Schlacht um Sina

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Gewaltige Scheinwerfer flammten in dem riesigen Kreuzgewölbe auf, die das Schiff in seiner ganzen Wucht erhellten und seine stählernen Flanken und die sechs mächtigen Klauen, auf denen es ruhte, aus dem Halbdunkel stanzten. Gleichzeitig war ein fernes Dröhnen zu hören, mit dem tief unter uns, in den Fundamenten dieser erstaunlichen Anlage, ein schwerer Feldgenerator anlief. Dann ging ein Zittern durch den dreihundert Meter langen Rumpf, und langsam, Meter für Meter, schwebte das Schiff vor uns in die Höhe. Die Schnauze kam uns dabei so nahe, dass wir beinahe von der Balustrade aus hätten hinüberspringen können. Die mächtigen Kraftfelder hoben die Bodenplattform soweit an, dass das Schiff bis zu den mittleren Decks auf die Höhe unseres Standpunktes gehievt wurde. Wir konnten durch die Fenster in die Brücke und die Messe sehen und sogar das Innere unserer einstigen Kabine ausmachen.

Kauffmann wollte sich immer wieder an mich wenden, auch wenn ich kaum auf ihn acht gab. Nachdem Jennifer von der Steuereinheit zurückgekehrt war, standen wir ganz vorne auf der Kanzel. Ich hatte den Arm um sie gelegt und spürte ihren Kopf an meiner Brust. Schweigend ließen wir unsere Blicke über das Schiff gleiten, über unser Schiff, über die ENTHYMESIS. In unserem Rücken quengelte Kauffmann herum. Ein unwiderstehlicher Drang, sich zu rechtfertigen, schien sich seiner zu bemächtigen. Vermutlich hatte er erst jetzt, als er das Schiff sah und spürte, was es uns bedeutete, begriffen, mit wem er es zu tun hatte. Sein Tonfall war um etliche Grade ins Kleinlaute abgerutscht.

»Es wurde beschlagnahmt«, erklärte er. »Im zeitlichen Umfeld des Jupiter-Ereignisses. Der Kommandant, der es geflogen hatte, wurde degradiert, später allerdings rehabilitiert. Mit den Details habe ich mich nie beschäftigt. Die Akte ging über den Tisch eines meiner Beamten.«

Jennifer gab ihm zu verstehen, dass er die Klappe halten konnte.

»Ob wir an Bord gehen können?«, fragte sie mich leise.

Ich wiegte den Kopf. »Wie ich sehe«, wandte ich mich an Kauffmann, »haben sie einige Modifikationen vorgenommen.«

Der Sekretär schob sich neben uns und spähte neugierig auf das Schiff hinaus, dessen gewaltiger Leib jetzt im grellen Weißlicht kräftiger Strahler glänzte. »Nun«, sagte er ausweichend. »Alles, was ich weiß, ist, dass es ziemlich mitgenommen war. Es wurde von Grund auf überholt und gewartet, und wohl auch auf den neuesten Stand gebracht.« Er sah mich ratlos an. »Wenn Sie wünschen, kann ich morgen den Leitenden Ingenieur einbestellen, der dafür verantwortlich war.«

Ich registrierte daran zunächst die ganz neue Bereitschaft eines Entgegenkommens. Deshalb beließ ich es vorläufig dabei, ihm dankend zuzunicken.

»Die Torpedoschächte wurden auf Omega-Kanonen umgerüstet«, sagte Jennifer. »Und in das Leitwerk wurde eine Zett-Zwei-Flosse eingezogen.« Sie blickte Kauffmann voller Anerkennung an, der aber offenbar nur Bahnhof verstand. »Ich glaube, ich habe euch Zivilisten unterschätzt“, säuselte sie. »Darauf kann man aufbauen!«

In den nächsten Tagen setzten wir unsere diplomatischen Bemühungen fort. Jennifer überließ das weitgehend mir. Ich war der Besonnenere, und ich hatte auch wesentlich mehr Erfahrung in diesen Dingen. Während sie sich einen kleinen Stab von Technikern und Ingenieuren zusammensuchte und eingehend die Jägerflotte und die ENTHYMESIS inspizierte, kletterte ich auf der Leiter der Hierarchien und Zuständigkeiten auf und ab. Ich ging mit aller Behutsamkeit und Langmut zu Werke, die wir uns unter den gegebenen Umständen leisten konnten. Das Bewusstsein, dass uns die Zeit davonlief, war dabei mein ständiger Begleiter. Zustatten kam mir, dass der Persönliche Sekretär Gordon Kauffmann eine unerwartete Kooperationsbereitschaft an den Tag legte. Irgendetwas musste in den unterirdischen Hangars mit ihm vorgegangen sein. Hatten wir ihn anfangs so in die Enge gedrängt, dass ich zwischenzeitlich fürchtete, er werde nach diesem Lokaltermin jeden weiteren Kontakt mit uns verweigern, so zeigte er sich im Nachhinein plötzlich umgänglich, aufgeschlossen und über alle Maßen hilfsbereit. Rational war es kaum zu erklären. Ich vermutete, dass es mit dem Anblick der ENTHYMESIS zusammenhing, der auf einen Zivilisten beeindruckend, um nicht zu sagen: furchteinflößend genug war. Wir hatten ihm unser Schoßhündchen gezeigt, und dieses Schoßhündchen war zufällig eine Dänische Dogge. Jetzt wusste er jedenfalls, was für Leute wir waren, und er beeilte sich, uns zu Diensten zu sein.

Diese Dienste konnte ich auch dringend brauchen. Ohne seine Funktion als Türöffner, juristischer Berater, Dolmetscher des politischen und verwaltungstechnischen Jargons und nicht zuletzt seelischer Beistand hätte ich es nicht geschafft. Zunächst ging es darum, meinen Anspruch auf die ENTHYMESIS geltend zu machen. In rascher Folge wurde ich von einem Zimmer ans nächste verwiesen. Mehrere Tage brachte ich in den Vorzimmern der Herren und Damen Minister, Direktoren und Sekretäre, Beauftragten und Kommissare, Generale und Behördenleiter zu. Meine Aufenthalte in den eigentlichen Büros und Besprechungszimmern der Herrschaften währten stets nur wenige Minuten. Ich sagte stets mein gleiches Sprüchlein auf, das Ergebnis war ebenfalls stets das gleiche, nämlich keines. In der Regel nannte man mir einen weiteren Namen, eine neue Zimmernummer, eine andere Abteilung. Am Ende stand zu befürchten, dass die Vorgänge in der Nacht von Pensacola in einem förmlichen Revisionsprozess neu aufgerollt werden würden. Das würde Monate dauern, aber wir hatten nur noch Wochen, vielleicht nur noch ein paar Tage. Ich beschloss daher, meine Taktik zu ändern.

Statt zu bitten und Rat einzuholen, stellte ich Forderungen und erhob Ansprüche. Statt höflich zu sein, wurde ich auftrumpfend. Statt mich abspeisen zu lassen, leistete ich mir einige Ausfälle. Statt mich auf der Ebene des mittleren Verwaltungsbaus hin und her schieben zu lassen, schrie ich mich zum jeweiligen Vorgesetzten durch. Statt zu fragen, ordnete ich an. Statt zu grüßen, erteilte ich Befehle. Statt diplomatisch vorzugehen, wurde ich unverschämt. Schließlich richtete ich mich direkt an den Kanzler, die Zuständigkeit des Ministers großzügig überspringend. Es kam zu einer persönlichen Unterredung, der ersten seit seinem Fünfminuten-Besuch an unserem Quarantäne-Bett. In eindringlichen Worten und sekundiert durch Kauffmann, den ich zuvor noch einmal ins Gebet genommen hatte, versuchte ich ihm die Situation klarzumachen. Wir waren in einem Shuttle hierher gekommen, das wir auf dem Raumhafen von Sina City im Rahmen eines verlustreichen Feuerüberfalls entwendet hatten. Die Sineser wussten, dass wir hier waren, oder sie würden es durch die nächste Warpsonde erfahren, die in spätestens zwei Wochen das Sonnensystem verlassen würde. Ich erläuterte ihm die Situation der MARQUIS DE LAPLACE und legte ihm die Lage der neugegründeten Kolonien in der Eschata-Region dar. Das prekäre Schicksal Jill Lamberts und WO Taylors verschwieg ich ihm, ebenso unsere Abmachung mit den Tloxi. Ich hütete mich, Jennifers Plan, den sie noch in den Katakomben von Sina City entwickelt hatte, auszuplaudern.

Der Kanzler hörte mir wohlwollend und konzentriert zu, aber er machte den Anschein, als rede ich in einer ihm nicht geläufigen Sprache. Er hatte die Ochsentour durch die Zivilverwaltung gemacht. Weiter als bis zu den Mondstationen und den Marsbasen war er nie gekommen. Er konnte sich unter den Räumen jenseits des Asteroidengürtels genauso wenig vorstellen wie unter einem generatorgestützten, phasenverschobenen Warpantrieb. Als Mann des Volkes, der er im Grunde war, war er froh, dass die Seuchen abgeklungen waren und dass die Ernährung der Bevölkerung wieder sichergestellt war. Er empfand Erleichterung darüber, dass die Ringe, die aus dem Jupiterdurchgang hervorgegangen waren, sich stabilisiert hatten und dass der Meteoritenregen, den sie anfänglich gespeist hatte, zurückging. Auf seine defensiven Maßnahmen, von deren Entschlossenheit wir uns hatten überzeugen können, war er zu recht stolz. Alles weitere überstieg seinen Horizont. Er war im Inneren seines Herzens ein bodenständiger Mensch, der schlechterdings nicht glauben wollte, was ich ihm an Bedrohungsszenarien an die Wand malte. Er hatte im Leben keinem Sineser gegenübergestanden, und obwohl er selbst dieser Partei nicht angehörte, wusste er, dass es eine wachsende Fraktion von Leuten gab, die schlechterdings leugneten, das Jupiter-Ereignis stünde überhaupt in einem kausalen Zusammenhang mit Handlungen, die von Sina ausgegangen seien. Dass Sina nie die offizielle Verantwortung für die Attacke übernommen hatte, erwies sich von hier aus als genialer Schachzug. Tragischerweise waren es die potentiellen Opfer, die darauf hereinfielen und die sich noch etwas darauf zugute hielten.

Ich musste meine gesamte Überredungskunst aufbieten, um ihn davon zu überzeugen, dass Sina existierte und dass dort keine guten Menschen wohnten. Glücklicherweise kamen mir nicht nur Gordon Kauffmann, sondern auch einige der anderen Adjutanten und Sekretäre des Kanzlers zuhilfe, die der Auseinandersetzung gefesselt folgten. Ich vermutete, dass auch sie von ihren eigenen Beweggründen getrieben wurden. Sie standen dem militärischen Stab näher als dem zivilen und erhofften sich etwas für ihre eigene Karriere, oder sie hatten einen Onkel, der eine Fabrik für Torpedoplasma betrieb. Das alles konnte mir gleichgültig sein, solange es meine Position stärkte. Kauffmann kannte sich hier besser aus, und er wusste es geschickt zu benutzen. Ich merkte es daran, wie er einzelne Berater des Kanzlers mehr ins Gespräch zog, während er anderen das Wort abschnitt. Das meiste, was dabei hinter den Kulissen ablief, musste mir verborgen bleiben. Ich legte auch keinen Wert darauf, in die persönlichen Intrigen eingeweiht zu werden, die bei einem solchen Vorgang auch noch alle berücksichtigt werden mussten.

 

Am Ende kam ein klassischer Formelkompromiss heraus. In der Präambel des Papiers, das dazu aufgesetzt wurde, wurde der rein defensive Charakter unserer Maßnahmen hervorgehoben. Der Kanzler übergab mir weitreichende Kompetenzen, und ich verpflichtete mich, diese einzig zur Beförderung des Friedens und zum Wohle der unierten Menschheit zu benutzen. Dann kam das Kleingedruckte. Mir wurde das sinesische Shuttle, die ENTHYMESIS, sowie die Hälfte der Jägerflotte unterstellt. Ihr offizieller Auftrag war es, in die Eschata-Region verlegt zu werden, um die dort neu gegründeten Kolonien zu sichern. Für den Konvoi selbst bekam ich außerdem das zeitlich befristete Kommando über zwei schwere Transporter und, als Geleitschutz, ein Schlachtschiff, das vor einiger Zeit in den Asteroidenwerften vom Stapel gelaufen war. Diese letzten Schiffe mussten am Ende der Mission in den erdnahen Raum zurückgeschickt werden. Gelesen und gezeichnet: der Kanzler und ich.

»Das ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte«, sagte Jennifer, als ich am Abend zu Tode erschöpft neben ihr ins Bett fiel. »Dass ein Teil der Jägerstaffeln hier bleibt, deckt sich mit meinen Absichten. Schließlich müssen wir auch an den Tross denken.«

Der »Tross«, das war die Erde, das Sonnensystem, unsere Heimat und unser Rückzugsgebiet, unsere Basis, von der wir schon so lange abgeschnitten gewesen waren. Seit sie sich in strategischen Planungen erging, gewöhnte sie sich ein militärgeschichtliches Vokabular an. Nicht nur ihr Vater, der alte Ash, war ein begeisterter Hobby-Historiker gewesen, der seine Pensionszeit zur Abfassung eines anerkannten Standardwerkes über die Punischen Kriege genutzt hatte, auch sie hatte dieses Faible nie verleugnet. Als Jugendliche hatte sie sich kreuz und quer durch die umfangreiche althistorische Bibliothek ihres Vaters gelesen, sie entdeckte ihre Leidenschaft jetzt wieder und verschlang Dutzende von alten Chroniken und Militaria. Ihr Jargon troff von Wörtern wie Nachschublinien und Flankenbildung, Zentrum und Keil, Flügel und Hauptmacht, Versorgung und Durchstoß. Und eben Tross. Sie saß stundenlang über ihrem MasterBoard, auf dem sie kleine Symbole hin und her schob. Eine blaue Spindel war ein Jagdgeschwader. Ein rotes Dreieck war ein Schlachtschiff. Ein langer gelber Balken war die MARQUIS DE LAPLACE. Sie konfrontierte mich mit Details aus der Kriegsgeschichte. Waterloo, Cannae, Issos, Tannenberg gingen ihr wie Alltagsbegriffe von den Lippen. Ihr Codename für das, was sie in bezug auf die Sineser ausheckte, war kein geringerer als »Gaugamela«.

In den nächsten Tagen forcierten wir unsere Anstrengungen noch. Die Vollmacht in der Tasche, ging es nun darum, das alles auch in die Tat umzusetzen. Jennifer verbrachte jede freie Minute in den unterirdischen Hangars, wo sie den Teil der Flotte auswählte, der uns nach Eschata begleiten sollte. Mit den Technikern sprach sie die Reprogrammierung der Warpgeneratoren durch. Glücklicherweise ließ diese sich zentral bewerkstelligen und von der Automatik auf viele Einheiten überspielen. In improvisierten Seminaren unterwies sie die Piloten im Gebrauch der neuen Technologie. Die wenigsten konnten sich darunter etwas vorstellen. Sie waren an Simulatoren ausgebildet worden und fieberten dem Augenblick entgegen, da sie zum ersten Mal in den Orbit aufsteigen würden. Dennoch waren sie begeistert bei der Sache, und es meldeten sich mehr Freiwillige, als wir in unserem Geschwader unterbringen konnten.

Derweil kümmerte ich mich um den Rest unserer Armada. Auch auf dem Mars standen Mannschaften und Maschinen, die mir unterstellt werden würden, und der Marschbefehl musste auch an die Asteroidenwerften übermittelt werden, die die großen Schiffe ebenfalls auf erweiterten Warp umrüsten mussten. Dazu bedienten wir uns eines Kommunikationsverfahrens, das die Zivilregierung in den Jahren seit dem Jupiter-Ereignis entwickelt und mittlerweile zur Perfektion gebracht hatte. Ich lernte aus all’ dem, dass das Verhältnis zu den Sinesern und ihren Überwachungssonden doch nicht so blauäugig war, wie es mir während der Verhandlungen geschienen hatte. Immerhin hatte man es fertiggebracht, ein beachtliches Flottenbauprogramm in die Tat umzusetzen, ohne sinesische Gegenmaßnahmen zu provozieren.

Zur Übermittlung von Nachrichten an die Marsbasen und die anderen extraterrestrischen Stellen bediente man sich alter, längst vergessen oder ausgestorben geglaubter Sprachen und Dialekte. Da man davon ausging, dass der gesamte Funkverkehr von den sinesischen Warpsonden abgehört und in Sina City ausgewertet wurde, musste man sich etwas einfallen lassen, um militärisch und logistisch brisante Mitteilungen zu verschlüsseln. Und da man ebenfalls davon auszugehen hatte, dass die sinesischen Experten jeden mathematischen Schlüssel knacken würden, besann man sich anderer Kommunikationsmöglichkeiten, deren Strukturen gewachsen und daher nicht algorithmisch zu dechiffrieren waren. Das waren die vielen Sprachen und tausende von Dialekten, die es einmal auf der Erde gegeben hatte, ehe das Unierte Englisch diesen Wildwuchs in einem groß angelegten Heckenschnitt beseitigt hatte. Freilich war es nicht damit getan, dass man alte Wörterbücher und Grammatiken aufstöberte, die sich in der Library of Congress oder in irgendeinem Regionalarchiv hätten finden lassen. Man hätte auch sie übermitteln müssen und dem Gegner damit den Schlüssel geliefert. Es mussten Muttersprachler sein, und das zu einer Zeit, in der die Menschheit durch den Jupiter-Durchgang dezimiert und verelendet war und in der die Union seit mehr als zwei Jahrhunderten eine kulturelle Gleichschaltung durchgeführt hatte. Das Verkehrsenglisch hatte die lokalen Sprachen und Literaturen beinahe vollständig verdrängt, und in den Jahren unmittelbar nach der Katastrophe war das Interesse an ausgestorbenen Dialekten naturgemäß noch sehr viel geringer. Man hatte anderes zu tun.

Es war der geniale Einfall des Kanzlers – oder eines seiner Berater, dessen Namen man nie erfahren würde –, diese halb verschollenen Sprachen nicht nur auszugraben, sondern sie zu aktivieren und sie in den Dienst der gemeinsamen Sache zu stellen. Und das große Wort von der Unierten Menschheit bekam dadurch wieder einen neuen, anderen, inhaltsvolleren Sinn. Ob es ursprünglich Cole Johnson selbst war, der die zündende Idee hatte, mag im Nachhinein als nebensächlich erscheinen; fest steht, dass es seiner Tatkraft zuzuschreiben war, dass das Projekt auch verwirklicht wurde. Mit großem organisatorischen Aufwand und bei strengster Geheimhaltung wurden die Kontinente durchforstet. Und in den anschließenden Monaten füllten sich die Fracht- und Passagierschiffe, die zu den Marsbasen, den Asteroidenwerften und den letzten Außenposten auf den Saturnmonden unterwegs waren, mit seltsamen Reisenden.

Alte Samen aus den abgelegenen Tundren Skandinaviens flogen zu Verwandtenbesuchen auf den Roten Planeten. Kauzige Professoren, die sich vor Jahrzehnten des Uigurischen, Mongolischen oder Serbokroatischen angenommen hatten, hielten Seminare und Ringvorlesungen quer durch das Sonnensystem. Man stöberte zahnlose Tibeter auf, und die Fährschiffe waren bevölkert von Indiofrauen, die noch des Qechua mächtig waren. Die Steppen- und Gebirgsregionen der Erde wurden nach einsamen Stämmen durchstöbert, deren Vertreter man zu Folkloredarbietungen und Weiterbildungen auf die weit entfernten Stationen schickte. Und allmählich verschwand das Unierte Englisch aus dem offiziellen und weniger offiziellen Funkverkehr. Ein babylonisches Stimmengewirr füllte die Kanäle. Man holte die letzten Navajo und Papua aus ihren Reservaten und ließ sie über Milliarden Kilometer hinweg Belangloses plaudern. Man verstreute Familien und Sippen, die sich ihres eigenen Idioms bedienten, über riesige Räume. Schließlich entdeckte man die Möglichkeiten der nonverbalen Kommunikation. HoloVideos wurden übertragen, auf denen Trachtenumzüge zu sehen waren, wobei die Nuancen der Kostümierung oder die Details der Abläufe nur noch den Bewohnern eines einzigen Dorfes verständlich waren. Die Gebärdensprache der afrikanischen Tschagga kam ebenso zum Einsatz wie das unverständliche und gehaltvolle Gestammel buddhistischer Schamanen. Das Sonnensystem verwandelte sich in einen Basar der Kulturen, bei dem nicht zwei Nachrichten in der gleichen Sprache übermittelt wurden und bei dem der Reichtum der Dialekte, der religiösen Anspielungen, der traditionsgebundenen Rituale und der Geheimwörter jeden Mithörer in die Verzweiflung treiben musste. Details der Triebwerkstechnik oder der Sondenprogrammierung wurden in korsischer oder kretischer Mundart durchgegeben. Oder man bediente sich philosophischer Zitatenschätze und Sprichwortsammlungen konfuzianischer Weistümer, um Marschbefehle und Truppenverlegungen zu transportieren. Alte Frauen aus Feuerland oder von den Sundainseln hockten, Pantoffeln an den Füßen, Wollsocken strickend, in den schweren Kreuzern und auf den wenige Mann starken Vorposten jenseits der Neptunbahn und nuschelten miteinander über Familientratsch und längst verblichene Affairen, in die sie hin und wieder ein Codewort oder eine Produktionsziffer einfließen ließen. Aus den Lautsprechern der offenen Kanäle scholl das heisere Bellen arabischer Untersprachen, die nur noch von wenigen libyschen Nomaden beherrscht wurden. Der Äther war erfüllt vom Singsang hinduistischer Tempelzeremonien oder hebräischer Gebete, in deren Variationen der Eingeweihte eine verklausulierte Information zu entdecken vermochte. Und um das Chaos perfekt zu machen, war der gesamte Funkverkehr auf eine Stunde am Tag beschränkt. Dann quollen die Kanäle über, während in der restlichen Zeit im ganzen Sonnensystem Funkstille herrschte. Das erklärte auch, warum bei unserem Anflug auf die Erde sämtliche Wellenlänge geschwiegen hatten wie nach einem Weltuntergang.

»Das Programm«, schloss Kauffmann, als er mich davon in Kenntnis setzte, »war ein voller Erfolg. Nicht nur deshalb, weil es uns eine Vielzahl von Verschlüsselungsmöglichkeiten bot, die wir kaum selbst noch überblickten, sondern auch, weil es uns den Reichtum unserer gemeinschaftlichen Überlieferung wieder zum Bewusstsein brachte, den wir beinahe dem Vergessen hätten anheimfallen lassen. Selten habe ich so viele stolze und selbstbewusste Menschen gesehen wie unter den anatolischen Hirten und indonesischen Fakiren, den singapurer Geschäftsleuten und australischen Aborigines, die wir anheuerten, weil sie über ein Wissen und eine Fertigkeit verfügten, die in der ganzen Galaxis einzigartig und nicht zu reproduzieren ist.«

Ich mochte das gerne glauben, verriet das Leuchten in seinen Augen mir doch, wie sehr das Projekt ihn begeistert hatte und noch begeisterte. Vor allem aber setzte es uns in Stand, den geplanten Aufmarsch voranzutreiben. Selbst wenn noch eine der sinesischen Sonden ablegen und ihre Informationen nach Sina bringen sollte, würde man dem zum Prinzip erhobenen Kauderwelsch dort schwerlich etwas entnehmen können. Und was für Informationen wurden in diesen Tagen nicht verschoben! Endlose Listen mussten abgearbeitet werden. Truppenstärken, Aufstellungen von Material und Nachschub, Treibstoff- und Munitionsvorräte, Organisation von Konvois und Zusammenstellung von Geleitzügen, komplizierte Staffelung von Befehlsstrukturen, Flugrouten, Computerprogrammierungen, Gefechtspläne. Alles wurde im speziellen Argot der Unterwelt von Buenos Aires oder im scholastischen Jargon theologischer Experten übermittelt.

Endlich waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Die größte interstellare Armada, die je einem Kommandanten unterstellt worden war, stand bereit, auf meinen Befehl hin in den Warpraum aufzubrechen. Selbst ein Stein hätte ein mulmiges Gefühl gehabt. Seit Tagen schlief ich schlecht. Mein Magen, dessen Dienste zur Wiedererlangung meines Kampfgewichtes dringend nötig gewesen wären, revoltierte. Ich musste mich zu den Mahlzeiten zwingen; dennoch stagnierte mein Heilungsprozess. Aber darauf durften wir jetzt keine Rücksicht mehr nehmen.

Bis jetzt war alles nur Papier und vielstimmige, babylonisch verbrämte Absicht. Noch war kein Schuss gefallen, kein Triebwerk gezündet, hatte sich kein Hangartor geöffnet. Selbst für den aufmerksamen Beobachter dürfte sich allenfalls eine Zunahme des Funkverkehrs ergeben haben. Alles andere hatte im Verborgenen stattgefunden, in unterirdischen Werften oder in der Kryptik unverständlicher Mitteilungen. Das würde sich nun ändern. Mit dem Befehl zum Abheben durchschritten wir ein Tor, das sich im selben Augenblick krachend hinter uns schließen würde. Noch konnten wir die ganze Aktion abbrechen, aber wenn morgen die ENTHYMESIS und die Jägerstaffeln die Feldgeneratoren anwarfen und die Reaktoren zündeten, gab es kein Zurück mehr. Dann waren die Würfel geworfen, die fallen würden, wie sie fallen mussten. Alles lag dann in Gottes Hand. Leider gab es keinen Gott, dessen tröstlicher Grausamkeit wir uns anvertrauen konnten. Wir mussten selbst wissen, was wir taten. Es hing alles von uns selbst ab. Das machte es nicht gerade leichter.

 

Am letzten Abend vor dem Starttermin kamen wir in kleinem Kreis mit dem Kanzler und seinem Persönlichen zusammen. Es wurde ein exquisites Menü serviert, dazu erlesene Weine, teilweise allerneuester Jahrgänge. Zumindest was die Agrikultur betraf, war die Menschheit wieder über den Berg. Was ihre galaktischen Ambitionen anging, das mussten die nächsten Tage erweisen. Gedämpfte klassische Musik erfüllte den Raum, ein kleines Kabinett in einer der höchsten Etagen der Bunkerfestung. Es war eine ausgeschalte Bergspitze, einige hundert Stockwerke über den Wohn- und Regierungstrakten, in denen wir die letzten Wochen verbracht hatten. Massive Felswände schlossen sich zu einer Kuppel über dem privat anmutenden Zimmer. Nach allen Seiten waren große Fenster in das Gestein gebrochen, sodass wir einen umfassenden Blick über die Landschaft genießen konnten. Tief unter uns rauschte der Fluss in seinem gewundenen Bett. Das Tal hatte sich in den vergangenen Tagen von der Sohle her zu begrünen begonnen. Die Mandelbäume hatten die Blüte beendet und hellgrün knospendes Laub hervorgetrieben. Krokusse bildeten blaue Lachen, die aus dieser Höhe wie schimmernde, vom Wind gewellte Weiher aussahen. Aber auch Magnolien und wilde Obstbäume blühten schon. Der Abendhimmel war klar. Im Lauf der Mahlzeit trübte er sich flamingofarben ein und loderte dann für wenige Augenblicke wie Lava auf, ehe er rasch erkaltete und steingrau wurde. Die ersten Sterne zogen auf. Die Ringe wurden sichtbar, die bei Tag von der Sonne überstrahlt wurden, sich jetzt aber als hauchfeine silberglänzende Filamente über das südliche Firmament zogen. Ich hatte darauf gedrungen, die Batterien, die sich dort befanden, zu verstärken. In den größeren Trümmern, die nach Kilometern maßen, waren zahlenkräftige Einheiten untergebracht, die mit ihren Geschützen einen wirkungsvollen Sperrgürtel bildeten. In den kleineren Bruchstücken bis herab zu Felsbrocken von wenigen Metern waren automatische, KI-gesteuerte Kanonen montiert worden. Man hoffte so, die erste Welle einer Invasionsarmee auffangen oder sie so lange in Schach halten zu können, bis die Jagdgeschwader aufgestiegen waren. All das war ungewiss. Aber allein die Anstrengungen der zurückliegenden Wochen hatten noch einige besonders eklatante Lücken geschlossen.

Dem Kanzler war mein sorgenvoller Blick zum Himmel nicht entgangen. »Von morgen an lastet eine schwere Verantwortung auf Ihren Schultern«, sagte er. Das war das Zeichen, dass der der Konversation gewidmete Teil des Abends beendet war. Die Teller und Schüsseln, die in meinem Fall fast unberührt waren, wurden abgetragen. Liköre, Kaffee, Qat-Zigaretten und echte Tabakwaren wurden gereicht.

»Ich kann nur hoffen«, fuhr Seine Eminenz fort, »dass Sie sich dessen bewusst sind.«

Jennifer ließ sich einen Rhabarber-Kiwi-Drink mixen, während ich befand, dass ich einen Whisky brauchen konnte. Kauffmann bestellte einen Mokka. Der Kanzler blieb beim Wein, zündete sich aber eine Zigarette an.

»Das Schicksal einer großen Flotte liegt in ihren Händen. Vielleicht das der ganzen Menschheit.« Er paffte blaue Rauchwolken und sah mich durch die kreisförmigen Kringel durchdringend an.

»Selbstverständlich sind wir uns darüber im klaren«, beeilte ich mich zu sagen.

Ich wählte den Plural, weil mir aufgefallen war, dass er mit einer Miene zwischen Jennifer und mir hin und her blickte, die zu besagen schien, dass er sie für die eigentliche Antreiberin des ganzen Unterfangens hielt. Was nicht falsch, aber auch nicht vollkommen richtig war; ich stand durchaus hinter ihren Überlegungen.

»Wenn ich recht informiert bin«, sagte Cole Johnson mit einem Seitenblick zu seinem Sekretär, »ist den Sinesern bisher sowohl der Aufenthaltsort der MARQUIS DE LAPLACE als auch die Position der von Ihnen neugegründeten Kolonien unbekannt.“ Er zögerte, als denke er über etwas nach, das ihm entfallen war.

»Die Region Eschata«, warf Kauffmann ein, »im Nebel M42.«

Jennifer und ich nickten.

»Wenn Sie nun dorthin fliegen«, fuhr der Kanzler nach einem Moment der Zerstreuung fort, »werden Sie die Aufmerksamkeit der Sineser unweigerlich auf diese Regionen lenken.«

Jennifer machte eine Bewegung, als wolle sie das Wort ergreifen, aber der Kanzler ging nicht darauf ein. Ich berührte sie am Arm, um sie zurückzuhalten.

»Wir können nur hoffen«, seufzte Johnson, »dass sie das nicht als aggressiven Akt auffassen. Ich werde deshalb ein diplomatisches Kommuniqué übermitteln, in dem ich die friedlichen Absichten dieser Kolonisierung und den rein defensiven Charakter unserer Wiederbewaffnung herausstreiche und auf eine Wiederaufnahme der Gespräche dringe.«

Er schwieg und sog an seiner Zigarette, die er dann im Aschenbecher ausquetschte. Der Geruch von echtem verbranntem Tabak, der in dem geschlossenen Raum noch sehr viel intensiver war, faszinierte mich. Allerdings war ich so schwach auf dem Magen, dass mir der bloße Gedanke daran, auch nur eine Runde zu Qatten, beinahe übel werden ließ.

»Schließlich haben wir ja nicht vor, Sina zu überfallen oder so etwas.«

Der Satz des Kanzlers hallte in der betretenen Stille wider. Wir mussten etwas entgegnen, aber mir fiel nichts ein. Glücklicherweise ergriff Kauffmann das Wort und wies darauf hin, dass die Sineser nach Lombok alle Verhandlungen abgebrochen hatten und seit dem Jupiter-Ereignis auf allen diplomatischen Kanälen geräuschvoll schwiegen.

»Das muss ja nicht immer so bleiben«, murmelte Seine Eminenz.

Ich konnte ihm unumwunden beipflichten. Er hatte recht: unser Verhältnis zu Sina musste auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden. Was seinen Argwohn, wir könnten die Kolonien verraten, anging, konnten wir ihn beruhigen. Dieser Punkt hatte uns selbst die meisten Kopfschmerzen bereitet, und wir konnten nur hoffen, dass wir uns nicht selbst belogen, wenn wir seine Zweifel zerstreuten. Wir hatten vor, zunächst die Dunkelwolke anzufliegen. Die besonderen Eigenschaften der Dunklen Materie brachten es mit sich, dass Warpsignaturen geschluckt wurden. Zwar wussten wir nichts über den aktuellen Aufenthaltsort der MARQUIS DE LAPLACE. Sie musste sich aber in der Nähe der Dunkelwolke im Kleinen Korridor befinden. Und wenn ich Wiszewsky richtig einschätzte, bzw. wenn er die Situation ebenso einschätzte, wie ich es an seiner Stelle getan hätte, gab es sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass er das Mutterschiff selbst in die Dunkelwolke verlegt hatte. Das war nach unserem Verschwinden und in Anbetracht der sinesischen Späher, die den Kleinen und den Großen Korridor durchforschten, die einzige logisch erscheinende Möglichkeit. Nachdem wir unser Geschwader dorthin verlegt und den Kontakt zur MARQUIS DE LAPLACE hergestellt hatten, würden wir weitersehen. Über unsere Planungen, die über diesen Punkt hinausgingen, schwiegen wir uns wohlweislich aus.

Wenig später hob der Kanzler die Runde auf. Er verabschiedete sich feierlich und ein wenig müde von uns. Wir dankten ihm förmlich für sein Entgegenkommen und das in uns gesetzte Vertrauen. Dann packte ich Kauffmann an der Schulter. Ohne ihn hätten wir es nicht bis hierher geschafft. Die körperliche Geste war ihm unangenehm. Aber die Anerkennung für seine unermüdliche Unterstützung schmeichelte ihm sichtlich. Schwer zu sagen, wofür er uns eigentlich hielt. Für Abenteurer, Haudegen, Wahnsinnige. Für verantwortungsbewusste Leute ganz sicher nicht. Und dennoch hatte er in die Wege geleitet, dass uns Machtmittel in die Hand gegeben wurde, die kaum ein anderer Kommandant in der noch jungen interstellaren Geschichte der Unierten Menschheit jemals auf sich hatte vereinen können. Selbst General Rogers hatte erst auf dem Höhepunkt der Schlacht von Persephone, im Angesicht der drohenden Niederlage, als er alle Kompetenzen über die Flotte an sich zog und den bis heute umstrittenen völkerrechtswidrigen Antimaterieangriff befahl, eine vergleichbare Armada seiner Person unterstellt gehabt. Schon eine Stunde später, nach dem Untergang der Großen Sinesischen Flotte, hatte er einen Großteil der Befehlsgewalt wieder abgeben müssen.