertagen bei der Friedhofsverwaltung informieren. Seltsam, dass man es überhaupt zulässt, so ein ausladendes Gewächs auf diesem Friedhof und dann noch direkt an einen Grabstein zu pflanzen«, meinte Fredrik.



Sandra legte den mitgebrachten Kranz ab, hob den roten gläsernen Windschutz an der Grablampe hoch und zündete die darunter angebrachte Kerze an. »Frohe Weihnachten, Stephen.« Ihre Augen wurden feucht. »Autsch.« Sandra bückte sich leicht und hielt den Bauch.



»Was ist los, Kind?«, fragte Olivia besorgt und ging einen Schritt auf ihre Schwiegertochter zu.



»Nichts weiter, aber gerade hat es in meinem Bauch getreten.«



»Das wäre aber früh, so Anfang des dritten Monats«, orakelte Janette. »Geht es dir wirklich gut?«



»Ja, ja, ist nichts. Aber schon seltsam. Da bin ich gespannt, was meine Frauenärztin bei der Voruntersuchung sagt. Wenn es jetzt schon tritt! Das kann ja was werden!«



Janette betrachtete Sandra im Versuch sich zu erinnern, wann sie das erste Mal Lea im Bauch gespürt hatte. Das musste im vierten oder fünften Monat gewesen sein.



Sie standen weitere Minuten schweigend am Grab und gedachten Stephens. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach – durchweg waren sie liebevoll, geprägt von Stolz und Trauer.



»So, wenn wir den Braten heute noch essen wollen, sollten wir uns wieder auf den Weg machen«, meinte Sandra und rief zum Aufbruch.







Kapitel 7: Der Missionar







Changchun, Nordosten Chinas, 1878





William Lockhart lief durch die Straßen Changchuns; der Schweiß rann ihm in die Augen, während die Sonne unerbittlich die Luft zum Glühen brachte. Es roch bestialisch nach verwestem Fleisch, doch nicht der Gestank verschlug ihm den Atem – nein, es war der Anblick des Grauens, das sich seinem Auge entsetzlich real darbot. Ausgemergelte Leiber lagen in den Gassen, doch niemand schien sich darum zu kümmern. Kinder, Greise, Männer, Frauen – alle waren sie davon betroffen. Gerade als er dachte, er habe in seinem Leben noch nie derart schwer zu Ertragendes gesehen, schreckten ihn Schreie auf. Sie drangen aus dem gegenüberliegenden Haus. Ohne weiter darüber nachzudenken, überquerte er raschen Schrittes die Straße und betrat die Türschwelle.



Im Inneren fand er eine Frau vor, deren Alter er aufgrund des abgemagerten Körpers nicht schätzen konnte. Sie kniete vor einem Bett, in dem ein Mädchen lag. Die Wangenknochen des Kindes ragten hervor, der geöffnete Mund ließ wenige, von Fäulnis befallene Zähne erkennen. Die Augen der Kleinen waren geschlossen. Hinter der wimmernden Frau stand ein gebeugter Mann mit schütterem Haar, dessen hängende Hose dünne, knöchrige Beine vermuten ließ.



»Nicht Lien, nicht meine Lien«, schluchzte die Frau und stieß die Hand, welche der Mann ihr besänftigend auf die Schulter legte, von sich. Der Magere wandte sich daraufhin ab, war im Begriff, auf einen Holzschemel zu sinken, als er den Missionar Lockhart an der Tür erblickte. »Wer sind Sie?«, fragte er und sowohl sein Blick als auch seine Stimme waren gebrochen.



»Mein Name ist William. Ich habe Schreie gehört und dachte …«



»Was wollen Sie?«



Im ersten Moment wusste Lockhart nicht, was er antworten sollte. Er war aufgebrochen, nachdem in England die Gerüchte blühten, die seit zwei Jahren anhaltende Dürre in China hätte eine Hungersnot unermesslichen Ausmaßes ausgelöst. Da er bereits vierzig Jahre zuvor Guangdong, Macau und Shanghai besucht hatte und maßgeblich an der Errichtung von Krankenhäusern beteiligt gewesen war, wollte er sich trotz seines Alters von 67 Jahren ein eigenes Bild verschaffen. Das, was ihn erwartete, übertraf bei Weitem seine bittersten Albträume. Und jetzt, dieses Kind vor Augen … Er fand keine Worte. Daher trat er schweigend in den Raum und kniete sich neben die Frau. »Lebt sie noch?«



Zwei müde Augen blickten ihn an. Die Frau blieb jedoch stumm. Lockhart beugte sich über das Kind und befühlte vorsichtig die Schlagader am Hals des Mädchens. Seine Fingerspitzen spürten das schwache Pochen unter der vom Fieber glühenden Haut. Ob das Kind schlief oder das Bewusstsein verloren hatte, konnte er nicht ausmachen. Was ihm indes klar wurde, war die Tatsache, dass es ebenso dem Hungertod zum Opfer fallen würde wie Millionen weiterer Chinesen. Er griff zu seiner Feldflasche, benetzte die Lippen der Kleinen und wandte sich anschließend dem Mann zu, dem Vater, der verzweifelt am Tisch saß. »Ich werde wiederkommen und etwas zu essen bringen«, versprach Lockhart im Versuch, die eigene Verzweiflung zu verbergen.

 



Der Chinese sah ihn nur an, dann stand er auf und bedeutete Lockhart, ihm zu folgen. Sie gingen hinaus auf die Straße und der gebeugte Vater lief hinter da