Ein kleines Leben

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„Stellungskrieg vor Kiew 07.08 bis 24.08.1941“ (Kriegsbericht, Karl Krüger, S. 2)

Stadt der Helden

Ich sitze im sogenannten Zentral-Park in Gyumri, der west­lichsten Stadt Armeniens, direkt an der geschlossenen Grenze zur Türkei und schreibe in mein rotes Notizbuch. Es ist schon fast zwei Wochen her, dass ich in der Ukraine war. Ich hatte dort, in einem sowjetisch anmutenden Platten­bauhotel, mit meiner Kollegin Elena ein Training zum Thema Geschichts­aufarbeitung und Oral History gegeben und danach den anschließenden freien Samstag genutzt, um in eigener Sache Nachforschungen anzustellen …

Alexej trifft uns um 8:30 Uhr morgens vor dem zwölfstöckigen Plattenbau in dem Elena wohnt. Eigentlich sollte uns Pawel treffen. Beide, Alexej und Pawel, kenne ich schon von unserem Training. Sie sind Hobby-Historiker und beschäftigen sich mit der Geschichte der Belagerung Kiews im Zweiten Weltkrieg. Leider tun sie dies auf reichlich unkritische Art und Weise: Bei der Exkursion, die wir gemeinsam mit ihnen und den Teil­nehmern des Trainings gemacht hatten, hinterließen sie einen reichlich militaristischen Eindruck. Wir besichtigten mit ihnen den Verteidigungswall, den die Sowjets in den zwanziger Jahren um Kiew gelegt haben, damals noch um eine mögliche Invasion der Polen abzuwehren. Erstmals genutzt wurde diese aus hun­derten kleinen Vier-Mann-Bunkern bestehende Anlage aber im Jahr 1941 gegen die Deutschen. Die einzelnen Bunker nennt man auf Russisch „DOT“, was eine Abkürzung für Долговременная Огневая Точка ist und auf Deutsch in etwa „Langzeit-Feuer-Position“ heißen könnte. Wir besuchen auch das Grab eines unbekannten sowjetischen Soldaten, den Pawel und seine Freunde am Rande der Haupteinfallstraße gefunden hatten.

Aus dem einfachen Grab ist mittlerweile ein farbenfrohes Mahnmal geworden: Als man den Toten ausgrub, kamen die auf der anderen Straßenseite in kleinen Datschen lebenden Anwohner herüber, interessierten sich und ein Dialog zwi­schen ihnen und Pawels Gruppe entstand. Einer von ihnen mauerte einen steinernen Ring um das Grab, ein anderer setzte einen Stein; man beschriftete ihn, pflanzte Blumen und schattenspendende Bäume und begann, sich um das Grab und die Geschichte des dort bestatteten Soldaten zu kümmern.

Der Boden in den westlichen Vororten von Kiew trägt noch immer die Überreste unzähliger noch unentdeckter und nicht identifizierter Toter deutscher und sowjetischer Herkunft. Bei ihren Recherchen zum DOT-System gräbt Pawels Gruppe fast jeden Monat einen von ihnen aus: Ist es ein Deutscher, so verständigen sie die Kriegsgräberfürsorge, die den Gefallenen dann auf einen der großen deutschen Friedhöfe rund um Kiew umbettet. Manchmal kommen die Verwandten des Toten, um dem siebzig Jahre zu späten Begräbnis beizuwohnen, immer öfter kommt aber niemand. Nach dem Grab des unbekannten Soldaten besuchen wir eine Reihe weiterer DOTs, kleine halb in die Erde versenkte Schießstände.

Durch vier dünne Schlitze wurde auf die nahenden deutschen Faschisten aus wassergekühlten Maschinengewehren geschossen. Ein fünfter Mann bediente das Teleskop in der Mitte des ca. 20 Quadratmeter großen Betonwürfels. Zielen konnte man durch die engen Schlitze nicht. Der Teleskop­mann, vielleicht auch eine Frau (!), ordnete nur an, welches der vier MGs zu schießen hatte. Erobert wurden die DOTs über ihre einzige Schwachstelle: das Teleskoprohr. Die Deutschen schlichen sich an, gelangten unter erheblichen Verlusten irgendwie auf das Dach des Bunkers, sprengten den Stahl­deckel des versenkbaren Teleskops ab und warfen ein oder zwei Granaten in die Öffnung. Des ‚Augenlichtes‘ so beraubt wurde das DOT dann gestürmt und von den Eroberern übernommen. Vor einem dieser Bunker hat die Gruppe Schau­tafeln aus bedruckter LKW-Plane aufgestellt. Auf ihnen wird in russischer und ukrainischer Sprache die militär­tech­nische Seite der Anlage erklärt. Darüber hinaus zeigt eine der Tafeln Bilder von deutschen Soldaten, die Pawel oder jemand aus seiner Gruppe aus dem Internet heruntergeladen hat. Auf einem dieser Bilder sieht man deutsche Wehrmachts­angehörige der 71. Infanterie-Division: Sie haben sich vor dem DOT, vor dem auch unsere Gruppe gerade steht, für die Kamera aufgestellt. Der Bunker auf dem Foto ist an mehreren Seiten durch Granateinschläge schwer beschädigt, die Tür ist heraus­gerissen und eine entrückt daliegende Leiche eines Soldaten der Roten Armee liegt etwa 5 Meter vor dem Eingang zum Bunker. Die drei deutschen Soldaten lächeln in die Kamera.

Heute befindet sich dieser Bunker innerhalb einer in der Chrustschow’schen Zeit gebauten Vorstadtsiedlung: Etwa zehn planmäßig angeordnete, mittlerweile halb verfallene zweistö­ckige Mehrfamilienhäuser rahmen den Bunker ein, unmittel­bar neben ihm ein Kinderspielplatz mit Rutsche und Schaukel. Auf einer Bank sitzen die Alten der Siedlung und schauen dem Treiben im und um das DOT zu. Am Ende der Führung, die Pawel mit viel militärhistorischem Wissen anreichert, spielt ein Alter, der wohl zu Pawels Gruppe gehört, selbstgeschriebene und sowjetische Lieder auf dem Schifferklavier.


Spätestens jetzt habe ich gemischte Gefühle, was den Charakter der Exkursion betrifft. Ich stelle mir die Frage, was eigentlich die Ziele und Überzeugungen dieser Hobby-His­toriker sind: Historische Überreste wie diese DOTs, nos­talgische Gesänge, technische Daten über die Schussfähig­keit der Maschinengewehre usw. usf. Aber was erwarte ich eigent­lich von einer solchen Gruppe hier in Kiew, einer Stadt, die sich an ihrem Eingang selbst „Stadt der Helden“ nennt? Und waren es nicht auch Helden, diese Männer und Frauen in der Roten Armee, die Europa vom Faschismus befreiten?

Es ist mitnichten so, dass die Gruppe irgendetwas Nega­tives über die deutschen Soldaten sagt: Ihre Gräueltaten, Babi Jar oder das Massaker in Schytomyr, um nur zwei von Deutschen vor Kiew begangene Großverbrechen zu nennen, werden gar nicht erwähnt. Niemand wirft mir – als Vertreter der deutschen Seite, als der ich hier, ob ich es will oder nicht, zweifelsohne angesehen werde – irgendetwas vor. Ganz im Gegenteil: Die Männer rund um Pawel bewundern die Sol­daten des Weltkriegs. Diese Bewunderung gilt nicht nur den eigenen, sondern auch den deutschen Soldaten, und dies, obwohl Wehrmachtsangehörige und Sondereinheiten auf brutalste Art und Weise mehrere 100.000 Zivilisten abschlach­teten. Der Kern dieser Bewunderung hat, so glaube ich zu­mindest, etwas mit dem Männlichkeitsbild dieser Ukrainer zu tun: Was waren das damals als Mann noch für gute Zeiten, als ein Mann noch ein Mann sein konnte – es Dinge gab, für die es sich zu töten und zu sterben lohnte. Die Jetztzeit mit all ihren verwischten Grenzen und Unklarheiten überfordert sie; sie sehnen sich zurück nach einer – in ihren Augen – einfa­cheren Zeit.

Wir fahren weiter zum letzten DOT unserer Seminar­exkursion: In einem Waldstück, etwa ein Kilometer entfernt von der großen Magistrale, liegt ein weiterer Bunker mit einem langen unterirdischen Gang unter einem künstlich angelegten Hügel. Randalierer haben das Hinweisschild auf DOT Nr. 179 in den Graben geschmissen. Ich mache ein Foto vom selbst­gemachten Schild, ein angenagelter pfeilförmiger Weg­weiser ist mit „DOT 179“ beschriftet, der andere, in die entgegen­gesetzte Richtung zeigend, mit „Zur Frontlinie“. Wir gehen auf eine Lichtung zu, und ich erkenne schon vom Weiten, dass sich mehrere Personen in ungewöhnlicher Klei­dung vor dem Bunkereingang aufhalten. Mein Verdacht erhärtet sich, als ich näherkomme: Dort stehen ein sowje­tischer und ein deutscher Soldat in Originaluniform mit zeittypischer Bewaffnung. Sie empfangen uns mit einem Lachen und laden zu einem Gruppenfoto ein. Ich soll unbedingt den Wehrmachtssoldaten mit Handschlag für ein Erinnerungsfoto begrüßen; ich entscheide mich dies nur mit dem Sowjetverkleideten zu tun. „Ich gebe Faschisten nicht die Hand“, bemerke ich – eine Äußerung, die unkommentiert bleibt.

Dann muss der unterirdische Gang durchlaufen werden. Pawel erklärt uns, dass sie dieses Programm regelmäßig mit Schulklassen durchführen. Um zu zeigen, wie unerträglich laut es für die Bunkerbesatzung im Krieg war, schießen sie mit Platzpatronen im Bunker-Inneren herum. Vor dem Schießen gibt es noch die Empfehlung, doch den Mund geöffnet zu halten, dann sei die Druckwelle weniger gefährlich. Ich erkläre, dass ich schon einen Tinnitus hätte – was nichts als die absolute Wahrheit ist – und dankend auf die Rundtour ver­zich­te. Schnell wird mir aber klar, dass dies ein unmögliches Verhalten ist. Also folge ich der Gruppe, die Finger in die Ohren gesteckt, leicht geduckt, in das Innere des dunklen Tunnel-Labyrinths. Irgendwann schießt der als Rotarmist Verkleidete: Die Druckwelle lässt mein Hemd flattern, aus der Gruppe sind Schreie zu hören. „Was für ein Quatsch!“, denke ich, als ich wieder frische Waldluft atme.

Ich möchte das Kriegsspielgelände nun wirklich zügig verlassen, verweise auf die reichlich fortgeschrittene Uhrzeit und dass wir morgen ja alle früh raus müssten. Vergeblich, ich bin der Einzige in der Gruppe, der hier weg will. Die Führung, Nazi und Rotarmist vorneweg, setzt hinter dem künstlichen Hügel derweil ihre Besichtigungstour fort: Aus gefundenen Granathülsen verschiedenster Kaliber haben die Wochenend-Militaristen eine Skulptur zusammengeschweißt; schwarz lackiert steht sie nun als ungeschickte Unförmigkeit an der Schnellstraße. „Ist das Kunst oder kann das weg?“, flüstere ich Elena auf Russisch zu. Sie versteht meinen Humor nicht. Wieder muss gesungen werden, der Alte packt erneut sein Instrument aus, eine junge adrette Vorstadtschönheit hält ihm Noten und Text hin. Meine Teilnehmer genießen die Abend­sonne und die nostalgischen Gesänge. Nach den Liedern darf geschossen werden. Ich werde zuallererst aufgefordert, lehne aber ab.

 

Alexej ist ein untersetzter Mittdreißiger im viel zu engen grauen Polohemd. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn, wir steigen in seinen japanischen Mittelklassewagen, verlassen den Hof vor Elenas Haus und biegen auf die Hauptverkehrsstraße ab. Ich sitze hinten hinter dem Schwitzenden, Elena vorn, was mich davon befreit, anstrengende Gespräche auf Russisch mit Alexej führen zu müssen. Auf dem Programm am heutigen Samstag stehen zwei Orte, die mit Karl zu tun haben: die Stadt Irpin, mittlerweile fast ein Stadtteil Kiews, und Schytomyr, etwa 120 Kilometer westlich von der Hauptstadt der Ukraine lie­gend.

„Stellungskrieg vor Kiew (Datschi Irpen) vom 14.09. bis 30.09.41. Dann sind wir zurück nach Berditschew (50 K.M.). Dort waren wir 2.10.41 bis 5.10.41“, schreibt mein Opa in seinem Kriegsbericht. Nur diesen einen Satz gibt es dort. Ihm will ich heute folgen.

Treffpunkt im Kiew nahen Irpin ist – wie sollte es anders sein – ein DOT. Wir warten auf Konstantin, einen Trainings­teilnehmer, der in Irpin zu Hause ist. Da wir zu früh sind, nutzen wir die verbliebene Zeit und gehen runter zum Fluss, dem Irpin. Die Landschaft, die sich uns hier am Horizont aufspannt, ist jetzt im Mai eine weite, saftig-grüne Flussaue. Frucht­­bare Feuchtwiesen, teils wohl zu morastig für eine Nutzung, teils für den Ackerbau genutzt, soweit das Auge reicht. Der Irpin selbst ist an dieser Stelle ein etwa 10 Meter breiter, langsam fließender Fluss. 1941 hatte sich hier das 194. In­fanterie-Regiment, dem Karl angehörte, an einer ge­sprengten Eisenbahnbrücke verschanzt. Heute, 73 Jahre spä­ter, stehe ich mit Kontantin, einem etwa 50 Jahre alten Allergiker mit hochrotem geschwollenem Gesicht, unter der wieder­errichteten Eisenbahnbrücke aus dunkelrostigem Stahl. Er erzählt mir, dass die Deutschen hier kaum noch gekämpft, sondern es sich in den Datschen in der Nähe des Flusses gemütlich gemacht hätten. Über mehrere improvisierte Brü­cken gelangen wir über den Fluss und seine ausufernden Wiesen. Konstantin möchte mir die Befestigungsanlage zei­gen – es geht schon wieder um diese kleinen Bunker mit den drei Buchstaben. In seiner Jugend hat er dort viel gespielt, jetzt kann er sich aber kaum noch erinnern, wo der Bunker eigentlich stand.

Auf einem Feld arbeiten Frauen mit hochgesteckten Haaren, sie ziehen das schnell sprießende Unkraut aus der pech­schwarzen fruchtbaren Erde. Ihre Aufmachung, ihre Hal­tung, das ganze Bild erinnert mich an die Reispflücker­innen, denen ich einmal im fernen Laos zugesehen hatte. Ziemlich ziellos irren wir durch das Unterholz, wischen uns Spinnen­netze aus dem Gesicht, zertreten Schnecken samt ihren Häu­sern und geben schließlich auf: Konstantin kann den Ort einfach nicht mehr finden.

Ich schieße Fotos, abwechselnd mit meinem Mobiltelefon und der mitgebrachten Instamatic-Kamera meines Großvaters. Ob diese Bilder wohl etwas werden? Den notwendigen Kas­set­ten­film habe ich im Internet ersteigert, seine Haltbarkeit lief laut Packungsaufdruck im September 1992 ab.


Wir gehen zurück und fahren entlang der Bahnschienen ins Stadtzentrum von Irpin. Es ist eine wilde Mischung aus verfal­lenen sowjetischen Industrieanlagen, teils renovierten, teils dem Verfall preisgegebenen Plattenbauten und den architek­tonischen Selbstverwirklichungsexperimenten der späten 1990er-Jahre. Der zentrale Platz von Irpin ist quadratisch. In seiner Mitte das unvermeidbare Kriegsmahnmal, an der Stirn­seite das Rathaus, ein schlichter dreistöckiger Bau, dem nach Ende der Sowjetunion eine klassizistische Fassade vorgesetzt wurde. An einer anderen Seite das Heimatmuseum, das Konstantin mir zeigen will, welches aber – und das finde ich gar nicht so schlecht – heute geschlossen ist. Wir fahren also weiter über schlaglöchrige Straßen und kommen schließ­lich vor einem ummauerten Parkgelände mit Wächter­häuschen und rostigem Metalldrehkreuz zum Stehen. Hier befand sich und befindet sich das Haus der Schriftsteller: Auf einem etwa einem Hektar großen Areal stehen villenartige kleine Häuser locker in das satte Grün der verwahrlosten Parkanlage einge­bettet und harren ihrem wohl nicht allzu fernen Kollaps. Auf mich übt dieses postsowjetische Verwil­derungs­szenario – zumindest auf den ersten Blick – eine stark romantische An­zieh­ungskraft aus: Eine nicht zu bändigende saftig grüne Natur umfängt, umschlingt die Bauten einer zu Ende gegang­enen Epoche und wird sie wohl letztendlich – und das finde ich in diesem Augenblick ebenfalls gar nicht so schlecht – ver­schlingen.

Konstantin erzählt mir, dass das Gelände vor dem Krieg ziemlich genau so ausgesehen hätte. Es sei damals ein Sana­torium gewesen. Die Deutschen hätten 1941 die Häuser und das Gelände als Basis für die Eroberung der Kiewer Innenstadt genutzt. Mein Opa sei mit ziemlich großer Wahr­schein­lichkeit hier (wir betreten ein sehr altes Häuschen in Fachwerkbauweise mit zwei spitzen Türmchen) in diesem Zimmer gewesen, selbst die Betten dort hinten in der Ecke hätten damals dort schon so gestanden. Die drei Metallgitterbetten, das will ich Konstantin gern zugestehen, sehen wirklich so aus, als seien sie mindestens siebzig Jahre alt. Von der Veranda mit hölzernem Geländer, von dem die braune Farbe in großen Stücken abblättert, ergibt sich ein malerischer Blick auf die Niederungen des Irpin. Warum erfüllt es Konstantin so sehr mit Freude und Genug­tuung, mir das alles hier zu zeigen? Was fühlt er hier mit mir? Welche Gedanken mögen ihm durch den Kopf gehen? Ich traue mich nicht ihn zu fragen.

Wir gehen weiter auf ein augenscheinlich neueres Gebäude zu: In einem dunklen Saal mit schweren purpurfarbenen Vor­hängen steht der Geruch des Verfalls. Aufgereiht dort außer­dem neun Plexiglasboxen mit dem Wappen der Ukraine. Am morgigen Sonntag sind im Land Präsidentschaftswahlen. Etwa einen Monat zuvor hatten Kiewer Bürgerinnen und Bürger den zentralen Platz der Stadt, den Maidan, in Besitz genommen, um für die Unterzeichnung eines Abkommens mit der Euro­päischen Union zu demonstrieren. Über hundert von ihnen bezahlten dieses Engagement mit dem Tod. Den Eingangs­bereich des Wahllokals ziert ein mannshoher, fast quadratischer Spiegel mit Goldrahmen. Ich schieße ein Bild von uns vieren im Spiegel.

Die Fahrt geht ohne Konstantin, der in Irpin geblieben ist, weiter über die Trasse nach Schytomyr. Eine Landschaft wie in Nordniedersachsen: platt, fruchtbar, wenig bewaldet. Die Ein­fahrt nach Schytomyr markiert eine nach oben zulaufende Beton-Stele, die mit dunkelbraunen Fliesen beklebt als Unter­grund für die sieben weißen Lettern des Stadtnamens Житомир herhalten muss. Rechts daneben eine Jahreszahl: 884. Um­so jünger und ahistorischer die Orte aussehen, umso zwang­hafter der Versuch ihre Gründung möglichst weit zu­rück­zudatieren, denke ich, während ich meine Instamatic für ein weiteres Foto präpariere.


Die Straße ist sehr gut ausgebaut. Bevor wir in das Stadt­zen­trum abbiegen, hält Alexej an einer Raststätte mit dem Namen „Petrograd“. Das heutige Sankt Petersburg hieß von 1914 bis 1924 so. Es war der Versuch, den europäisch kling­enden Namen Petersburg in eine russisch anmutende Bezeichnung abzuändern. Nach 1924 taufte man die Stadt dann in Leningrad um, erst 1991 bekam sie wieder ihren ursprünglichen Namen zurück. Was sagt uns also der Name des Restaurants über seinen Besitzer? Ist er aus Russland hierhergekommen? Gehört er der russisch­sprachigen Bevölkerungsgruppe an? Ist der Name ein absicht­licher Affront den ukrainisch sprechenden Bevölkerungs­teilen und ihrer vermeintlichen Westorientierung gegenüber? Diese und andere Fragen gehen mir durch den Kopf, als wir unter einem Holzverandadach Platz nehmen und uns eine des Russischen nicht im Ansatz mächtige Kellnerin bedient. Viel­leicht bin ich durch die gesamtpolitische Lage und das gerade beendete Seminar zur Geschichtsaufarbeitung auch einfach nur extrem politisiert: Wahrscheinlich hat es absolut keine weiter­gehende Bewandtnis mit „Petrograd“.

Wir nehmen vier Portionen ukrainische Deruny (Kartoffel­puffer) mit Smetana und Kompott. Alexej verschlingt zwei Portionen und schwitzt am ganzen Körper. Er ist etwas genervt, so scheint mir, dass er heute seinen Samstag opfern soll, um diesen Deutschen durch die Gegend zu kutschieren. Aber seinem erkrankten Freund – besser Kameraden – Pawel konnte er diesen Gefallen nicht abschlagen, und ich habe mich in all den Jahren im Osten daran gewöhnt, die Angebote der Einheimischen schamlos anzunehmen.

Der viel zu süße Kompott, eine zweifelhafte Spezialität der Gegend, hergestellt aus eingeweichten Trockenfrüchten, geht mir kaum über die Lippen. Ich fürchte den hohen Zucker- und Puringehalt und mache mir schon wieder Sorgen um meine Gesundheit, während Alexej schwitzend den zehnten Kartof­fel­puffer in seinen Mund schiebt und nun wieder bester Laune zu sein scheint.

Schytomyr hat heute etwa 300.000 Einwohner. In der Zeit, als mein Großvater hier war, brachten SS-Einsatzkommandos fast alle Juden in Stadt und Umgebung um. Karl hinterließ in seinem Fotoalbum nur ein Bild, das sich eindeutig Schytomyr zuschreiben lässt. Noch in der Raststätte fragt Alexej den Wirt, ob er wisse, wo dieses Foto aufgenommen worden sein könnte. Der Wirt, ein bierbäuchiger Mittvierziger mit Stoppelbart, erkennt die zweigeschossigen weißen Gebäude sofort: „Das muss die Uliza Michailowskaja sein.“

Von der autobahnähnlichen Trasse biegen wir auf einen großen Prospekt, eine Aufmarschstraße und fragen uns bis zur besagten Michailowskaja durch. Karls Bild zeigt einen Straßenzug mit zwei weiß gekalkten Bürgerhäusern. Straßen­bahn­schienen durchziehen die Bildkomposition, ein schwerer Militär-LKW mit großem Mercedes-Benz-Stern auf dem Kühler fährt von links in das Bild hinein. Er ist beladen mit deutschen Wehrmachtsangehörigen, die sich erschöpft auf der Pritsche des Wagens niedergefläzt haben. Etwa zwanzig sowje­tische Kriegsgefangene, unschwer an ihren Uniformen erkenn­bar, laufen neben dem LKW die Straßen herunter. Von einem Balkon eines der Bürgerhäuser schaut ein Soldat – ich kann nicht erkennen, wessen Uniform er trägt – auf das Geschehen herunter. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sein Blick scheint mir leer, starr und abwesend zu sein. Ein zweiter sitzt hinter ihm auf einem Stuhl, die Balustrade des Balkons verdeckt ihn fast vollständig. Im Abstand von ein paar Metern stehen junge Bäume am Straßenrand. Eisengitter sollen ihren Stamm vor Beschädigungen schützen. Der ganze Straßenzug macht einen recht neu errichteten oder immerhin frisch renovierten Eindruck. Der Fotograf, mit hoher Wahr­scheinlichkeit mein Großvater, hat diese Szene vom gegen­über­liegenden Bürgersteig aufgenommen.

Einer der in der Kolonne marschierenden Soldaten bückt sich und scheint etwas vom ungeteerten Boden aufzuheben. Nein, jetzt fällt mir auf, dass seine Kameraden Essgeschirre in den Händen halten, ihm scheint das an einem Metallhenkel zu tragende Gefäß aus der Hand gerutscht zu sein, der Inhalt – war es eine Suppe oder einfach nur Wasser? – ergießt sich auf die Straße. Der Soldat versucht, dieses Malheur mit einer bück­enden Bewegung noch verhindern zu wollen. Einige seiner Kameraden haben ihre Blicke in seine Richtung gelenkt und beobachten schweigend das Schauspiel. Was mag dieses Missgeschick für den völlig ausgemergelten Soldaten bedeutet haben? Haben die Kameraden ihm später etwas von ihren Rationen abgegeben? Wohin ging diese Kolonne überhaupt? In die geordnete Kriegsgefangenschaft oder in den sicheren Tod? Die Berichte über die Behandlung von sowjetischen Kriegs­gefangenen durch deutsche Wehrmachts- und andere Nazi­verbände lassen nichts Gutes ahnen.

Mit Elena und Alexej gehe ich dieselbe Straße hinunter, auf der schon Karl damals gestanden und fotografiert hatte. Sie hat sich in all den Jahren, immerhin 73 an der Zahl, kaum ver­än­dert. Nur zwei Häuser mussten der sowjetischen Nach­kriegs­bauwut (oder den Bomben des Weltkrieges?) wei­chen. Die Bäume, den Blättern nach zu urteilen sind es Linden, überragen mittlerweile die Bürgerhäuser und spenden an hei­ßen Tagen wie heute einen angenehmen Schatten, der zum Promenieren einlädt. Handyshops, Cafés, Restaurants, Papier­waren und andere typische Geschäfte unserer Gegenwart be­siedeln die Erdgeschosse. Ein hübsch-hässlicher Platz mit rostiger Springbrunnenanlage und türkisdreckigem Becken ersetzt die fehlenden zwei Häuser und durchbricht den an­son­s­ten fast museal anmutenden Gesamteindruck.

 

Alexejs Ehrgeiz zielt darauf ab, exakt die Stelle auszu­machen, von der aus mein Großvater sein Foto von der Michailowskaja gemacht hat. Mir ist das eigentlich gar nicht so wichtig, vielmehr möchte ich die Atmosphäre des Ortes mit so viel allgemeiner und persönlicher Geschichte in mich aufsau­gen, herumschlendern und einfach nur ein paar Bilder vom heutigen Leben in Schytomyr machen. Egal, ich spiele mit und wir stehen über mein Tablet gebeugt, das einzige Foto von Karl analysierend am Straßenrand: Passanten halten inne, drehen sich zu uns um, tuscheln und gehen Einkaufstüten schleppend weiter. Die Mittagshitze brennt Ende Mai 2014 unerbittlich auf uns nieder.

„Etwas weiter hierüber. Nein, nein! Das kann nicht sein, die Fenster auf dem Bild haben Rundbögen und diese hier sind ganz gerade. Aber guck mal der Balkon da oben, hat der nicht exakt diese verschlungenen Geländerverzierungen? Ja, genau! Hier! Genau hier muss er gestanden haben!“


Jetzt ist auch Alexej – vor allem nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich den richtigen Ort ohne ihn nie gefunden hätte – total entspannt und glücklich. Wir gehen noch bis zum Ende der Michailowskaja und schlendern dann – Elena und ich mit einem Stakanshik-Vanilleeis – zurück zum Auto.

In mir tut sich eine seltsame Leere auf. Jetzt war ich also dort, wo mein Großvater vor 73 Jahren ein Foto von sowje­tischen Kriegsgefangenen geschossen hatte. Ich stand (wahr­schein­lich!) genau auf dem Flecken Erde, wo er damals gestanden hatte. Ich habe eigentlich bekommen, was ich wollte: Ich habe die abstrakte Wirklichkeit einer Fotografie, die ich in der Hinterlassenschaft meines Opas fand, mit der konkreten Gegenwart des abgebildeten Ortes in der Jetztzeit verbunden. Aber was soll das? Was bringt mir das?

Erneut habe ich große Zweifel am von mir verfolgten Ansatz: Habe ich nicht genug eigene Probleme? In meiner Zeit? In meinem Leben? Dass ich mich jetzt auch noch mit dem Leben meines Großvaters und seiner Generation beschäftige? Ich sitze schweigend und in mich gekehrt auf der Rücksitzbank von Alexejs Toyota, während wir den Straßen­bahn­­schienen folgend unseren Weg aus Schytomyr heraus suchen. Wir sind schon fast hinter der Stadtgrenze, fahren durch datschenartig angelegte Vorstadtsiedlungen mit kleinen liebevoll gepflegten Obstgärten, als ich links von uns einen Davidstern und somit den Eingang zum jüdischen Friedhof von Schytomyr vorbeirauschen sehe. Muss ich nicht Alexej bitten anzuhalten? Sollte der Besuch des jüdischen Friedhofs hier in einer Stadt, wo die deutschen Invasoren fast alle Juden umgebracht haben, nicht Pflichtprogramm sein?! Ich fühle mich unwohl, in meinem Kopf führt das politisch korrekte Verantwortungs­bewusstsein einen unerbittlichen Kampf gegen die nostalgi­sierende Trägheit eines heißen Tages im Mai. Denn kann ich auf der anderen Seite jetzt Alexej überhaupt bitten, noch einmal zu halten? Er hat ja schließlich auch Familie und will beizeiten daheim sein. Und muss ich Alexej und Elena jetzt eigentlich noch weiter mit unseren deutschen Traumata beläs­tigen? Außerdem, vielleicht ist Alexej ja auch Antisemit, die soll es ja viel geben hier! Während ich mich quäle, verschwindet der Friedhof schon im Rückspiegel von Alexejs Wagen. Ich habe mich um den jüdischen Friedhof in Schytomyr herumgedrückt.

Die beiden weiteren Programmpunkte sind Alexejs Idee: Der Besuch von Himmlers Bunker und ein deutscher Soldaten­friedhof. Beide gehörten zu Hitlers Wolfschanzen­anlage, der Bau begann im Herbst 1941, also nachdem Karl hier war. Wir verlassen Schytomyr in Richtung Winnyzja, das hinter Berditschew weiter südlich von Schytomyr liegt. Mehr­mals müssen wir nachfragen, wo sich die Bunkeranlage des SS-Anführers und Holocaust-Verantwortlichen Himmler befindet, Hinweisschilder gibt es nicht. Wir biegen in einen Mischwald aus dunklen hohen Tannen und Birken ab, den sogenannten Hege­wald, wie die deutschen Besatzer das Gebiet nannten. Man hat uns gerade in einer kleinen Siedlung auf dem Weg hierher erzählt, dass der Bunker auf einem ehemaligen sowje­tischen Flugplatz stehe: „Etwa hundert Meter hinter dem kleinen Birkenwäldchen müssen Sie rechts scharf auf einen unbefestigten Feldweg abbiegen, dann sehen Sie schon die Anlage“, sagt ein Halbstarker im schwarzen Unterhemd und mit Goldkettchen, der seinen aufgemotzten Lada Samara mit Heckspoiler wäscht.

Beim dritten Versuch scheinen wir richtig zu sein: Umgeben von dichtem Wald und selbstgezimmerten Holzbaracken steht auf einer Lichtung ein ehemals imposantes Verwaltungs­ge­bäude (vielleicht aus Flugplatzzeiten oder doch ein Nazibau?). Es bildet den Mittelpunkt eines kleinen Platzes. Nur einen Bunker können wir nirgends ausmachen. Ein etwa fünfzig Jahre alter Mann mit Dreitagebart in weinrotem Trainings­anzug streicht die Metalltür einer Baracke mit roter Rost­schutz­farbe. Immer wieder tunkt er den stark haarenden Pinsel in die abgeschnittene Plastikflasche, in der er die Farbe aufbewahrt. Ein Mann um die zwanzig, ich nehme an sein Sohn, steht neben ihm und will seine paar Brocken Englisch zur Anwen­dung bringen: „Hello! Where are you from?“ „I am from Germany!“ „Ah, Germany, interesting.“ Alexej fragt, ob das hier der richtige Ort sei, und wenn ja, wo denn nun der berühmte Bunker – er fragt nach dem ставка гиммлера, also dem Hauptquartier Himmlers – zu finden sei. Der Anstreicher hebt seinen Arm, dabei tropft die Farbe auf den staubigen Boden und seine Jacke, und zeigt zu einigen unscheinbaren Baracken hinüber. „Dort!“ Jetzt entdecken wir einen etwa 4 Meter hohen und vielleicht 5 Meter breiten moosüber­wachsenen Betonquader, rundherum haben sich lokale Bau­herren die stabile Außenwand zunutze gemacht und den Bunker in ihre Improvisationen aus Holz, Wellblech und Ab­bruchmaterialien eingebaut, sodass er fast komplett unsicht­­bar geworden ist. Eine sympathische Art, die ‚unkaputtbaren‘, an­geb­lich meterdicken Betonmauern zu entmaterialisieren. Auf der hinteren Seite befindet sich eine ca. ein Meter über dem Boden gelegene türkisfarbene Luke mit Verschlussrad – ähnlich den Luken, wie ich sie aus U-Boot-Filmen kenne. Nun erfahren wir vom Mann im Trainingsanzug, dass auch das Verwal­tungsgebäude in der Mitte der Lichtung Teil des deutschen Quartiers war. Als wir versuchen, das Gelände weiter zu erkunden – hinter dem Bunker steht noch ein großes Gebäude mit Spitzdach – werden wir von einer ganzen Horde halb wilder Hunde mit verfilztem Fell verjagt. „Sind die Hunde gefährlich?“, frage ich den Pinselnden. „Keine Ah­nung“, tönt es lapidar von der anderen Seite des Platzes.

Der Erkenntnisgewinn dieses Trips zu Himmlers Bunker hält sich für mich stark in Grenzen. Auf dem Rückweg, kurz vor der Überquerung des Flusses Huiva biegen wir links ab und stehen vor einem etwa einen halben Hektar großen, mit kniehohen Mauern eingefassten Friedhof. Neun mannshohe Stelen aus Granitstein sind beidseitig eng an eng mit den Namen von Toten deutscher Herkunft beschriftet: Es müssen mehrere tausend Namen sein, so meine vorsichtige Schätzung. Etwas abseits machen zwei junge Frauen Rast unter einem Baum; ein Rasenmäher steht neben ihnen, Gartengeräte lehnen am Baum, beide lächeln, sie unterhalten sich angeregt und essen Wareniki aus einer mitgebrachten Plastiktüte, eine späte Mittagspause wohl.

Wir bleiben nicht lange. Mir ist unbehaglich inmitten dieses Massengrabes. Nicht weil mich die Anwesenheit tausender Toter bzw. ihrer wenigen Überreste schockiert, sondern weil ich das beklemmende Gefühl, das mich hier befällt, nicht loswerde: Tausende, zumeist junge Männer, gestorben für ein verbrecherisches Regime. Tausende junge deutsche Männer, die trotz ihres Alters schon so viel Unheil angerichtet haben. Ich schäme mich für meine Herkunft, hier auf dem akkurat gepflegten deutschen Friedhof im ukrainischen Schytomyr.

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