Ein kleines Leben

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#Reminder

Ich gehe auf und versinke im Schlamm meiner Erinnerungen

Überall an den Wänden meines Zimmers hängen Reminder

Ihre vermeintlich heimelige Nostalgie starrt mich an

Ihre bohrenden Blicke schnüren mir die Kehle zu

Ich will sie in einen großen Umzugskarton werfen und wegsperren im Keller

Aber sie wehren sich so heftig, sie schreien: „Fass uns nicht an! Lass uns da, wo wir sind!“

Sie drohen auszupacken und die ganze Wahrheit zu sagen

Ich lasse sie also, wo sie sind, und versuche, an ihnen vorbei, durch sie hindurch zu schauen

Manchmal setze ich mich in ein anderes Zimmer, um ihnen zu entkommen

Schon zieht es mich zurück hierher

Das Arbeitszimmer meines Großvaters

Das Arbeitszimmer meines Großvaters war vielleicht acht Quadratmeter groß. Rechter Hand stand ein massiver dunkel­brauner Holzschreibtisch im Art-Deco-Stil, schätzungs­weise aus den 1930er-Jahren. Links und rechts hatte er Türen, hinter ihnen ausziehbare Läden in hellem Holz mit englischem Zug. In der Mitte eine mächtige Schublade, deren Frontplatte sich stilbrechend in den Raum hineinwölbte. Rechts neben dem Schreibtisch stand ein Eckschrank aus den 1960er-Jahren, in dem Aktenordner und – wenn ich mich recht erinnere – Foto­alben lagerten. Über dem Schreibtisch, in die Wand gedübelt, aus derselben Zeit, ein Regal bestehend aus zwei Brettern, die auf einem schwarzen filigranen Metallgerüst auflagen. Auf den Regalbrettchen standen kleine Modelle von Kriegsflugzeugen (eine Hawker Hurricane der Royal Air Force war darunter) – ich erinnere mich daran, wie sie Karl an seinem Schreibtisch sitzend zusammenbaute. Ich fand das damals komisch, im Sinne von seltsam, ihn so dasitzen zu sehen, einen erwach­senen Mann, der Plastikflugzeuge zusammensteckt. Ich habe ihn damals gefragt, warum er das macht, und ich glaube, ein „Einfach nur so!“ als Antwort erhalten zu haben. An der gegenüberliegenden Wand zum Schreibtisch standen ein Tisch und ein kleines Sofa. (Oder war es ein Sessel? Hier ver­schwimmt meine Erinnerung.)

Die Großeltern wohnten in einem Fachwerkhaus mit angebautem Friseursalon, ihrem Friseursalon. Vom Flur aus ging es links in die Küche und rechts in das Wohnzimmer, die Stube. Vom Flur führte eine gedrehte Holztreppe in das zweite Geschoss, wo sich auch das Arbeitszimmer befand. Setzte man einen Fuß auf die Treppe, so knatschte sie wie die Sargdeckel in gruseligen Vampirfilmen – so zumindest die Wahrnehmung des damals 14- oder 15-Jährigen. Man trat also in die Wohnung ein, sah die Großmutter in der Küche werkeln, wollte aber zum Großvater, fragte, wo er denn sei, bekam die Antwort „Im Arbeitszimmer“, stieg die quietschende Treppe hinauf und sah ihn gedankenversunken an seinem Schreibtisch sitzen. Erfreut mit einem Lächeln schaute er dann auf. Halb weiter mit seinen Schreibarbeiten beschäftigt, halb sich schon auf die Anwesen­heit seines Enkels konzentrierend, fragte er schließ­lich: „Na, was ist los?“ oder nutzte eine andere belanglose Floskel, um in den Dialog einzusteigen. An einem dieser Tage, es muss Mitte der 1980er-Jahre gewesen sein, habe ich angefangen, ihn nach dem Krieg zu fragen.

Was hatte damals nur meine Neugier am Krieg geweckt? Sicherlich spielte da die Schule eine Rolle, die das „Dritte Reich“ jedes Jahr aufs Neue thematisierte (den Holocaust hin­gegen fast gar nicht!). Eine Rolle spielten bestimmt auch meine musikalischen Vorlieben, geprägt durch den Platten­schrank meines Vaters, der zwar selbst nie ein Hippie gewesen war, ihre Musik aber liebte. Ich hörte mit großem Interesse Eric Burdon & The Animals, versuchte, die Texte rauszuhören, zu verstehen, um was es ging – was mir dank des fortschreitenden Englischunterrichts auch immer besser gelang. Burdon sang über den Vietnamkrieg, über Protest, Da­gegensein und einen anderen, mir exotisch und spannend er­schei­nenden Lebensstil, weit weg von meinem Dorf. Irgendwie kam eins zum anderen und die Frage der 68er war meine Frage geworden, wohl auch, weil sie von meinen Eltern nie gestellt worden war.

Ich wollte aber nicht nur wissen, was mein Großvater womöglich im Krieg verbrochen hatte, sondern war insgesamt an der Schilderung des Krieges und des Erlebten interessiert. Diese eher grundsätzliche Neugier überwog ganz klar. Zorn verspürte ich jedenfalls keinen. Das unterschied mich von den Fragern der ersten Generation, die es ja in unserer Familie nicht gegeben hatte. Die Kriegserlebnisse der Großväter waren bis dato kein Thema gewesen, es war in unserer Familie, als wäre ein geheimes Schweigegelübde verabredet gewesen: We­der meine nach dem Krieg geborenen Eltern noch meine Großeltern redeten darüber. Wann immer man das Thema anschnitt, erntete man nichts als eine Stille, gefüllt mit Unbe­hagen, oder ein paar nichtssagend hingeworfene Sätze, deren Intonation eindeutig keine Lust auf ein Weiterfragen oder Nachhaken machte.

Nichtsdestotrotz nahm ich also eines Tages, vielleicht im Jahr 1986, all meinen Mut zusammen und begann, meinen Großvater zu fragen, am Anfang ganz allgemein und unver­fänglich, etwa so: „Sag mal Opa, wo warst du denn überall im Krieg? An welchen Orten, meine ich?“ Er war wahrscheinlich sehr verdutzt, als er zum ersten Mal eine solche Frage aus dem Mund seines halbwüchsigen Enkelsohnes hörte. Und ich bin mir sicher, dass er die Frage mit einer Handbewegung abgetan hätte, wenn sie jemand aus der Generation seiner eigenen Kinder gestellt hätte. Aber seinem Enkel konnte er eine Ant­wort schlecht abschlagen. Er war ja unverdächtig. Er zögerte, wog ab und entschied sich dann dafür, nicht einfach zu schwei­gen, sondern zumindest irgendetwas zu entgegnen. Viel­leicht dachte er: „Na gut, ich werde jetzt irgendeine lustige Anekdote erzählen und dann ist wieder Ruhe.“ Was er dann bei unserer ersten Interviewrunde in seinem Arbeitszimmer er­zählte, war dann auch mehr eine Anekdote. Ich glaube, es ging um eine Begebenheit zu Beginn des Krieges, bei der Besetzung Frankreichs. Er hatte einer Nachschubeinheit ange­hört und sie hatten in einem besetzten Dorf oder auf einem Landgut den Sektkeller geplündert. Für die Kameraden hatten sie anschlie­ßend eine feuchtfröhliche Party veranstaltet. Das ist das, woran ich mich so ungefähr erinnern kann. Schon früh fragte ich ihn, ob er denn auch im Osten an der Front gewesen sei, zum Beispiel in Stalingrad. Gelogen hat Karl mir gegenüber, so glau­be ich, nie. Er antwortete dann immer: „Ja, in Stalingrad war ich auch.“ Aber er sagte es so, dass mir klar war, dass es besser war, nicht weiterzufragen.

Im Laufe der nächsten Monate und Jahre habe ich ihn immer wieder gefragt und mit jeder kleinen Geschichte, die er mir erzählte, wuchs meine Neugier, mehr über diese mir fremde, ferne und abenteuerlich erscheinende Zeit zu hören. Es faszinierte mich, meinen Großvater noch einmal ganz an­ders und neu kennenzulernen. Er zeigte mir Fotografien, auf denen ein junger, gutaussehender Mann Mitte zwanzig zu se­hen war, er schilderte endlos Episoden aus seiner Zeit bei der Wehrmacht, erzählte von weiten Landschaften, fremden Städten und Völkern. Ich war begeistert. In meinen Kopf ent­standen Bilder und ganze Abenteuerfilme, wenn er erzählte. Ich sah mich selbst als Soldaten weit weg von zu Hause ... Es ging eine seltsame Anziehungskraft von diesem Krieg und seinem Teilnehmer, meinem Großvater, aus. Diese jugend­lichen Tagträume wurden aber immer von einem bitteren Beigeschmack getrübt, denn ich wusste ja, was alles an Leid und Unrecht von Deutschland und deutschen Soldaten ausge­gangen war. Ich spürte so etwas wie ein Schuldgefühl, gar nicht so sehr wegen der Taten meiner Vorfahren, sondern weil ich mich so bedenkenlos dem abenteuerlichen Schwelgen, der Fantasie, Soldat zu sein, hingegeben und somit Verrat an meinen eigenen Überzeugungen verübt hatte, sah ich mich doch selbst als überzeugten Pazifisten. Eine aus diesem Gefühl herauswachsende Verantwortung, gepaart mit einem unstill­baren Bedürfnis, mehr über die Schrecken dieses Zweiten Weltkrieges, von dem ich so viel gehört hatte, zu erfahren, trieb mich dazu, meinen Großvater mehr und mehr mit Fragen über Stalingrad, über das Töten, über den Tod per se zu quälen. Er beantwortete die Fragen zunächst einmal gar nicht. Dann – nachdem ich nicht locker ließ und ihm erklärte, dass es doch für meine Generation wichtig sei, darüber mehr zu erfahren, dazu noch aus erster Hand, von einem der dabei gewesen wäre – begann er, immer noch sehr widerwillig und zögerlich, jedes Wort minutenlang abwägend, erst bruchstückhaft, dann etwas zusammenhängender zu berichten. Seine Erzählungen blieben auch weiterhin auf einzelne Episoden beschränkt, er erzählte, woran er sich vierzig Jahre nach Kriegsende noch erinnern konnte; und ich bin mir sicher, dass er die trau­matischsten Erlebnisse weiterhin für sich behielt. Ich selbst erinnere mich heute – noch einmal fast dreißig Jahre später – nicht mehr an alles, was mir Karl damals erzählte. Zwei Episoden haben sich mir aber tief ins Gedächtnis eingebrannt. Ich erinnere mich genau an die Stimme meines Großvaters, die Atmosphäre und an meine Gefühle während des Zuhörens: Auf meine Frage, ob er denn auch jemanden erschossen hätte, damals im Krieg, antwortete er ausweichend und erzählte die Geschichte von einem Deserteur. (Jetzt, beim Niederschreiben dieser Erinnerungen, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob nicht meine Frage eine andere gewesen ist, ob ich nicht vielmehr fragte, warum er nicht einfach abgehauen sei, wenn im Krieg doch alles so schlimm gewesen sei.) Karl antwortete auf diese Frage mit einer Geschichte von einem Kameraden, der es nicht mehr aushielt an der Ostfront und sich selbst mit seiner Dienstwaffe in den Oberarm schoss. Um die Wunde authentisch aussehen zu lassen und um die Kugel abzu­bremsen, legte er einen Laib Brot auf den Arm, setzte die Pistole mit ihrer Mündung an, drückte ab und schoss sich eine Kugel durch den Arm. Ich glaube, mich zu erinnern, dass sich diese Begebenheit beim Vormarsch oder beim Sturm auf die Innenstadt von Stalingrad im September 1942 zugetragen hat. Jedenfalls fanden die Sanitäter Brotkrumen in der Wunde und überstellten den Verwundeten der Kriegsgerichtsbarkeit, die ihn als Deserteur zum Tode verurteilte. Die Soldaten der ei­gen­en Einheit mussten das Urteil vollstrecken und den Kame­raden standrechtlich erschießen. Ob mein Großvater selbst zu dieser Einheit gehört hatte, er also selbst Teil des Erschie­ßungskommandos gewesen war, ließ er offen, und ich wagte es nicht, weiter nachzuhaken. Eine bedrückende Stille beherrschte den Raum, nachdem Karl zu Ende erzählt hatte. Nach ein paar Minuten Schweigen lösten wir die Gesprächs­situation irgend­wie auf, und ich verließ das Arbeitszimmer.

 

Diese Geschichte reichte mir nicht aus. Ja, sie war scho­ckierend und erzählte von der Brutalität des Krieges, was mich ja auch brennend interessierte, aber sie spielte nicht direkt an der Front, im Schützengraben. Der Deserteur war schließlich durch die Kugeln der eigenen Soldaten gestorben, aber ohne Feindkontakt. Und war er nicht auch ein wenig selbst schuld? Da schlugen sie wieder, die beiden Herzen in meiner Brust.

Die nächste Gesprächssituation ergab sich vielleicht erst Wochen später. Ich wollte mehr hören, noch Schlimmeres, eine Art Sensationsgier machte sich in mir breit. Ich bohrte, er zögerte, wich aus, versuchte, das Thema auf etwas anderes zu lenken, ich blieb hartnäckig, und er begann, über etwas zu berichten, dass für ihn sehr schmerzvoll gewesen sein muss: Sie lagen eingegraben irgendwo im heutigen Russland oder der Ukraine, vielleicht war es auf der Krim. Plötzlich hörten sie das Zischen einer Granate, das Geschoss flog direkt auf sie zu und schlug direkt neben ihm ein. Karl hatte sich geduckt, den Kopf rechtzeitig eingezogen, das Gesicht verdeckt. Rauch, Stöhnen, Hilferufe der Verletzten, langsam verließ Karl seine Schutzhaltung und schaute sich um. Dort, wo neben ihm sein Kamerad – an den Namen erinnere ich mich nicht – im Graben gelegen hatte, war nur noch der Rumpf seines Körpers erkennbar. Dort, wo eben noch sein Kopf gesessen hatte: nichts. Im Arbeitszimmer lag ein Knistern in der Luft – Stille, mein Großvater unterdrückt mit Mühe die Tränen. Auch ich bin betroffen und meine Neugier ist fürs Erste gestillt. Es läuft mir kalt den Rücken herunter. Karl braucht einige Minuten, um seine Fassung wiederzuerlangen.

Kurze Zeit später zeigt Karl mir sein auseinanderfallendes Soldbuch, weil ich gefragt hatte, ob er denn bei der SS gewesen sei. Es hatte mich einige Überwindung gekostet, diese mir seit sehr langer Zeit auf den Lippen brennende Frage tatsächlich zu stellen. Sie zu beantworten, war mit Sicherheit nicht einfacher. Das Büchlein mit der Aufschrift „Soldbuch und Personalausweis“ ist in eine schwarze Lederhülle gekleidet. Auf der ersten Innenseite lächelt mich ein sehr junger Soldat Karl Krüger an und auf Seite drei sind seine Beförderungen eingetragen, zwei an der Zahl: am 3. Februar 1940 zum Ge­freiten einer Nachschubeinheit und am 1. Dezember 1941 zum Ober­gefreiten des 5. Infanterie-Regiments 194. Weitere Ein­tra­gungen sind nicht zu sehen. „Ich hatte großes Glück, dass die Beförderung zur SS nur mit Bleistift eingetragen worden war. Als uns klar wurde, dass wir demnächst in Gefangenschaft gehen würden, habe ich den Eintrag einfach herausradiert. Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Denn die SS-Angehörigen sind gleich zu Anfang aussortiert worden, ich habe meine Kameraden nie wiedergesehen. Ich glaube, die Russen haben die sogleich alle erschossen.“

Ich nehme das Heft, führe es ganz dicht vor meine Augen und halte es gegen das Licht. Ich will sehen, ob es dort Anhalts­­punkte, Überreste gibt, die die Geschichte meines Großvaters stützen. Während ich das tue, frage ich mich insgeheim, ob ich wirklich entsprechende Hinweise finden möchte oder lieber doch nicht. Sollte ich mir nicht besser wünschen, dass er nicht Teil der SS war? Aber irgendwie geht trotzdem ein Nerven­kitzel von der Idee aus, dass er, der hier neben mir sitzt, Teil dieser Mördertruppe gewesen sein soll. Ich prüfe das vergilbte Blatt von beiden Seiten ganz genau; ich kann keinen ein­deutigen Hinweis darauf finden, dass hier etwas entfernt wurde. Ich bin erleichtert und enttäuscht zugleich.

„Und wie bist du da reingekommen, in die SS?“, fragte ich weiter. „Das war ganz am Ende des Krieges in Russland, als schon alles egal war, die hatten einfach nicht mehr genug Leute. Da haben die mich gefragt und ablehnen konnte man das nicht, und plötzlich war ich in der SS, in der Waffen-SS wohlgemerkt.“

Wenn ich heute hier an meinem Schreibtisch in Tiflis sitze und in meinen Garten schaue, frage ich mich, während ich dies tippe: Und was hat er da gemacht? Was waren seine Aufgaben bei der SS? In welche Gräueltaten war er verwickelt? Fragen, die höchst wahrscheinlich jeder von uns mit den zwei Runen assoziieren würde. Leider habe ich ihn all diese Fragen damals nicht gefragt, mich nicht getraut, zu fragen. Nicht getraut, weil ich ihn nicht verletzen wollte? Weil ich mein Bild von ihm nicht zerstören wollte? Weil ich mich selbst nicht mit einem solchen Erbe belasten wollte? Hinzu kam sicherlich, dass er auch keine Anstalten machte, weiterzureden; nonverbal gab er zu ver­stehen: bis hierher und nicht weiter. Wie auch in seinem Kriegs­bericht behielt er einen (entscheidenden?) Teil seines Lebens – die Zeit von Anfang Mai 1942 bis zur Entlassung aus der sowjetischen Gefangenschaft im Juli 1945 – für sich.

Manchmal holte Karl auch sein braunes Fotoalbum aus dem kleinen Eckschrank im Arbeitszimmer: Auf schwarzer Foto­pap­pe, geschützt durch milchige Transparentpapiere mit Spinn­­webmuster und mit Fotoecken fixiert sind dort an die drei­hundert Schwarz-Weiß-Fotos eingeklebt. Mit dem Album auf dem Schreibtisch saßen wir dann zusammen, gingen die Fotos durch und Karl erzählte: „Hier auf dem Vormarsch nach Frankreich ... Aha, das war an der Maginot-Linie. Und hier, das war mein Kamerad Willi in Luxemburg. Hier war ich ein­quartiert in Laußnitz. Das ist ein Truppenübungsplatz irgend­wo bei Berlin.“ Fotos, die ihn an die traumatischen Erlebnisse an der Ostfront – in Kiew, Charkow oder Stalingrad – erin­nerten, überblätterte er unkommentiert, wenn ich nicht um Erklärung bittend insistierte.

Seinen Kriegsbericht hat Karl in einen langen, schmalen Kalender eingetragen, den er, wenn wir über den Krieg re­deten, zu Hilfe nahm, um sich zurückzuerinnern. Im Kalen­der sind die Stationen des Krieges mit Datum und Ortsangabe verzeichnet. Nicht alle.

Kriegsbericht – Teil 1

Der Kriegsbericht von Karl Krüger umfasst nur zweieinhalb Schreibmaschinenseiten. Er beginnt mit der Auflistung: „Meine mir noch bekannten Feldpostnummern“. Danach folgen Na­men und Adressen von fünf Kriegskameraden und die „Ad­res­sen von Quartieren während des Krieges“, wie am Rand handschriftlich vermerkt ist. Es sind also nicht nur die Namen und Adressen der Kameraden, sondern auch die der Familien und Einzelpersonen, bei denen er während des Krieges unter­gekommen war. Danach folgen, Satz an Satz, Datum an Da­tum, kurz und knapp, die Stationen des Gefreiten, dann später Obergefreiten, Karl Krüger. Auf der Mitte der dritten Seite endet der Bericht mit den Sätzen: „Wir wurden dann auf einen Brückenkopf eingesetzt über eine Kettenbrücke kamen wir auf diesen Brückenkopf. Nach etwa 14 Tagen begann dann der weitere Vormarsch.“ Das letzte genannte Datum ist der 10.05.1942. An diesem Tag kam die 71. Infanterie-Division in Charkow, in der Ukraine an, schreibt Karl und vermerkt lapidar: „Die 71. Division kam bei der Kesselschlacht um Scharkow nicht mehr zum Einsatz.“ Übertitelt ist der Kriegs­bericht jedoch mit der Zeitangabe „Vom 27.08.1939– 29.07.1945“. Warum endet hier der Bericht nach nur zwei­einhalb Seiten im Mai 1942?

Im grauen Ordner, in dem dieser Kriegsbericht zu finden ist, ist auch ein einzelnes Kalenderblatt eingeheftet: Es stammt aus einem Wochenkalender der Firma Gieseke in Hannover, die bis heute mit Friseurbedarf handelt, und umfasst den Zeitraum zwischen den beiden Sonntagen 26. Januar und 1. Februar. Leider fehlt die Jahresangabe, die sich aber nach einigen Recherchen ermitteln lässt: Zwischen 1930 und 1993 fiel der 26. Januar genau zehnmal auf einen Sonntag. Schaut man sich nun das abgerissene Blatt noch einmal genauer an und bezieht die nicht beschriebene Rückseite in die Berech­nung mit ein, so ist für den 28. Januar und den 4. Februar der Stand des Mondes eingetragen, zunehmender Mond und Voll­mond. Legt man nun beides übereinander, so kann das Jahr eindeutig bestimmt werden: Das Kalenderblatt ist von 1958.

Hat er es noch im gleichen Jahr beschrieben oder war es ein alter Kalender, der erst später, in Ermangelung einer Alter­native oder in einem Anflug von protestantischer Sparsamkeit, für den Kriegsbericht herhalten musste? Unwahrscheinlich, dass er ihn noch im gleichen Jahr, als der Kalender noch gültig war, nutzte. Vielleicht ein oder zwei Jahre später, das erscheint mir realistischer. Also 1959 oder 1960? Diese Datierung wirft dann aber neue Rätsel auf, denn wie hat er sich an all die exakten Daten und Adressen des Kriegsberichtes erinnern können, es waren ja mindestens dreizehn Jahre seit Kriegsende vergangen (wenn wir vom frühestmöglichen Jahr 1958 ausge­hen). Irgendwo musste er das alles vorher schon einmal aufge­schrieben haben. Auf losen Zetteln? In einem Kriegs­tage­buch? Es findet sich in seinen Sachen leider kein Anhalts­punkt, der hier weiterführen würde. Hat er die ur­sprüng­lichen Auf­zeichnungen nach dem Übertragen in den Kalender ver­nichtet? Wenn ja, warum? Hat er bei der Auswahl dessen, was er über­tragen hat, aussortiert, gefiltert? Hatten die ursprüng­lichen Aufzeichnungen auch die Zeit von Mai 1942 bis zum Kriegs­ende 1945, so wie der getippte Bericht ja übertitelt ist, umfasst?

In einen solchen Spiralkalender, ein Werbegeschenk der Hannoveraner Firma, hatte Karl seinen Kriegsbericht (oder war das schon die zweite Version?) handschriftlich eingetragen, den eigentlichen Kalender einfach überschreibend. Das ein­zige schon erwähnte, noch erhaltene Blatt beginnt mit dem durchgestrichenen letzten Satz des getippten Berichtes: „[D]ann begann der weitere Vormarsch.“ Danach folgt: „In rus­sischer Gefangenschaft ... Gottswalden (oder Gottswaldern) ... bei Luckenwalde.“ Das Wort „Gottswalden“ ist mit einem krakeligen Strich umkreist, der Stadtname „Luckenwalde“ mit ebensolcher Strichführung unterstrichen. Die nächsten sechs Tages­felder enthalten keine Schrift; den ersten Februar ziert eine weitere Ortsangabe: „Jüterboch (oder Jüterbock)“ – ge­meint ist wohl das bei Luckenwalde liegende Jüterbog. Den Rand hat Karl (in Gedanken versunken?) mit gleichmäßigen Stri­chen markiert. Jeder kurze Strich ein weiteres Ereignis, das dem unvollendeten Kriegsbericht später hinzugefügt werden sollte. Oder markieren diese Striche die Begebenheiten, die Karl bewusst ausgespart hat?

Das Tagesfeld vom 30. Januar ist mit zehn senkrechten kurzen Strichen, wie bei einer Addition, einer Aufzählung ver­sehen. Zehn krakelig nebeneinander gesetzte Striche. Auf das Durchstreichen der ersten vier mit dem fünften h­at er verzichtet, also doch keine Zählreihe? Das Wochenkalender­blatt weist ein paar weiter unzusammenhängend scheinende, scheinbar wahllos hingekritzelte Striche auf. Es scheint ziem­lich offensichtlich, dass Karl irgendwann später die hand­schriftlichen Kalenderseiten abtippte und dabei das schon Erledigte durchstrich. Der getippte Kriegsbericht ist also – höchst wahrscheinlich – erst sehr viel später entstanden. Ich erinnere mich selbst noch an den Kalender als Ganzes. Ich erinnere mich, wie Karl ihn mir zeigte, aus ihm vorlas, erklärte. Vielleicht war es ja sogar mein eigenes Interesse, dass ihn – es muss wohl irgendwann Mitte der 1980er-Jahre gewesen sein – dazu bewegte, das Ganze nochmal in Reinschrift zu bringen. Vielleicht konnte er sich zu diesem Zeitpunkt auch schon gar nicht mehr an das erinnern, was er bei der ersten handschrift­lichen Niederschrift ausgelassen hatte. Wenn, dann sicherlich nur noch bruchstückhaft. Und wollte er das überhaupt, sich erinnern an diese letzten drei Kriegsjahre: Mai 1942 bis Mai 1945?

1958. In diesem Jahr, im September, war Karl Krüger vierund­vierzig Jahre alt geworden. Ein guter Zeitpunkt für eine Rück­schau, ein Resümieren, ein Nachdenken über Erlebtes? Ver­arbei­­tung, Verklärung, Vergessen. Fragen gehen mir durch den Kopf: Warum schreibt man einen Kriegsbericht? (Und dann noch einen, der mehr an ein Itinerar erinnert, Narratives fast völlig auslässt.) Für die Nachwelt? Weil einem die Traumata des Krieges täglich aufs Neue begegnen? Für seine(n) Enkel? Und wieder: Warum lässt man dann das ‚Spannendste‘, den Vor­marsch auf Stalingrad, den totalen Krieg, den Untergang aus? Weil es zu traumatisch wäre, darüber zu schreiben? Weil es un­mög­lich ist, den Stift anzusetzen und das Unsagbare zu sagen? Warum? Was ist da passiert?

 

Ich versuche, in den Menschen Karl Krüger hineinzu­schauen, mich in ihn hineinzugraben. Je tiefer ich vordringe, desto mehr Rätsel gibt er mir auf.

„Ab August 1942 setzte die 71. Infanterie-Division über den Don, nahmen Karpowka und Rossoschka, bis sie schließ­lich Stalingrad erreichte. Hier wurde die Division im Januar/ Februar 1943 vernichtet.“ So das Ende eines Kampf­berichtes aus dem Internet.

Und dabei fing doch alles so gut an. Verfolgt man die Wegstrecke der ersten drei Jahre, liest sich der Bericht – und ich nehme hier die mündlichen Berichte meines Großvaters an mich als seinen Enkel hinzu – eher wie die Abenteuerreise eines 23-Jährigen: Eingezogen im August 1938, zugeteilt einer Nachschubeinheit, von da nach Kaiserslautern, dann Pirma­sens zur Bewachung eines Munitionslagers am Westwall. Weiter, Ende des Jahres, nach Ruschberg bei Marnheim in Rheinland-Pfalz, Niederkirchen, Grumbach und dann Kom­panie­friseur (!) in Niederkirchen bei Deidesheim, eine wunder­bare Weingegend nebenbei. Vom 18.12.1939 bis 01.01.1940 Heimaturlaub. Weihnachten zu Hause – und das in Kriegs­zeiten. Dann beginnt der Westfeldzug. Karl schreibt: „Über die Luxenburger Grenze am 12.05.1940 morgens um 6 Uhr Über die Belgische Grenze am 14.05.1940.“ Mir ist beim Lesen und wiederholten Lesen der Zeilen, als könnte ich die Euphorie des jungen Soldaten spüren, als könnte diese euphorische Stimme hier zu mir, in das Jahr 2014, in all ihrer Intensität vordringen und sagen: „Endlich passiert etwas! Endlich geht es los! Auf dem Vormarsch in Frankreich!!!!!“ – fünf Ausrufezeichen. Diese fünf, mit aller Wucht tief in das Papier geschlagenen Ausrufezeichen stehen so da, obwohl mindestens zehn Jahre nach Ende des Krieges getippt. Was es für einen 1914 gebo­renen jungen Deutschen bedeutete, in Frankreich einzumar­schie­ren, können wir uns heute kaum noch vorstellen. Als Kind seiner Zeit, geprägt von der überall vorherrschenden Pro­pa­ganda, muss er sich als Teil einer historischen Großtat gefühlt haben. Endlich überwindet Deutschland die „Schmach von Versailles“, zahlt es dem Erbfeind heim. Er muss begriffen haben, dass er Teil eines großen historischen Ereignisses war. Der einfache Soldat, Karl Krüger aus Bierbergen, dessen Vater nichts weiter als ein Arbeiter war, machte Geschichte oder war zumindest dabei, wenn sie gemacht wurde. Ist ihm wirklich dieser Stolz als kalter prickelnder Schauer den Rücken he­runter­gelaufen? Auch noch als er den Kalender abtippte? Oder hatte sich seine Wahrnehmung und Bewertung dessen, woran er beteiligt gewesen war, gewandelt? Ich glaube, er war da hin- und hergerissen. Hin- und hergerissen zwischen der Euphorie seiner Jugend und der Belehrtheit des Älteren, des Nachkriegs­deutschen.

Die Stationen des Vormarsches in Frankreich sind durch je zwei Schrägstriche „//“ voneinander abgesetzt. Das wirkt fast modern, expressionistisch, auf jeden Fall setzt sich so die Geschwindigkeit der fünf Ausrufezeichen ungebremst fort: Mou­son // Stenay // Verdun // Saint Mihiel // Nancy. Stak­kato­haft // Trommelfeuer: Assoziationen. Hier läuft es mir kalt den Rücken herunter. Bei seinen Unterlagen findet sich auch ein etwa DIN A6 großer vergilbter Pappzettel, versehen mit der handschriftlichen Notiz: „Vormarschweg in Frankreich 71. Division“. Zu sehen ist eine Karte der Region zwischen Lu­xemburg, Verdun und Nancy mit der verzeichneten Marsch­­­route, links daneben ein Text in der zeittypischen Frak­tur, überschrieben mit „Soldaten!“, unterschrieben mit „Es lebe der Führer!“, vom Kommandeur der Division Karl Weißenberger. Auch hier spürt man noch einmal die Euphorie: „Ihr habt das Panzerwerk 505 erstürmt und die Höhe 311 erobert. Damit habt ihr als erste deutsche Truppe die eigent­liche Maginotlinie durchbrochen.“ Die Division wurde später „Die Glückliche“ genannt, ein Kleeblatt ihr Symbol – das Glück verließ sie dann spätestens in Stalingrad. Zumindest wenn man 90 Tote, 446 Verletzte und 17 Vermisste aus den eigenen Reihen bei der Er­stürm­ung des besagten Panzerwerkes noch unter ‚glücklich‘ verbuchen mag.

Im Folgenden berichtet Karl immer wieder von seinen Quartieren. „Berichtet“ ist zu viel gesagt, er zählt sie auf. Mir, als Nachgeborenem, war völlig unbekannt, dass Soldaten, die ja sozusagen in offiziellem Auftrag unterwegs waren, so oft privat untergebracht waren: „einqwartiert“, wie es Karl schreibt. Einquartiert mit Familienanschluss, so suggerieren es jedenfalls die Aufzeichnungen: „ich wohnte bei einer Familie Stoffel [...] in Mamer auch in Luxenburg vom 08. bis 10.10 1940 auch in privat Qwartieren untergebracht.“ Später hielt er sich im sächsischen Laußnitz auf, dann die letzte verzeichnete private Unterbringung bei einer Familie Bergmann. Die Beziehung zu den Bergmanns scheint eine intensivere gewesen zu sein. Im Nachlass finden sich zahlreiche Briefe an und von den Berg­manns – und dies bis in die späten 1960er-Jahre hinein.

Nach den Bergmanns in Sachsen begann für Karl Krüger der lange Marsch gen Osten. Erst mit dem Zug, dann zu Fuß, ab und an auf Lastwägen quer durch das südliche Polen in Richtung der heutigen Grenze zur Ukraine. Ich gebe die im Bericht aufgelisteten Städtenamen ein und berechne dank Google Maps die Länge der Reiseroute – einige der Straßen hat es wohl damals nicht gegeben, einige Städte der Route musste ich auslassen, weil ich sie einfach nicht gefunden habe –, runde 1.700 Kilometer sind es aber dennoch von Pulsnitz, dem letzten Ort auf deutschem Boden, bis Kiew. Die Reise ging über Wrocław, Katowice, Kraków, Rzeszów – ich stutze und sehe, wie nah die Stadt Rzeszów an Lublin liegt, die Mutter meiner Tochter ist dort groß geworden, ich selbst war mehr­mals dort. Von dort geht es, in der Nähe von Lubaczów, weiter über die Grenze in die damalige Sowjetunion. Am 18.07.1941 wurde Schytomyr erreicht. Nicht nur mein Großvater erreichte am 18. Juli die 300.000-Einwohner-Stadt, 120 Kilometer westlich von Kiew, am gleichen Tag schlug auch der Stab der berüchtigten Einsatzgruppe C sein Quartier in Schytomyr auf. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicher­heits­dienstes waren ideologisch geschulte Spezialkräfte, die direkt für die Ermordung von Juden, Kommunisten, Roma und Sinti, psychisch Kranken und anderen unerwünschten Personengruppen eingesetzt wurden. Die Vorgehensweise dieser Truppen muss so grauenhaft gewesen sein, dass sich der Generalstabsoffizier des eingesetzten 51. Armeekorps, Robert Bernardis, der Operation Walküre anschloss. Für die Teilnahme am Hitlerattentat wurde er im August 1944 in Plötzensee hingerichtet. Es ist überliefert, dass direkt hinter den vor­rückenden Panzern der Wehrmacht drei Lastwagen der Ein­satz­gruppe in die Stadt einrückten. Kurz darauf wurden alle Juden von Schytomyr ermordet. Kann man am 18. Juli als Wehrmachtssoldat in Schytomyr einmarschiert sein und nichts davon mitbekommen haben? Kann man ein Leben führen, einen Friseursalon eröffnen, zwei Töchter großziehen, ein gu­ter Großvater sein, ohne je darüber gesprochen zu haben? Oder hat er darüber gesprochen? Mit seiner Frau Toni? Un­wahr­scheinlich. Mir jedenfalls wollte er nichts, besser ‚fast‘ nichts, darüber erzählen.