Ruinenwelt

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Es war dämmerig. Die Helmlampen, über die die Anzüge eigentlich verfügten, waren nicht angesprungen. Beim Blick auf den Boden war daher anfangs kaum etwas zu erkennen. Das schiefrige Geröll entzog sich den Augen, die keine Konturen ausmachen konnten. Unbeholfen stolperten wir vor uns hin, wobei die partielle Blindheit dadurch noch irritierender war, dass sich unsere weißen Stiefel gut vom Untergrund abhoben. Nur dessen Beschaffenheit teilte sich unseren angestrengten Netzhäuten kaum mit. Hinzu kam, dass die Automatik der Anzüge nicht funktionierte, sodass wir auch die Polarisierung der Helmscheiben nicht aufheben konnten. Wir glichen Leuten, die bei Nacht mit Sonnenbrillen über ein unbekanntes und wegloses Gelände strauchelten.

»Das ist doch zu blöd«, murrte Jennifer, als sie zum dritten Mal kurz hintereinander beinahe lang hingeschlagen wäre. Ihre Stimme kam dumpf aus ihrem Helm. Ich erwiderte nichts, sondern kämpfte mich schweigend weiter. Es war wirklich dumm. Wir hätten irgendeine Peilstange mitnehmen sollen, die wir als Spazierstock und Blindenstab benutzen konnten. Langsam fing mein Visier zu beschlagen an.

»Mach langsam«, rief ich und fasste sie vorsichtshalber an der Schulter, denn mir selbst dröhnten der Puls und mein heftiges Schnaufen so in den Ohren, dass ich nicht sicher war, ob sie mich überhaupt hören konnte.

Wir blieben stehen. Noch waren wir kaum weiter gekommen, als die ENTHYMESIS selbst von der Schnauze bis zu den Triebwerken maß. Der Anblick des Schiffes, das friedlich in der Ebene hockte, war gewaltig. Jetzt, da wir außerhalb seines Komforts, mitten in der Ebene, auf uns allein gestellt und von nur eingeschränkt tauglichen Anzügen abhängig waren, bewirkte das Bild des großen Schiffes eine Beruhigung. Wie ein zuverlässiges Reittier, das uns zu diesem Einsatz getragen hatte und das nun geduldig ausharrte und auf unsere Rückkehr wartete, stand der 300 Meter lange Titankoloss in der Landschaft. Der Himmel war immer noch hell, auch wenn keine Sterne sichtbar waren. Die tote Sonne war untergegangen. Lediglich der eine Flügel ihrer deformierten Gashülle ragte noch über die Randberge am südwestlichen Horizont, wie ein bläuliches Zodiakallicht. Im Norden schraffierten einige lachsfarbene Zirrostratus den ansonsten wolkenlosen Himmel. Die vulkanischen Spitzen, die die Caldera umgaben, ragten schwarz rings um die Ebene auf. Die hohlen Spitzkegel, die nach allem, was wir bisher gesehen hatten, die einzigen Erhebungen im Inneren des riesigen Kraters waren, lagen nur noch wenige hundert Meter vor uns.

»OK?«, fragte Jennifer dicht an meiner Seite.

»Weiter«, nickte ich. Meine Augen hatten sich inzwischen an das Dämmerlicht gewöhnt. Ebenso schienen meine klobigen Stiefel sich ein bisschen mit dem Geröll ausgesöhnt zu haben. Ich atmete ruhiger und vermied so, dass die Innenseite des Helms beschlug. Wir kamen besser voran. Die schwarzen Türme und Schlote bildeten eine beklemmende Kulisse. Aber wir konnten jetzt auch das Shuttle, das westlich davor stand, und sogar das flache Kuppelzelt erkennen. Jennifer war auf einmal unmittelbar neben mir. Ihre Hand packte meinen Unterarm und brachte mich so dazu, meine Aufmerksamkeit von ihr lenken zu lassen. Keine hundert Meter vor uns bewegte sich etwas. Jetzt, da es darum ging, Einzelheiten zu unterscheiden, musste ich doch wieder feststellen, wie unzureichend das Licht war. Instinktiv griff ich nach der Offizierspistole. Ein sonderbar gebeugtes, humpelndes Wesen kam auf uns zu. Es ging gebückt und zur einen Seite geneigt. Wie schlechte Schauspieler den Quasimodo spielen. War unser Vorauskommando von den Morloks dieses Planeten gekidnappt worden? Aber dann erkannte ich, dass es Rogers selbst war, der offensichtlich außer Atem, in der eingeknickten Haltung eines Untrainierten, der starkes Seitenstechen hat, auf uns zugaloppiert kam. Er trug einen leichten Raumanzug, aber keinen Helm. Als er uns erreichte, machte er eine in Worten kaum wiederzugebende Geste, die besagen sollte, dass er gar nicht wusste, wo anzufangen.

»Phantastisch«, stammelte er. »Gut, dass ihr da seid. So etwas habe ich in dreißig Jahren nicht ...«

Er hatte uns wieder den Rücken zugewandt und sich an die Spitze unseres kleinen Trupps gesetzt. Wir hatten Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Jennifer warf mir einen Blick zu, und obwohl ich ihr Gesicht hinter dem polarisierten Visier kaum erkennen konnte, wusste ich, dass ein spöttisches Lächeln um ihre Mundwinkel spielte.

»Rogers!«, rief ich halb belustigt, halb erzürnt. »Erklären Sie uns doch, was hier vor sich geht. Wir haben Leib und Leben riskiert, um hier herunter ...«

»Was«, machte er ungeduldig über die Schulter hinweg, ohne anzuhalten. »Ich verstehe Sie ja kaum.«

Er hastete weiter. Hinter dem Rücken beschrieb er irgendwelche wegwerfenden Handbewegungen. Als wir darauf nicht reagierten, blieb er kurz stehen, sah uns ungehalten an und fuhr sich mit dem Daumen unter dem Kinn hindurch. Wollte er uns die Kehle durchschneiden?

»Die brauchen Sie hier nicht«, rief er und rannte schon wieder weiter. »Die Helme! Setzen Sie sie doch ab.«

Wir strauchelten hinter ihm her, während er die letzten fünfzig Meter zu seinem improvisierten Camp zurücklegte. Er hatte eine selbstaufblasende Wohnkuppel aufgeschlagen, eine hellblaue Halbkugel, die geduckt im Geröll hockte. Die dünnen, aus abgesetzten Sechsecken zusammengesetzten Planen bauschten sich leicht im schwachen Abendwind. Vor der Kuppel fand sich ein ganzes Sammelsurium von Instrumenten. Ein Klapptisch und der zugehörige Hocker waren zwischen die Steine gestellt. Gasflaschen, elektronische Messinstrumente, primitive Handwerksgeräte waren darum ausgebreitet. Ich erkannte einen Spaten und eine Spitzhacke, Hammer und Meißel und anderes grobes Arbeitszeug.

Er hielt endlich an, bemerkte erstaunt, dass wir immer noch die Helme trugen, und wedelte uns ungeduldig mit der Hand vor den Gesichtern herum. Konnten wir es wirklich wagen? Vielleicht war er ja wahnsinnig geworden. Nach allem, was ich sah, hatte auch er keine Atmosphärenscanner im Einsatz. Mit einem innerlichen Seufzen betätigte ich das Halsventil und nahm den Helm ab. Danach half ich Jennifer, ihr Visier zu öffnen. Dann standen wir beieinander. Ich atmete vorsichtig und schnupperte. Die Luft war kalt. Aber sie schien trocken, geruchlos. Sie ließ sich atmen. Ein kühler Wind strich über meine Wangen. Ich schätzte die Temperatur auf knapp über dem Gefrierpunkt. Luftdruck und Feuchtigkeit entsprachen einer Höhe von vielleicht 3000 m.

»Mensch, Kinder«, fing Rogers wieder an. »Wenn ich euch sage, was wir hier ...«

Er brachte keinen Satz zu Ende. Ich sah, wie Begeisterung, Anspannung und Rührung in seinen Gesichtszügen miteinander kämpften. Seine Augen glitzerten feucht. Ob von Tränen oder aufgrund der Kälte, war nicht festzustellen. Er war völlig überreizt, hatte, wie es aussah, seit mindestens 48 Stunden nicht mehr geschlafen und explodierte schier vor neuen überwältigenden Eindrücken.

»Was soll ich euch erzählen«, stammelte er. Aber das war eine rhetorische, an sich selbst gerichtete Frage. »Mein Gott im Himmel!«

»Was ist mit dem Shuttle?«, fragte Jennifer.

»Wo ist Joonas?«, hakte ich nach.

Er sah uns verwundert an. Mitten in seinen durcheinanderhaspelnden fahrigen Bewegungen blieb er für eine Sekunde hängen wie eingefroren. Er starrte uns an wie zwei Wahnsinnige. Wir waren bescheuert. Wir waren nicht mehr zurechnungsfähig. Wir waren geisteskrank. Wir hatten Gedanken für solche Dinge!

»Dies hier ...« Er baute sich martialisch vor uns auf, deutete mit beiden Händen auf den flachen Geröllboden und sah autoritär von mir zu Jennifer und wieder zurück. »Dies ist die mit Abstand, die, was sage ich, mit weitem Abstand... Ich fliege seit über dreißig Jahren auf der MARQUIS DE LAPLACE, aber nicht annähernd ...« Er brach wieder ab. »Kommen Sie«, sagte er dann.

Er sah aus, als hätte er uns am liebsten einen Spaten in die Hand gedrückt. Ohne auf uns zu warten, stiefelte er auf die Termitentürme zu, die jetzt in bedrohlicher Nähe ihre stumpfen Kegel in den Himmel erhoben. Wir standen unschlüssig zwischen den Bergen von Equipment, die die Umgebung des Camps überfluteten. Da ergab sich eine Bewegung in einem der Segmente des Kuppelzeltes. Der pneumatische Eingang wurde geöffnet, und ein Mann im weißen Pilotendress, ebenfalls ohne Helm, kam auf uns zu. Es war Joonas Jyväläinen. Ich kannte ihn vom Sehen. Er war groß, schlank, blond. Ein harmloses Dressman-Gesicht. Einer dieser nachgeordneten Piloten, die nie ein eigenes Kommando bekommen haben, sondern ihre Tage damit fristen, kleine Shuttles und EVAs zu steuern. Die Fußtruppen der interstellaren Exploration. Als er uns sah und unsere Rangabzeichen entzifferte, salutierte er. Ich wischte das mit einer Handbewegung weg, faßte ihn am Arm und zog ihn ein paar Schritte beiseite. Jennifer kümmerte sich um Rogers, der enttäuscht von dem Ensemble der schwarzen Schlote zurückkam und sich erkundigte, warum wir ihm nicht folgten. Ich hörte, wie sie ihn aufforderte, sich zu beruhigen. Sie konnte das. Dann widmete ich mich Joonas, den ich einer ausführlichen Fragestunde unterwarf.

Kapitel 3

»Die Situation ist wirklich prekär. Wir haben nicht die Ansätze einer Hypothese, was es sein könnte. Ein Kraftfeld, eine magnetische Barriere, Überreste einer militärischen Abschirmeinrichtung, atmosphärische oder lithosphärische Einflüsse. Sonderbarerweise funktionieren die ganz primitiven Geräte, die Taschenlampe, die Umwälzpumpe, die für frische Luft sorgt, die Elastalsieder und selbstwärmenden Mahlzeiten.«

Hier hob er zur Demonstration seinen Plastinbecher, in dem frischer Kaffee dampfte. Auch wir hielten heiße Getränke in den Händen und wärmten uns die Finger in ihrem Dampf.

 

Wir hockten im großen Kuppelzelt beieinander. Irgendwie war es Jennifer gelungen, Rogers davon zu überzeugen, dass ein Besuch der Termitenburg noch Zeit hatte, vielleicht sogar noch aufgeschoben werden musste, solange wir so wenig Klarheit über unsere Lage und die Beschaffenheit unserer Umgebung hatten. Er saß nun schmollend und mit allen Zeichen der Ungeduld auf seinem Klappstuhl, mischte sich aber wenigstens nicht in unser Briefing mit Joonas ein.

»Zugleich«, fuhr dieser fort, »ist es auch ein bisschen paradox. Denn alle unsere Messinstrumente sind ebenfalls ausgefallen. Es gibt also kaum eine Möglichkeit, herauszufinden, welchen Einflüssen wir hier unterworfen sein könnten.«

Eine stärkere Windböe schüttelte das Zelt, dessen starre Planen knallten und krachten. Der Dampf, der aus unseren Bechern aufstieg, wurde in eckigen Bewegungen hin- und hergeschoben. Jennifers Haar verselbstständigte sich und schlängelte sich seltsam um ihren Nacken. Dann war es wieder still. Rogers seufzte laut wie ein Kind, das zum Stillsitzen verdonnert wurde und sich demonstrativ langweilt.

»Wir gleichen jemandem, der gestolpert ist und dabei die Brille verloren hat«, sagte Jennifer. »Jetzt kriecht er über den Boden und versucht herauszufinden, woran er sich gestoßen hat.«

Diese Metapher erinnerte mich an unseren Gang von der ENTHYMESIS hierher und damit auch an den Explorer selbst.

»Gewöhnliche Glühbirnen brennen«, sagte Joonas gerade, der kopfschüttelnd in einer Art verzweifeltem Selbstgespräch gefangen war, »aber Opto-Chips und Laser nicht. Der Schutzgott dieses Planeten scheint ein besonders penibler Geist zu sein.«

Während er zum dritten Mal seine Variante des Absturzes und der Notlandung schilderte und sich mit Jenny über spezielle pilotische Details austauschte, nahm ich die große konventionelle Lampe von dem wackligen Klapptisch und ging hinaus. Rogers war im Begriff aufzuspringen und mir zu folgen, um mir endlich die Termitenburg zu zeigen, aber ich hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Er setzte wieder sein Schmollgesicht auf und ließ sich auf seinen Hocker plumpsen. Jennifer zwinkerte mir zu, ohne ihr Gespräch mit Joonas zu unterbrechen; sie wusste, was ich vorhatte.

Ich duckte mich durch die pneumatische Schleuse und trat ins Freie. Die letzten bogenförmigen Ausläufer der toten Sonne waren untergegangen. Die Dämmerung hatte sich dadurch geringfügig vertieft. Wenn man auf den Boden sah und den Augen Zeit ließ, sich an das schwache und zugleich diffuse Licht zu gewöhnen, schienen die Felsbrocken in intensivem Violett zu leuchten. Wie faust- oder kopfgroße Kristalle von Permanganat nahm ihr dichtes Schwarz dann einen geheimnisvoll um die Bruchkanten spielenden Purpurton an. Im Norden waren einige Sterne sichtbar geworden. Von den wenigen streifigen Wolken, die den Himmel verkratzten, war der zinnoberrote Nachhall des unwirklichen Sonnenuntergangs abgefallen. Sie zogen sich in stumpfem Kobaltblau über den Zenit, der nach Süden und Westen hin in unwesentlich helleres Blaugrau überging. Der Wind schien mir aufzufrischen. In plötzlichen eruptiven Böen rempelte und stieß er die Planen des Kuppelzeltes. Ich stolperte einige Schritte weit ins Geröll hinaus, um mich aus dem Lichtkreis, der das kleine Camp umgab, zu lösen. Dann drehte ich die Lampe auf höchste Stufe, blendete die Seitenklappen ab und fokussierte das Frontokular auf unendlich. In der Ferne stand die ENTHYMESIS, ein geduckter breitschultriger Riesenkäfer, der den Schädel erschöpft auf die Erde streckte. Ich projizierte den Lichtkegel auf Brücke und Messe. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann glomm auch auf Höhe der Messe ein heller Lichtpunkt auf. Jemand musste nicht nur zufällig herübergesehen, sondern schon auf uns gewartet haben.

»Alles OK«, morste ich im Friedenscode der Union, um niemanden zu beunruhigen. »Nachkommen zum Campmeeting.«

Das war eine stehende Befehlsfloskel, hinter der sich ein ganzes Handbuch an mitzubringendem Material und zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen verbarg. Nach einigem Überlegen setzte ich noch hinzu: »1 TI WO.«

Das hieß, dass Jones, der Technische Ingenieur, als Wachhabender Offizier an Bord bleiben sollte. Ich konnte mir hier draußen zwar keinerlei Bedrohung vorstellen, die es erforderlich machte, die Brücke besetzt zu lassen – zumal das Schiff tot war und sein Besitz im Moment kaum einen Wert darstellte -, aber ich hatte die Ausbildung der Akademie durchlaufen, die für solche Situationen vor allem darauf abhebt, das einzukalkulieren, was man sich nicht vorstellen kann. Außerdem ging mir sein ständiges geistfeindliches Genörgel auf die Nerven.

Ich morste die Zeichenfolge, die besagte, dass die Durchgabe beendet sei, und wartete ab. Von drüben kam die Bestätigung. Mit ausgeschalteter Lampe stand ich im Geröll, kalten Wind im Gesicht. Außer dem Stöhnen des Zeltes, das sich in seinen Verankerungen hin und her warf, war nichts zu hören. Mir kam zu Bewusstsein, dass ich seit mehreren Jahren nicht mehr im Freien, an der frischen Luft gewesen war. Nach irdischen Zeitmaßstäben, die die MARQUIS DE LAPLACE im Einsatz freilich stark deformierte, hatten wir uns ein ganzes Dezennium nur in der künstlichen Atmosphäre des Mutterschiffes, der Explorer oder – bei Exkursionen – der Raumanzüge aufgehalten. Jetzt, als die nächtlichen Böen mir das Haar in die Stirn warfen und wie kleine Kinder an meinem Anzug zerrten, begriff ich erst, wie sehr ich das vermisst hatte. Eine starke Sehnsucht kam in mir auf, eine Mischung aus Heim- und Fernweh – Heimweh nach der Erde und Fernweh nach ihren großen Wüsten, Gebirgen und Wildnissen. Mit körperlichem Schmerz, einem flauen Sog in der Magengegend, entbehrte ich plötzlich die Möglichkeit, bei ähnlich diffusem Licht wie hier eine Stunde vor Sonnenaufgang mit knirschenden Eisen einen Gletscher hinaufzusteigen oder am Abend in der tropischen Dämmerung am Ufer eines Ozeans zu stehen und auf die graue Brandung hinauszusehen.

An der ENTHYMESIS entstand eine Bewegung, die mich aus meinen melancholischen Träumereien riss. Kleine Lichtpunkte wurden im Bereich der hinteren Luftschleuse sichtbar und begannen sich entlang der Stelze nach unten zu bewegen. Sie erreichten den Grund und kamen ohne Verzögerung auf mich zu. Bald erkannte ich zwei Astronauten in weißen Raumanzügen, die schwer bepackt über die Ebene stolperten. Sie trugen keine Helme. Also mussten sie gesehen haben, dass ich ebenfalls keinen mehr aufhatte. Dazu gehörten sehr gute Augen. Oder sie hatten eine Möglichkeit gefunden, die Distanz zu überwinden, ohne den optischen Zoom der Automatik in Anspruch zu nehmen.

Jemand kam durch die Schleuse aus dem Zelt. An ihren Schritten erkannte ich Jennifer, die sich neben mir aufpflanzte und sich an meine linke Schulter hängte. Mit einem Blick erfasste sie die Situation.

»Willst du ihnen nicht entgegen gehen?«, fragte sie. Sie kannte die Ausrüstung, die Lambert und Legrand jetzt herüberzuschleppen hatten.

»Ich halte gerade meine Autorität aufrecht«, begründete ich meine Untätigkeit. »Der Kommandant kann in kritischen Momenten auch mal Hand anlegen, aber ansonsten beschränkt er sich darauf, zu delegieren.«

»Trägst du schwer an deiner Verantwortung?«, hakte sie nach, und es war nicht ganz klar, ob das besorgt oder einfach nur sarkastisch gemeint war.

Ich beschloss, die Erkundigung ernst zu nehmen.

»Die Verantwortung liegt in letzter Instanz bei Rogers«, führte ich aus. »Er ist zum einen schuld daran, dass wir überhaupt hier sind, zweitens ist er mir im Dienstgrad vorgeordnet und drittens als Chef der Planetarischen Abteilung sowieso für alles zuständig, was in dem Moment passiert, da wir die MARQUIS DE LAPLACE verlassen.«

»Du wäschst deine Hände in Unschuld«, stellte sie fest.

Ich sah zu, wie die beiden Gestalten sich über das steinige Gelände auf uns zu bewegten.

»Die Wasserversorgung wird langfristig eines der größten Probleme«, merkte ich noch an.

Jennifer boxte mich in die Seite und marschierte dann in die Ebene hinaus, um ihren beiden Kameraden zu helfen, die sich mit dem Equipment quälten. Einige Minuten später kamen die drei im Lager an. Jetzt verließ auch Joonas das große Zelt, um mit anzupacken. Nur von Rogers war einstweilen nichts zu sehen. Ich sprach mit Legrand, der ziemlich ausgepumpt wirkte, kurz die Einzelheiten ab, dann errichteten wir einige zusätzliche selbstaufblasende pneumatische Kuppeln, die wir mit Schlafsäcken und Liegematten ausstatteten. Schnell wuchs ein kleines Zeltdorf aus dem schwarzvioletten Geröll auf, das genügend Wohn- und Schlafgelegenheiten bot. Gemeinsam mit dem, das Rogers und Jyväläinen im Shuttle mitgebracht hatten, verfügten wir jetzt auch über eine ganze Menge an technischer Ausrüstung. Wir konnten daran gehen, eine Art Inventur durchzuführen.

»Das ist doch wirklich zu dämlich«, sagte Jennifer. »Man könnte meinen, der Störfaktor, der hier herrscht, sei ein besonders pingeliger und verbohrter Verwaltungsbeamter.« Sie wandte sich an Rogers, der gemeinsam mit Jyväläinen einen Allzweckscanner untersuchte.

»Haben Sie denn eine Hypothese, Sir? Schließlich ist das nicht der erste fremdartige Planet, den Sie untersuchen, und Sie sind auch schon sechsunddreißig Stunden länger hier als wir.«

Der Alte schien sich damit abgefunden zu haben, dass im Moment keiner von uns Interesse für die Termitenburg aufbrachte, sondern wir uns zunächst darum kümmerten, wie wir hier in den nächsten Tagen überleben konnten. Außerdem hatte er begriffen, dass es bereits einen Kompromiss zwischen Forschertätigkeit und Evakuierungs-bemühungen darstellte, dass wir das Camp errichtet hatten. Wir hätten uns schließlich auch in der ENTHYMESIS verschanzen und uns um deren Instandsetzung bemühen können. Er beteiligte sich also brav an unseren in Zweiergruppen durchgeführten Versuchen, einige technische Alltagsgegenstände wieder in Gang zu bringen und aus den Erfolgen, die dies eventuell zeitigte, Rückschlüsse auf die Störung zu ziehen, die 3Alpha-X aussandte.

»Eine Hypothese habe ich nicht«, sagte er und hielt den Scanner fest, während Joonas dessen Unterseite aufschraubte. »Allenfalls eine Faustregel. Je primitiver ein Gerät, desto größer ist die Chance, dass es noch funktioniert oder sich wieder in Betrieb nehmen lässt.«

»Dann machen wir uns doch gleich mal an die Nutzanwendung«, nickte Jennifer. Sie hatte ihren Helm zwischen den Knien und begann, assistiert von Jill, dessen Innenleben freizulegen. Als sie die Schnittstellen der Automatik, die die Lebensfunktionen des Anzugträgers kontrollierten, überbrückte und die Helmlampe mit der Stromquelle kurzschloss, flammte das Halogenlicht auf, als wäre nichts gewesen.

»Wie bei der Taschenlampe«, sagte Joonas, der interessiert zugesehen hatte.

»Ja«, stimmte Jennifer zu. »Strom fließt ohne Weiteres.« Sie schloss die Abdeckung wieder, nachdem sie die sinnlos gewordenen hochentwickelten Bauteile im Inneren des Helmes verstaut hatte.

»Strom fließt«, meldete Legrand sich zu Wort, der mir irgendeine Pump- und Filtervorrichtung in die Hand gedrückt hatte, an der er nun herumdokterte. »Bloß bei den sensibleren elektronischen Bauteilen wird es kritisch.«

»Das lässt«, dachte ich laut nach, um auch etwas zum Gespräch beizutragen, »an einen elektromagnetischen Impuls denken, wie er bei thermischen Explosionen freigesetzt wird.« Wie eine gut geschulte Oberschwester reichte ich Legrand Schraubenzieher und Imbusschlüssel, mit denen er an der Maschinerie operierte.

»Jenny«, fragte ich dann. »Wie war das beim Eintritt in die Atmosphäre genau? Hattest du den Eindruck eines schockartigen Ausfalls der Instrumente oder gaben sie eher allmählich den Geist auf?«

Sie hatte jetzt die Oberseite des Helmes geöffnet und dort ebenfalls einen ganzen Wust von Kleinteilen ausgebaut, die Jill auf der flachen Hand sortierte. Anscheinend untersuchte sie, ob sich das Visier wieder mit Strom versehen ließ. Dann könnten wir die Helme bei geöffneter Sichtklappe zum Schutz gegen die kalten Winde tragen, wenn wir im Freien unterwegs waren.

»Es war eher ein Übergangsfeld«, antwortete sie. »Nichts Schlagartiges jedenfalls.« Sie überlegte einen Moment, als müsse sie sich die dramatischen Augenblicke unseres Beinahe-Absturzes erst wieder vergegenwärtigen und zugleich nach den richtigen Worten für die überstürzten Vorgänge suchen.

»Es war wie ein Eindringen in einen Widerstand«, sagte sie nachdenklich. »Nicht direkt ein physischer, mechanischer Widerstand, sondern eine Art geistiger ...«

»Der Planet will nicht, dass man ihn betritt«, wurde sie von Jill unterbrochen. Es hatte mich schon gewundert, dass diese sich bisher so friedlich und gefasst verhalten hatte. »Bestimmt ist es ein Schutzschild, das Eindringlinge abhalten soll!«

 

»Diese Feldtheorie«, nahm ich Jennifers Worte auf, ohne auf Lamberts Einwürfe einzugehen, »spräche gegen einen Impuls.« Ich sah ratlos zu Rogers hinüber, der sich aber gerade darauf konzentrierte, einige winzige elektronische Bauteile im Auge zu behalten, die Joonas mit der Pinzette aus dem ausgeweideten Gerät herauszog.

»Gibt es einen Impuls, der stetig ist?«, wandte ich mich damit an Legrand, auch wenn es mich Überwindung kostete, ihn so direkt um Auskunft zu bitten. Ich brachte es nur fertig, weil ich hoffte, dass Jennifer genau diese Überwindung spüren und mich in ihrem Herzen dafür loben würde. Freilich war sie gerade intensiv mit ihrem Helm beschäftigt.

»Es sind natürlich starke Felder denkbar«, gab mein Wissenschaftlicher Offizier bereitwillig Auskunft, »die einem verstetigten Impuls entsprechen könnten; auch wenn es auf begrifflicher Ebene ein Widerspruch ist.«

»Mhm«, machte ich. Ich musste mich erst noch von der Anstrengung der Selbstüberwindung erholen. Außerdem hatte ich natürlich kein Wort verstanden.

»Hierzu wäre es wichtig«, sagte Rogers plötzlich, ohne von seinem Gefummel aufzusehen, »dass wir herausfinden, ob die empfindlicheren Bauteile, die offensichtlich als einzige ausgefallen sind, zerstört wurden oder ob sie prinzipiell intakt sind und nur aus irgendwelchen anderen Gründen nicht funktionieren.«

Legrand nickte zustimmend. »Richtig«, sagte er. »Dazu fehlen uns aber wiederum die Messinstrumente.«

»Sag ich ja«, warf Joonas ein. »Es ist wirklich verflixt. Wir haben Mikroskope, aber wir können sie nicht einsetzen, weil sie auf Elektronenstrahlen basieren. So können wir die Bauteile nicht überprüfen. Wir können sie aber auch nicht durchmessen, weil wir dazu Geräte bräuchten, die selbst auf elektronische Bauteile angewiesen sind.«

»Wir könnten nun«, sagte Legrand, »ein systematisches Programm nach trial and error entwerfen, in dem wir einzukreisen versuchen, bis zu welcher Größe, Komplexität, etcetera, Apparate noch funktionieren. Damit könnten wir uns an die Wellenlänge einer möglichen störenden Strahlung oder an die sonstige Beschaffenheit der Störung herantasten.«

»Glauben Sie, dass wir hier gefährlicher Strahlung ausgesetzt sind?«, fragte Jill erschrocken.

»Nein«, antwortete Rogers glücklicherweise sofort. »Jede lokale oder globale Strahlungsquelle wäre von den Drohnen im Vorfeld aufgespürt worden. Ich akzeptiere Begriffe wie Feld, Strahlung, Impuls zum gegenwärtigen Zeitpunkt allenfalls in metaphorischer Hinsicht.« Er ließ eine Pause entstehen und wartete, bis alle in der Runde von ihren Handarbeiten aufgesehen und ihn ihrer Aufmerksamkeit versichert hatten. Es wurde ganz still im Zelt. Nur bisweilen flappten die Planen unter einem Windstoß.

»Womit wir es hier zu tun haben«, sagte Rogers unerwartet ernst, »ist viel schlimmer als Radioaktivität oder Röntgenstrahlen – wir wissen nämlich nicht, was es ist. Wir sehen uns dem Unbekannten gegenüber. Aber es hat sich unserer gesamten drohnengestützten Vorfeldaufklärung entzogen. Gleichzeitig ist es in der Lage, selbst die Abschirmung eines Explorers der ENTHYMESIS-Klasse zu durchdringen und diesen in Augenblicken lahmzulegen.« Er fasste mich scharf ins Auge. »Auch das ist übrigens etwas, was mir in dreißig Jahren interstellarer Erkundungen nicht vorgekommen ist.« Er hielt Joonas mit der Pinzette eine winzige OptoDiode hin. »Sonderbarerweise«, fügte er noch hinzu, »beunruhigt mich das alles nicht im Geringsten. Sie mögen mich gerne für frivol halten. Ich bin überzeugt, dass wir hier nicht der allerkleinsten Gefahr ausgesetzt sind. Aber Sie wollen sich den eigentlichen Fund ja gar nicht ansehen.«

»Sagen Sie uns, was Sie wissen«, forderte Jennifer ihn überraschend schroff auf. »Und spannen Sie uns nicht so auf die Folter. Inwieweit ist es für unsere Situation hier relevant?«

»Das weiß ich noch nicht«, säuselte der Alte mit verklärter Miene. »Aber Sie müssen es sehen!«

Wenig später verabschiedeten wir uns und wünschten einander eine gute Nacht. Rogers und Jyväläinen blieben im großen Kuppelzelt, wo sie sich bereits häuslich eingerichtet hatten. Wir anderen gingen hinaus und verteilten uns auf die kleineren Schlafkuppeln. Jill warf einen ängstlichen Blick zur Termitenburg hinüber und schlüpfte dann rasch, wimmernde Töne ausstoßend, in ihr winziges Zelt. Auch Legrand kroch in eine der Einmann-Elastal-Blasen. Wir blieben allein zurück. Fröstelnd standen wir im Halbdunkel, in der kühlen Nacht von 3Alpha-X.

»Schon ein bisschen unheimlich«, flüsterte Jennifer, »findest du nicht?«

Sie sah zu den schwarzen Schloten hinüber, die keine fünfzig Schritte entfernt ihre hohlen, teilweise zertrümmerten Zähne in den farblosen Himmel reckten. Der Wind zischelte und heulte um die schlanken Gesteinsspitzen, die wie die ausgebrannten Kamine einer zerbombten Fabrikanlage wirkten.

»Glaubst du wirklich«, fragte Jenny, »dass davon keine Gefahr ausgeht?«

»Rogers hat das Gelände untersucht«, sagte ich müde. »Ich verlasse mich auf ihn.«

»Und du bist überhaupt nicht neugierig?«

»Wahrscheinlich ist es irgendeine wahnsinnig seltene geologische Formation«, improvisierte ich, »die im bekannten Universum nur dreimal vorkommt, aber noch nie in dieser speziellen Schichtfolge. Wenn Planetologen in Begeisterung ausbrechen, ist immer Skepsis geboten. In der Regel kann man als Laie nicht einmal nachvollziehen, was sie in solche Euphorie versetzt. Wir sehen es uns morgen an.«

Und damit zog ich den pneumatischen Eingang auf und kroch in unser romantisches Zweipersonen-Zelt. Jennifer kam mir nach, versiegelte den Eingang und schaltete die Stirnlampe ihres Helmes an, den sie am Fußende ihrer Liegematte auf den Boden stellte. Sie verbreitete ein schwaches indirektes Licht, in dem wir uns, nebeneinander auf unseren gravimetrischen Matratzen hockend, schweigend auszogen. Die stabilisierenden Streben dieser kleinen Pionierzelte sind normalerweise selbstleuchtend, aber anscheinend mussten wir auch hier zuerst irgendeine Kontrollautomatik überbrücken, um sie in Gang zu bringen. Wir fielen in die Frühzeiten der Elektrifizierung zurück. Allerdings war es die Frage, ob sich die Mühe bei jedem einzelnen Alltagsgegenstand lohnte.

»Wie willst du weiter vorgehen?«, fragte Jennifer und traf damit erstaunlich genau meinen eigenen Gedankengang. Sie hatte den Anzug abgestreift und war in der langen, normalerweise selbstregulierenden Unterwäsche aus künstlicher »intelligenter« Seide in den Schlafsack geschlüpft.

»Hm«, machte ich, stieg ins Bett und streckte mich lang aus. »Ich glaube, wir haben die aktuelle Situation unter Kontrolle.«

Von Jennys Seite kam ein unwilliges Grunzen.

»Ich meine damit«, führte ich aus, »dass wir uns nicht in akuter Lebensgefahr befinden. Unser Überleben ist kurz- bis mittelfristig gesichert. Wir können uns in dieser Atmosphäre frei bewegen und verfügen über ausreichend Lebensmittel für mehrere Monate. Auch Wasser befindet sich genügend an Bord der ENTHYMESIS. Wir sieben können monatelang davon leben, selbst wenn wir es nicht aufbereiten können. Ab morgen werden wir einen Schichtdienst einrichten, der reihum die Brücke des Explorers besetzt und beim Wechsel jeweils Trinkwasser mit herüberbringt.«

»Warum hast du ausgerechnet Jones für die erste Wache eingeteilt?«, fragte sie. Sie hatte sich auf die Seite geworfen und den Kopf auf die rechte Hand gestützt. Der weich fokussierte Lichtkegel ihrer Helmlampe traf sie schräg von hinten, so dass jede Strähne ihres dunkelblonden Haars, das sie jetzt offen trug, von einer Aureole umgeben war. Ich sehnte mich nach unserer Kabine auf der MARQUIS DE LAPLACE. Dort pflegte sie die Polarisierung der Nasszellenscheiben aufzuheben, so dass ich ihr beim Duschen zusehen konnte, bevor sie heraus kam und sich auf mich stürzte. Stattdessen lagen wir in Staub und Zeltplanengeknatter, auf steinharten Liegematten, von deren automatischer Gravimetrie natürlich nichts zu spüren war. Ich stellte fest, dass ich alt wurde. Mein Abenteurergeist war in Erosion begriffen. Ich wollte nur noch ins Warme, Saubere, Vollklimatisierte und die Annehmlichkeiten des 23. Jahrhunderts genießen.