Schlacht um Sina

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»Hier haben wir es mit Politikern zu tun«, sagte ich ein ums andere Mal. »Da zählt der Ton mehr als die Worte. Da muss man zwischen den Zeilen lesen, den Herrschaften Honig in den Bart schmieren und sich in den protokollarischen Nuancen von Unterwürfigkeitsgesten und Ergebenheitsadressen ergehen. Ein schroffer Auftritt wie deiner heute Mittag kann die behutsamen Vorstöße von Wochen zunichte machen.«

Sie verdrehte die Augen, packte das Geländer, dass das Holofeld zitterte, und beugte sich darüber, als wolle sie sich übergeben.

»Wir müssen intelligent und mit Zähigkeit vorgehen«, dozierte ich. »Vertrauen schaffen, für gute Atmosphäre sorgen, freundschaftliche Kontakte aufbauen.«

»Ich kotze gleich«, knurrte sie.

Ihr Kopf war außerhalb des knisternden Kraftfeldes, das sie auf Höhe der Schultern umschloss. Der frische Bergwind zauste ihr offenes Haar; die kalte Luft rötete ihre Wangen. Schließlich richtete sie sich auf und ging ins Zimmer. Ich folgte ihr. Die schmale Balkontür schloss sich schmatzend hinter uns.

Wir mussten auf Zeit spielen. Gleichzeitig rann uns die Zeit durch die Finger. Dieses Dilemma raubte Jennifer beinahe den Verstand. Hinzu kam die schreckliche Ungewissheit. Möglicherweise waren unsere Freunde und Kameraden in Sina City, auf der MARQUIS DE LAPLACE und in Eschata längst tot. Aber diesen Gedanken durften wir erst gar nicht in uns aufkommen lassen.

Wir hatten die Hoffnung darauf, dass unserer Bitte entsprochen werde, schon beinahe aufgegeben, als die Automatik der Lokalen Kommunikation Sekretär Kauffmann meldete. Er empfing uns in der kleinen Vorhalle unserer Suite und geleitete uns nach der Begrüßung zu den Elevatorschächten, die in abgerundeten sechseckigen Durchgängen auf jeder Etage angebracht waren. Er war allein, aber jedes seiner Worte machte deutlich, dass sein Hiersein im Wissen und mit Billigung der allerhöchsten Stellen stattfand. Die Überwachungsmöglichkeiten, die die unzählbaren Augen und Ohren der Lokalen Kommunikation boten, waren gar nicht nötig, damit wir uns beobachtet fühlten. Ohnehin konnte es keinen Zweifel darüber geben, dass selbst unsere Privaträume abgehört wurden.

Kauffmann plauderte unverfänglich. Erst als wir die Fahrstuhlkabine betraten, wurde er vertraulicher. Die Türen glitten sanft ineinander. Der Feldgenerator heulte gedämpft auf. Dann stürzten wir, wie wir den Anzeigen entnahmen, mehr als tausend Stockwerke in die Tiefe. Der Sekretär spähte unsere Gesichter aus. Für ihn als Zivilisten war das wohl eine tolle Sache. Aber er hatte nicht mit der Abgebrühtheit der Fliegenden Crew gerechnet, insbesondere mit zwei so alten Hasen wie uns, die jenseits der Großen Mauer gewesen waren. Jennifer erwiderte seine Neugier mit frechem Feixen. Ich beeilte mich, ihn wieder ins Gespräch zu bringen, während das HoloBoard über unseren Köpfen die Decks in Zwanzigerschritten herunterzählte.

»Ich habe über unsere letzte Unterhaltung nachgedacht«, sagte Kauffmann, »und mich auch mit dem Kanzler besprochen.«

Mehr gab er nicht preis. Er vermied es auch geflissentlich, es so aussehen zu lassen, als gebe er Jennifer unverschämter Forderung nach. Umgekehrt machte ich ihr ein Zeichen, alle Rückstände des Triumphs aus ihrer Miene zu verbannen.

»Mir scheint«, fuhr Kauffmann in der typischen verklausulierten Weise fort, »dass Sie einen falschen Eindruck gewonnen haben. Das möchten wir richtig stellen. Und da der Augenschein immer stärker als die bloße Auskunft ist, möchte ich Ihnen etwas zeigen.«

Er sonnte sich in seiner Eloquenz. Ich sah, dass Jennifer innerlich kochte. Dicht neben ihr stehend, fasste ich ihre Hand und presste sie nachdrücklich.

»Da bin ich aber gespannt«, sagte ich. »Im übrigen wissen wir die Anstrengungen, die hier unternommen worden sind, durchaus zu würdigen. Allein diese Festung, die Sie hier ins Werk gesetzt haben.«

Ich ließ die Blicke anerkennend über die vierstellige Skala des generatorgetriebenen Fahrstuhls wandern. Kauffmann grinste geschmeichelt. Jennifer verdrehte die Augen.

»Sehr schön«, sagte der Sekretär, als setze er seine Unterschrift unter ein staatstragendes und belangloses Dokument. »Dann sind wir uns ja einig. – Gestatten Sie, dass ich vorangehe.«

Der Grund des Schachtes war erreicht. Obwohl das künstliche Kraftfeld die Beschleunigungs- und Verzögerungskräfte weitgehend eliminierte, konnte es einem in den Magen gehen. Aber was war das schon verglichen mit den Fliehkräften, die auftraten, wenn Jennifer die ENTHYMESIS bei vollen Schub aus ihrem Hangar im Großen Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE jagte?! Während Kauffmann in den Vorraum hinaustrat, riss Jennifer mich am Arm zu sich.

»Noch ein solcher Satz«, zischte sie, »und ich werde mich übergeben.«

Ich schloss die Hand um ihren Oberarm und führte sie wie eine Gefangene einen halben Schritt vor mir. »Reiß dich zusammen!«

Wir waren in einem Stollen, der direkt aus dem massiven Felsen gebrochen war. Wie in einem Bergwerk war der nackte Stein noch an den meisten Stellen zu erkennen, dunkler, von schwarzen Gängen geäderter Basalt. Nur hier und da hatte man die Wölbung mit Bauquarz und Spritzbeton ausgekleidet und verstärkt. Offene Flammer erhellten den Stollen, der an einen alten Steinkohleflöz erinnerte. Auf dem Boden standen Pfützen aus Kondenswasser, das überall rieselte und tropfte. Kauffmann ging voran. In seinem teuren Anzug, mit seinem sanften Gang, den manikürten Fingern und der weichen Aussprache hätte er schwerlich irgendwo so fehl am Platze sein können wie hier. Was wollte er uns vorführen? Eine Mine? Dieses Gestein war vulkanisch, da würde man kaum Erz schürfen.

Wir folgten ihm um einige Biegungen. Ab und zu öffnete sich der Gang zu engen Kreuzungen, an denen andere Stollen abzweigten. Niemand sprach ein Wort. Wir mussten die Köpfe einziehen, da manchmal rohe Felsquader aus der niedrigen Decke vorsprangen, und hintereinandergehen, da der Stollen sehr schmal war. Ein Moment der Bedrückung war nicht zu leugnen. Kilometerdicke Gesteinsdecken lasteten auf uns. Und wenn uns der freie Fall und vervielfachte Erdbeschleunigung nichts ausgemacht hatten, so machte uns dieses Eingeschlossensein in engen unterirdischen Räumen zu schaffen.

Endlich weitete sich der Stollen. Er führte auf eine Art Galerie, die auf der einen Seite vom nackten, grobbehauenen Fels, auf der anderen von einem hüfthohen Geländer begrenzt wurde. Es schien sich um einen Umgang zu handeln, der sich nach rechts und links hinter Stahlträgern und Felsvorsprüngen verlor. Da er mehr als zehn Meter tief war, konnten wir nicht über das Geländer hinwegsehen. Sekretär Kauffmann blieb stehen und wandte sich mit theatralischer Gebärde zu uns um. Dann gingen wir gemeinsam die letzten Schritte nach vorne.

Jennifer schüttelte meine Hand ab und pfiff leise durch die Zähne. »Gar nicht schlecht«, sagte sie. Sie hatte das Geländer mit beiden Fäusten umklammert und lehnte sich darüber hinaus, als stehe sie an der Reling eines großen Schiffes, hebe die Füße vom Boden und wiege sich über der Weite des abendlichen Ozeans. Ich trat neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter, die andere auf das Geländer und sah in die Tiefe. Der Anblick war nicht von schlechten Eltern. Ich musste mein Bild, das ich mir in den letzten Tagen von der Notstandsregierung gemacht hatte, revidieren.

Wir befanden uns auf einem Balkon, der etliche Meter über dem Boden einer riesigen Halle an deren kuppelförmiger Seitenwand umlief. Die Halle war fünfzig Meter tief und unabsehbar breit, da sie sich nach beiden Seiten in der düsteren Beleuchtung verlor. Direkt unter uns standen Jäger, schwere Abfangjäger und Jagdbomber. Sie waren gegeneinander versetzt, sodass die Schnauze des einen zwischen die Heckflossen der beiden anderen zielte. Die Deltaflügel waren eingeklappt, Cockpits und Geschütze durch Überwürfe aus zähem Elastil geschützt, die offenen Bombenschächte glänzten leer. Hier und da waren Rampen an die Geschosse herangefahren. Dort fanden tagsüber Wartungsarbeiten oder Messungen statt. Aber gegenwärtig war die Halle menschenleer. Vermutlich hatte Kauffmann bewusst die abendliche Stunde abgewartet, um uns herzuführen.

Wir gingen langsam an dem Geländer entlang und musterten schweigend das Geschwader, das dort in Stille und Verborgenheit auf seinen Einsatz wartete. Auf Jennifers Gesicht malte sich ein erregter Schimmer. Mit einem raschen Seitenblick holte sie sich meine Redeerlaubnis ein. Indem ich den Finger an das Augenlid legte, bedeutete ich ihr, sich unserer Abmachung zu entsinnen und keine verfänglichen Fragen zu stellen.

»Wie sind sie bewaffnet?«, erkundigte sie sich arglos.

Kauffmann lächelte eingebildet, wie alle Politiker, die stolz auf das sind, was sie weder hergestellt, noch bezahlt, sondern lediglich in Auftrag gegeben haben. »Es sind unterschiedliche Modelle«, sagte er. »Schwere strategische Langstreckenbomber, taktische Kampfbomber, schnelle Jäger, Aufklärer. Die Aufzählung der technischen Daten würde sie nur langweilen.«

Jennifer versicherte ihn, dass das keineswegs der Fall wäre. Kauffmann sah sich in die Enge gedrängt. Die Floskel war nur eine diplomatische Umschreibung dafür, dass die Einzelheiten ihm nicht präsent waren. Jennifer dagegen glühte vor Begeisterung. Am liebsten wäre sie in die erste beste Maschine gestiegen und hätte eine Runde gedreht.

»Lassen Sie’s gut sein«, sagte sie nonchalant. »Ich seh’s schon selber.«

Wir gingen weiter in Tribünenhöhe über der Flotte dahin, während sie halblaut aufzählte, was sie von hier oben erkennen konnte. »Zwillingsgeschütze auf Röntgenlaserbasis als Bordkanonen. Thermische Granaten. Antimaterietorpedos. KI-gestützte Lenkwaffen. Wie ist die Leistung der Generatoren?«

Kauffmann lief rot an. Eine solche Examinierung war er nicht gewohnt. »Ich glaube Mach 1000«, sagte er und gönnte sich die Jovialität eines unsicheren Lachens. »Kann das sein?«

 

»Als Gefechtsgeschwindigkeit«, nickte Jennifer. »Aber ich hoffe doch, sie sind warptauglich?!«

Kauffmann machte eine ausweichende Geste. Jennifer sah es ein. Trotzdem setzte sie den Katechismus fort, das ganze machte ihr einfach zu viel Spaß. »Wie viele?«

Der Sekretär schöpfte Luft. »Achthundert Maschinen in dieser Halle«, sagte er. »Weltweit etwas über zweitausend. Auf den Marsbasen und in den Asteroiden betreiben wir ebenfalls Werften. Dort bauen wir einige Großraumtransporter und Schlachtschiffe.«

Jennifer hatte sich vom Geländer gelöst. Sie ging auf der breiten Empore im Kreis, das Kinn in die Faust gestützt, während sie Überschlagsrechnungen vor sich hinmurmelte. Kauffmann musterte sie ängstlich, als erwarte er, eine persönliche Zensur für seine Leistung ausgestellt zu bekommen.

Ich zog seine Aufmerksamkeit auf mich und bemühte mich um einen offiziellen Tonfall. Dabei kam ich mir vor wie ein Staatsmann auf Truppenbesuch, der für das Protokoll ein druckfertiges Statement abgeben soll. »Es beruhigt uns sehr, das zu sehen«, stellte ich fest. »Verstehen Sie uns nicht falsch. Eine sinesische Invasion steht zwar nach unseren Informationen nicht unmittelbar ...«

Jennifer schob mich aus dem Weg, als sie wieder zum Geländer nach vorne ging und sinnend in die Tiefe sah. »Für den Anfang nicht schlecht«, sagte sie. »Aber gegen einen sinesischen Verband, der auf einem Ikosaeder stationiert ist, haben sie keine Chance.«

Ich versuchte ihr verzweifelt Zeichen zu machen, die Klappe zu halten. Auch wenn Kauffmann vermutlich kein Wort von dem verstand, was sie sagte, und auch wenn Ikosaeder ihm zum letzten Mal im Geometrieunterricht begegnet waren, bestand die Gefahr, dass sie sich verplapperte. Die eigentliche Pointe ihrer Bemerkung musste dem Sekretär ohnehin verborgen bleiben: er konnte nicht ahnen, dass sie allein einen Ikosaeder und einen sinesischen Jägerverband ausgetrickst hatte. Aber darum ging es gar nicht. Wenn Kauffmann Witterung davon bekam, dass unsere Überlegungen gar nicht defensiver Natur waren, konnten wir augenblicklich einpacken. Man würde uns eher noch einsperren als unterstützen.

»Die Verteidigung des erdnahen Raumes«, beeilte ich mich zu sagen, »ist damit sichergestellt. Eine Aggression wird zurückgeschlagen werden.«

Kauffmann blickte irritiert zwischen Jennifer und mir hin und her. Offenbar hielt er uns beide für mitgenommen von all dem, was wir mitgemacht hatten. Als er meine anerkennenden Worte hörte, heiterte seine verunsicherte Miene sich auf. Er machte Anstalten, zum Fahrstuhlschacht zurückzukehren, aber Jennifer nahm das nicht zur Kenntnis. Sie stolzierte am Geländer auf und ab und inspizierte weiter die darunter geparkte Jägerflotte.

»Es geht hier nicht um Heimatschutz«, knurrte sie zwischen den Zähnen, als sie auf ihrer Wanderung an mir vorbeikam.

»Halt bloß die Klappe«, zischte ich. »Wenn er davon Wind bekommt, können wir einpacken!«

Sie lachte hell auf, lehnte sich über die Stahlstange und starrte in die Tiefe. Ich wollte gar nicht wissen, welches Szenario vor ihrem geistigen Auge ablief. Würde sie es fertigbringen, dieses ganze Geschwader, das Unsummen gekostet haben musste, ins Feuer zu schicken? Es in einem Gefecht zu opfern? Wie absurd war doch der moderne Krieg, der nur noch von der technischen Rüstung und nicht mehr von der Tapferkeit der Soldaten entschieden wurde. Im Grunde traten die Manufakturen und Fabriken, die Waffenschmieden und Labors, die Geschützgießereien und Munitionshersteller gegeneinander an. Dass all das im Kampf aufeinander losgelassen wurde, war von hier aus gesehen nebensächlich. Wer in der Entwicklung der neuesten Waffensysteme die Nase vorne hatte, wer die größten Massen herzustellen vermochte, wer über Rohstoffe, Logistik, Arbeitskraft und Ingenieurswissen verfügte und sie am rücksichtslosesten ausbeutete, entschied den Konflikt für sich. Alle das wurde nur geschaffen, um zerstört zu werden.

*

Der Chronist

Die Geschichte ist eine Geschichte der Kriege; und die Geschichte der Kriege ist eine Geschichte der Kriegswirtschaft. Seit alters her geht es um Nachschubwege und Versorgungslinien. Um die Ernährung und Ausstattung der Truppe. Um die Beschaffung, den Transport, die Bereitstellung des Materials, das zur rechten Stunde am rechten Ort sein und auch funktionieren muss. Zwanzigtausend eigens geschneiderte und geschmiedete Rüstungen fanden ihren Weg von den makedonischen Manufakturen über tausende Kilometer zum Kriegsschauplatz des verbissenen und verlustreichen Baktrienfeldzuges. Dreitausend Panzer neuen Typs, eilig unter Kriegsbedingungen entwickelte Tiger und Panther, wurden im dritten Sommer des Russlandfeldzuges an die Front gekarrt. Die meisten von ihnen wurden innerhalb weniger Tage, auf dem Höhepunkt der Schlacht von Kursk, zusammengeschossen. Unersetzliche Werte gingen verloren, unwiederbringlich, denn ein solcher industrieller und logistischer Kraftakt war nicht noch einmal zu bewältigen. Dass nebenbei auch einige zehntausend Mann getötet wurden, fiel unter diesem Gesichtspunkt wenig ins Gewicht. Menschen, um sie in Massen totzuschießen, gab es noch immer genug. Aber man kann sie nicht unbewaffnet oder mit dem Karabiner in der Hand gegeneinander anrennen lassen. Und am Ende behält der die Oberhand, der die größeren Kapazitäten der Stahlerzeugung, der Rohstoffgewinnung, des Energiezuflusses in seinen Einflussbereich gebracht hat. Im Grunde könnte man es bei einer Leistungsschau der heimischen Industrien bewenden lassen. Wer die höheren Stückzahlen, die bessere Qualität, den rascheren Durchsatz vorzuweisen vermag, bekommt den Preis zugesprochen. Leider geben sich die kriegführenden Parteien damit in der Regel nicht zufrieden. Sie müssen die Probe aufs Exempel machen. Erst wenn der Säbel nicht mehr an der Wand hängt, sondern am gegnerischen klirrt, zeigt sich, aus welchem Stahl er wirklich geschmiedet ist.

*

In diesem Sinne erfüllte der Anblick dieser nagelneuen, auf Hochglanz polierten Armada mich mit Melancholie. Sie war irrational, denn ebenso unsinnig wäre es gewesen einem Tank voller Plasma nachzutrauern, weil es zur thermischen Verbrennung bestimmt war, oder um eine Halle voller Saatgut zu weinen, weil es auf die Felder ausgebracht werden würde. Und vor allem war sie menschenverachtend, denn sie galt dem Material, aber in jeder Maschine, die zerstört werden würde, würden zwei, bei den schweren Bombern vier Mann den Tod finden. Unterschwellig hatte ich mir die Sichtweise eines Feldherrn zu eigen gemacht: Menschen waren am einfachsten zu ersetzen. Ein neues Bataillon war schneller auszuheben als auch nur eine Tonne Titanstahl. Allerdings war es in einem modernen hochtechnisierten interstellaren Krieg nicht ganz so einfach.

Während Jennifer und ich unseren düsteren Gedanken nachhingen, stand Kauffmann unschlüssig abseits. Er räusperte sich ab und zu in dem halbherzigen Versuch, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und uns zum Gehen zu bewegen. Sein Gesichtsausdruck war besorgt. Offenbar bereute er es bereits, uns hierher geführt zu haben.

»Wie steht es um die Mannschaften?«, fragte ich. »Diese Maschinen fliegen nicht von alleine, zumindest nicht in einem Raumgefecht unter Echt-Bedingungen.«

Der Sekretär griff die Frage dankbar auf. Er setzte eine Plaudermiene auf und schickte sich an, ganz beiläufig den Rückweg einzuschlagen, als wolle er uns die Details im Fahrstuhl auseinandersetzen. Aber weder Jennifer noch ich rührten uns von der Stelle, und so musste er wohl oder übel die paar Schritte, die er schon gegangen war, wieder zurückkommen.

»Wir bilden in großem Umfang Besatzungen aus«, sagte er. »Aus Gründen der Geheimhaltung findet diese Ausbildung ausschließlich hier unten, an KI-Simulatoren statt.«

Jennifer verzog verächtlich das Gesicht. Sie stieß sich vom Geländer ab und kam auf Kauffmann zu. Dabei strahlte sie eine solche Entschlossenheit aus, dass der Sekretär unwillkürlich zurückwich.

»Simulatoren«, stieß sie hervor. »Auch der beste KI-Simulator kann keine Echt-Bedingungen herstellen. Der Pilot weiß, dass er sich in einem HoloFeature befindet und dass es nicht um sein Leben geht. Haben Sie auch Männer mit Gefechtserfahrung?«

Kauffmann wand sich.

»Wir haben einige Piloten, die noch in der alten Flotte gedient haben. Unter den Ausbildern sind Veteranen von Persephone!«

Das war der letzte Trumpf, den er im Ärmel hatte. Er spielte ihn sehr ostentativ. In Jennifers Augen war er allerdings kaum halb soviel Wert wie nach Kauffmanns eigener Meinung.

»Ausbilder, Veteranen, Simulatoren.« Sie stöhnte. Mit eigentümlichem Gesichtsausdruck musterte sie die matt schimmernde Armada in ihrem unterirdischen Hangar. »Am Ende werde Sie unerfahrene Kinder ins Feuer schicken, die sich in die Hose machen, wenn ein scharfer Schuss auf sie abgegeben wird!«

Kauffmann zuckte die Achseln. Er konnte sich Männer und Frauen, die den bitteren und stimulierenden Geschmack der Todesgefahr gekostet hatten, nicht aus den Rippen schneiden. Und über Krieg und Frieden zu befinden, lag außerhalb seiner Kompetenz. Sein routiniertes Lächeln, das immer müder und angestrengter wurde, schien das auszudrücken.

»Kommen wir zu etwas anderem.« Jennifer fixierte Kauffmann, der sich gepeinigt unter dem Zugriff ihres mitleidlosen Blickes wand. »Ich benötige ein paar wirklich gute Techniker. Können Sie mir einige vertrauenswürdige WO’s mit mathematischer Begabung nennen?«

Kauffmann sah irritiert zwischen ihr und mir hin und her. Ich ahnte, worauf sie hinauswollte, und versuchte ihr Zeichen zu machen, sich am Riemen zu reißen.

»Ich verstehe nicht«, stammelte der Sekretär.

Jennifer grinste breit.

»Es ist doch so«, sagte sie in gefährlicher Harmlosigkeit und deutete mit einer generösen Geste über die schlafende Flotte, als handele es sich um Hydrorasenmäher. »Wir müssen diese Flotte auf volle Warptauglichkeit aufrüsten, und ich habe in meinem MasterBoard die mathematischen Tools dazu.« Sie schob sich näher an Kauffmann heran und blinzelte ihm vertraulich zu. »Es ist, unter uns gesagt, weit mehr ein algebraisches als ein physikalisches Problem, aber wir dürfen behaupten, es gelöst zu haben.«

»Ich kann Ihnen, fürchte ich, nicht ganz folgen«, stotterte der Sekretär. »Diese Flotte ist warpfähig.«

Jennifer winkte ab. Sie schnitt ein Gesicht, als habe er ihr vorgeschlagen, zu Fuß von hier nach Texas zu laufen. Natürlich war auch das nicht unmöglich; aber wozu sich der Mühe unterziehen, wenn man in ein paar Augenblicken mit Mach 25 dort sein konnte?

»Ich spreche von oszillierendem Warp«, machte sie herablassend. »Sinesisches Prinzip, wir haben es ihnen abgeschaut. Sehr ökonomisch. Intergalaktische Reichweite.«

Ich war bestrebt, mich stets in Kauffmanns Rücken aufzuhalten, um Jennifer Zeichen machen zu können. Mit einer Geste des Halsabschneidens versuchte ich sie dazu zu bewegen, jetzt endlich die Klappe zu halten. Aber sie ignorierte mich. Kauffmann seinerseits registrierte, dass wir ihn in die Zange nahmen und dass ich außerhalb seines Sichtfeldes herumhampelte. Er musste uns für gefährliche Irre und potenzielle Staatsfeinde halten. Vielleicht lag dieser Gedanke auch Jennifers halsbrecherischer Gesprächsführung zugrunde. Nach diesem Abend würde er uns nie wieder vorlassen, geschweige uns Zutritt zu solchen geheimen Anlagen verschaffen. Wir mussten also jetzt und hier so viel wie möglich aus ihm herauspressen.

»Ich begreife immer weniger, wovon Sie eigentlich sprechen«, sagte er ungehalten. »Wozu sollte dieser Verband, der ausschließlich zu defensiven Zwecken aufgestellt wurde, mit intergalaktischer Reichweite ausgestattet werden?«

Er schüttelte sich, als habe er ein unanständiges Wort in den Mund genommen, das man in vornehmer Gesellschaft für nicht auszusprechen pflegte. Ich machte Gesten, die man mit Cut! und Time Out! hätte übersetzen können. Jennifer amüsierte sich zu Tode, während in Kauffmann der Verdacht reifte, dass wir ihn zum Narren halten wollten.

»Was fummeln Sie denn herum?«, fuhr er mich an. Seine Geduld war am Ende. Nur seiner elitären Erziehung und seinem diplomatischen Drill war es zu verdanken, dass er uns nicht längst an die Luft gesetzt und uns ein für allemal unserem Schicksal überlassen hatte.

»Entschuldigen Sie, Sekretär«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich wollte meiner Frau lediglich bedeuten, dass es nun wirklich genug ist. Wir wollen Ihre kostbare Zeit nicht weiter beanspruchen.«

 

Jennifer rollte mit den Augen. »Es geht nur darum«, sagte sie, »dass es den Piloten auch in einem erdnahen Gefecht zugute käme, wenn sie der Technik der Aggressoren nicht hoffnungslos unterlegen wären.« Und mit einer letzten Aufgipfelung von Arroganz setzte sie noch hinzu: »Aber das müssen Sie gar nicht verstehen.«

»Sie haben recht«, seufzte Kauffmann resigniert. »Alles weitere besprechen Sie am besten mit dem Kanzler.«

Und seine Augen sagten: Wenn Sie jemals Zutritt zu ihm erhalten sollten, was ich zu verhindern wissen werde!

Ich schob mich neben Jennifer, legte den Arm um sie und bewegte sie mit sanftem Nachdruck dazu, uns wieder dem Elevatorschacht zuzuwenden. Sie war fürs erste verstummt. Ich konnte mir halbwegs ausmalen, über was sie brütete, und dabei nur hoffen, dass sie es für sich behielt, bis wir wieder auf unserer Suite waren. Wir bewegten uns langsam und, was Jennifer anging, eher widerstrebend dem Ausgang zu. Sie lehnte sich immer wieder über das mattgraue Geländer und spähte nach rechts und links über die ehrfurchtgebietende Ansammlung von Waffentechnik hinweg ins Halbdunkel. Nur die gegenüberliegende Wand war zu sehen. An ihr lief eine Balustrade um, die der unseren glich. Serviceschächte, Kräne, Munitionsdepots und Lager von Brennzellen waren dort zu erkennen. Während unsere Seite offiziellen Besuchen vorbehalten schien, wurde dort gearbeitet, mit schwerem Gerät hantiert und hochexplosives Material bewegt. Aber nach rechts und links war kein Ende der unterirdischen Halle auszumachen. Sie verlor sich im tropfenden, basaltfarbenen Licht. Was argwöhnte Jennifer, dass uns dort verborgen wurde? Sie schien eine Witterung aufgenommen zu haben, und da ich wusste, dass sie über einen sechsten Sinn verfügte, konnte ich mir ausrechnen, dass sie dem Verdacht nachgehen würde.

Wir hatten die Höhe des Stollens erreicht, der zu den Elevatorschächten führte. Kauffmann bog in den niedrigen Gang ein. Ich hielt mich zurück, während Jennifer vorne am Geländer entlangging und sich nun in der Gegenrichtung absetzte. Ich machte dem Sekretär ein Zeichen, dass er sich nur noch einen Moment gedulden solle. Er seufzte, ließ die Arme in einer perfekten Geste der Machtlosigkeit hängen und folgte uns dann langsam, während Jennifer immer schneller linkerhand den breiten Balkon hinunterlief. Ich war jetzt sicher, dass sie etwas entdeckt hatte, wenn ich mir auch beim besten Willen nicht zu erklären wusste, was es hätte sein können.

Sie war mir schon fünfzig Schritte voraus. In dem diffusen, seltsam schmierigen Licht, das die offenen Flammer über die Bergwerksszenerie warfen, löste sich ihre Gestalt schon beinahe auf. Das Knallen ihrer Schuhsohlen auf dem nackten Felsboden wies mir eher den Weg, als die sichtbare Bewegung ihres Körpers. Man hatte uns in dem hier üblichen monotonen Feldgrau eingekleidet, das schon auf wenige Meter Entfernung mit dem porösen Farbton des Gesteins verschmolz. In einen langsamen Trab fallend, der mir bewusst machte, wie geschwächt ich noch immer war, folgte ich ihr. Ihre Schritte entfernten und beschleunigten sich, bis sie plötzlich aufhörten. Ein unterdrückter Juchzer hallte stattdessen durch das unheimliche menschenleere Gewölbe. Ich beeilte mich zu ihr aufzuschließen und winkte auch Kauffmann heran, der uns langsam, auf seine Haltung bedacht, nachkam. Jennifer lehnte über dem Geländer und sah in die Tiefe. Sie rieb den linken Fuß an der rechten Wade, wie sie es nur in Augenblicken großer Erregung tat, und als sie mich kommen hörte und zu mir aufblickte, sah ich, dass Tränen in ihren Wimpern zitterten.

Ich trat neben sie, und dann fasste auch mich die gleiche Ergriffenheit. Es war wie ein Wiedersehen mit jemanden, den man für tot gehalten hat, die Begegnung mit einem Geliebten, die man nicht mehr für möglich gehalten hatte.

»Warum haben Sie uns davon nichts gesagt?!«, rief Jennifer dem Sekretär zu, der keuchend herbeigelaufen kam.

Trotz meines abgemagerten Zustandes war ich immer noch wesentlich schneller gewesen als er, was mich mit einer kaum wiederzugebenden Genugtuung erfüllte. Kauffmanns Gesicht war gerötet. Er hatte keine Puste mehr. Zu dem Unwillen über diese Eskapade gesellte sich nun noch blanke Verständnislosigkeit. Er fuhr sich mit dem Finger durch den Kragen, um sich Luft zu verschaffen, und starrte uns irritiert an.

»Ich hatte doch keine Ahnung«, schnaufte er.

Wir ließen ihn stehen und wandten uns wieder um. Selten habe ich einen so schönen Anblick genossen. Die Halle hatte sich unmerklich vergrößert. In dem schummerigen Licht war der Effekt kaum aufgefallen, aber auf den mehreren hundert Metern, die wir vom Stollenausgang bis hierher zurückgelegt hatten, hatten sich ihre Breite und Höhe annähernd verdoppelt. Auch die Tiefe, in der der riesige Hohlraum unter uns hinabreichte, hatte zugenommen. Die Jäger standen auf großen treppenartigen Plattformen. Ich vermutete, dass es sich um gigantische Hebebühnen handelte, die die Schiffe zu tiefergelegenen Werften und Hangars absenken oder sie in mehreren Decks übereinander anordnen konnte. Schließlich kam hinzu, dass der breite Balkon, auf dem wir uns befanden, plötzlich in rechtem Winkel nach links abknickte. Die Balustrade folgte dieser Bewegung in entsprechendem Abstand, wobei sie an der Ecke zu einem spitzen Dorn vorstieß; der Balkon war hier zu einer Kanzel ausgezogen, die frei über dem Zentrum der Halle hing. Denn an dieser Stelle zweigten weitere große Räume ab, die wie Querbalken an dem langgestreckten Hauptgewölbe saßen und es zu einer Kreuzform ergänzten. Wir standen im Zentrum dieses Kreuzes. Nach allen vier Seiten gingen gewaltige Hallen ab. Der Hohlraum im Kreuzpunkt war vom abgesenkten Boden bis zur Felskuppel zweihundert Meter hoch. In der Diagonale von einem Eck zum schräg gegenüberliegenden maß er ebenfalls wenigstens ebensoviel. Es war ein Raumeindruck, der dem des Großen Drohnendecks auf der MARQUIS DE LAPLACE nahe kam und der doch ganz anders wirkte. Durch die fahle Beleuchtung, die feuchte Atmosphäre und die wuchtigen, grob zugehauenen Felsmassen kam man sich eher wie in einer Krypta als wie in einem Raumhangar vor, wenn auch in einer Krypta von den Ausmaßen eines sehr großen Domes.

Und mitten in diesem Kreuzungspunkt, die Schnauze uns zugewandte, während das Heck noch einhundert Meter in den Seitentrakt hinausreichte, stand ein Schiff, ein einzelnes, klobiges, schwarz lackiertes Schiff, das die Jäger und Kampfbomber lässig überragte und in den Schatten stellte. Trotz der Höhe unserer Balustrade reichten seine Antennen und Aufbauten über uns hinauf. Der schwere, vierkantige Schädel schien in einer Mischung aus Treue und Demut gesenkt. Das ganze stählerne Wesen strahlte eine robuste Verlässlichkeit aus, wie ein gutmütiges Arbeitstier, ein Wachhund oder ein Ackergaul. Seine Schleusen, Druckkammern, Rampen und Torpedoschächte hielten still. Sie schienen sich uns darzubieten. Und Jennifer streckte die Hand aus, als könne sie über den riesigen leeren Raum hinweg die ölglänzenden Lefzen und die bullige Schnauze dieses Ungetüms kraulen und tätscheln. Es ragte über die Geschwader auf wie eine Termiten-Königin über ihr Volk und war in diese Halle gequetscht wie eine Bulldogge, die sich vorübergehend mit einem viel zu engen Zwinger bescheiden muss.

»Was soll ich sagen«, stammelte Kauffmann, dem unsere Ergriffenheit nicht entgangen war. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie ...«

Jennifer ließ ihn nicht ausreden. »Können Sie es nicht ein bisschen«, begann sie, aber als sie seine perplexe Miene sah, winkte sie ab und begab sich selbst auf die Suche. Sie fand ein stationäres HoloBoard, das in die rückwärtige Felswand eingelassen war. Es gelang ihr, es zu aktivieren. »Beleuchtung!«, befahl sie. »Hochfahren!«