Planetenschleuder

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»Weil wir seither von zwei weiteren Körpern dieser Art beinahe gestreift worden wären«, rief sie.

Sie sah von ihrer Konsole auf. Ihr Gesicht nahm einen fleckigen Rotton an, von dem sich der blonde Flaum ihrer Wangen weiß abhob. »Einer in tausend, einer in nur hundertzwanzig Metern Abstand. Beide waren über dreißigtausend Kilometer schnell und hatten Massen von mehreren Tonnen.«

Ich spürte, wie in mir etwas wegsackte. Es war wie auf der Akademie, wo wir mit Handgranatenattrappen hantiert hatten und erst hinterher erfuhren, dass sie scharf gewesen waren. Ich versuchte mir auszumalen, was geschähe, wenn ein solcher Trümmer in eines der Wohn- oder Wissenschaftssegmente raste. Dann schob ich die Vorstellung beiseite.

Ich blickte auf die Uhr. Seit dem Einschlag war keine Viertelstunde vergangen. Wenn in dieser Zeit drei der rätselhaften Objekte unsere Bahn gekreuzt hatten ... Ich führte auch diesen Gedanken nicht zu Ende.

»Wir sind in ein Trümmerfeld geraten«, jammerte Lambert. »Ein Asteroidensturm. Wir werden von Meteoritenhagel zersiebt!«

Ich fragte mich wieder einmal, wie diese Frau, die eine großartige Pilotin war, aber ein miserables Nervenkostüm hatte, sich zur fliegenden Crew hatte melden können – und wie sie es dort so lange ausgehalten hatte.

Die Beinahe-Kontakte erklärten immerhin die gequälten Bewegungen der MARQUIS DE LAPLACE. Das Schiff, geblendet und mit Schlagseite im Raum dümpelnd, hatte sich mit letzter Kraft zwischen dem Bombardement hindurchgewunden. Allerdings paßte zu dieser Theorie nicht, was Jennifer noch aus den Reports herauslas.

»Die letzten beiden Asteroiden wurden erst registriert, nachdem sie an uns vorbeigepfiffen waren.«

Das war bedenklich, und die Erklärung, die Frankel dafür bereit hatte, vermochte nicht, das ungute Gefühl zu zerstreuen, das sich in meiner Magengrube anstaute.

»Wie ich bereits sagte«, säuselte er in den Monitor, »ist unser zentrales Steuermodul durch den Treffer vollständig zerstört worden. Wir sind vollkommen blind und auf einem Ohr ertaubt. Der Schlag war außerordentlich präzise geführt. Man könnte schon fast an Perfidie denken, wenn das gegenüber einem natürlichen Objekt nicht albern wäre. Ein Großteil der automatischen Hauptsteuerung ist ausgefallen. Wir arbeiten momentan daran, die Trimmung des Schiffes über die Quantenrechner der Planetarischen Abteilung zu koordinieren, um es zu stabilisieren und zu verhindern, dass es wie ein Bambusrohr auseinanderbricht.«

Er machte das anschaulich vor, in dem er einen imaginären Stab zwischen den Händen bog und dann ruckartig zerknickte, dass wir es förmlich dabei krachen hörten.

»Die Intelligenz«, führte er weiter aus, »der Hauptsteuerung ist glücklicherweise holistisch organisiert. Sie kann sich frei über ihre kybernetischen Substrate bewegen. Deshalb sind wir dabei, die übrigen Rechnerkapazitäten, mit denen unsere gute alte MARQUIS DE LAPLACE zum Glück nicht allzu sparsam ausgestattet ist, zu einem virtuellen Ersatz zusammenzuschalten.«

Er blinzelte. So unterschiedlich er und Rogers vom Temperament her waren, so glichen sie sich doch in ihrer Vorliebe für lange Vorlesungen. Sie hörten sich beide einfach zu gern reden.

»Schwieriger«, fiel ihm gerade noch ein, »sieht es da allerdings mit den zerstörten Sensoren aus. Auch wenn es unseren zerebralen Narzißmus kränken mag: Ein defekter Hirnlappen ist weniger schwer zu ersetzen als ein kaputtes Auge ...«

Die Frage, die mich beschäftigte, war dabei noch nicht einmal angeschnitten worden. Ich richtete mich auf und sah mich in der Runde um. Jennifer tippte wieder an der Konsole. Sie hatte auf Frankels letzte Ausführungen nicht mehr achtgegeben. Jill stand, krampfhaft an einen Rechnerschrank gekrallt, neben mir und starrte mit erloschenem Blick vor sich hin. Reynolds hatte das Kinn in die Faust gestützt und eine Pose angestrengten Nachdenkens eingenommen.

Das Schiff war jetzt ruhig. Lautlos lag die MARQUIS DE LAPLACE auf ihrer Bahn im Neptun-Orbit. Die Feldgeneratoren summten leise vor sich hin. Alles war friedlich. Die Situation schien unter Kontrolle.

Eines hatten Frankels weitschweifige Erklärungen nicht erklärt: Wie hatte der Treffer selbst, der uns in diese missliche Lage gebracht hatte, passieren können. Wieso war der Anflug des ersten Asteroiden von den damals unzerstörten Instrumenten nicht gemeldet worden?

Ich sah Reynolds an. Er legte mir die Hand auf die Schulter und schob sich dicht an mich heran.

»Es gäbe eine Erklärung für All das«, knurrte er hinter vorgehaltener Hand. »Sie mag unwahrscheinlich klingen, und sie wäre in der Tat wenig erbaulich, aber ...«

Ich brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Wir haben uns nicht immer gut verstanden. Bis jetzt haben wir uns noch bei jeder Mission zusammengerauft, und ich weiß, dass ich mich, wenn es hart auf hart kommt, zu einhundert Prozent auf ihn verlassen kann. Andererseits nervt sein Getue, sein Bescheidwissertum, seine Marotte des »Jetzt erkläre ich euch mal schnell die Welt«. Ich würgte das ab. Unsere Aufmerksamkeit wurde von Jennifer auf sich gezogen, die sich mit einem Ruck aufrichtete und mit der flachen Hand auf die Konsole schlug. Schwer zu sagen, ob das eine Geste der Resignation oder des Triumphes war.

»Was ist los?«, fragte ich.

Selbst Frankel auf der anderen Seite des Schirms zog interessiert die Brauen hoch. Dann tippte er etwas auf einem seiner Monitore.

»Das Deepfield-Radar kommt wieder«, rief Jennifer aus. »Die Automatik hat die Scanner der hinteren Segmente synchronisiert. Außerdem greift sie auf die Kapazitäten der vier Enthymesis-Explorer zu.«

»Die«, schmunzelte ich, »verdutzt in ihren Hangars im Großen Drohnendeck stehen und sich fragen, was das hier in der Etappe für eine Unruhe ist.«

»Reichweite und Auflösung entsprechen nicht ganz dem Deepfield, wie wir es gewohnt sind«, sagte Jennifer, die mir fröhlich zulächelte und mit einem Auge weiter die herunterratternden Anzeigen mitlas, »aber wir haben doch wieder ein halbwegs scharfes Sensorium.«

Auch Frankel wirkte sehr zufrieden. Er beugte sich über einen seiner Rechner und verschwand dadurch aus dem Bild. Nur noch sein gekrümmter Rücken und seine rechte Schulter waren als weiße Hügellandschaft am unteren Rand des Monitors zu sehen. Im Hintergrund ging Rogers erregt hin und her und sprach wie wild auf den Kommunikator ein.

»Tolle Leistung«, rief ich übermütig in den Schirm. »Gratulation an Ihre Truppe!«

Er hielt für einen Moment auf seiner Wanderung inne, starrte mit stechendem Blick herüber und hob die Hand zu einer Geste, die genauso gut »Keine Ursache« wie »Leck mich!« heißen konnte. Dann redete er auf dem geschlossenen Kanal weiter.

»So weit so gut«, strahlte Jennifer. »Jetzt haben wir immerhin wieder einen gewissen Überblick. Das ist in einer Situation wie dieser gar nicht zu ver ...«

Sie stockte mitten im Wort. Ihr Blick wurde starr und sonderbar saugend. Als sei ein physischer Kontakt zwischen ihrem Auge und dem Monitor geknüpft, der nun langsam verstärkt wurde, neigte sie sich an die Konsole heran.

»Wie es aussieht, haben wir wieder ein Bild«, sagte ich.

Auch Reynolds, der die Daten an einem anderen Schirm mitverfolgte, bekam plötzlich ganz spitze Lippen und eine hohe Stirn.

»Was ist denn los?«, wimmerte Jill. »Ihr kuckt auf einmal so wie ...«

Die Suche nach dem passenden Wort wurde ihr abgenommen.

»Wieder was im Anflug«, brummte Jennifer.

»Verdammte Scheiße«, hörten wir einen von Dr. Frankel ungewohnten Fluch, ohne dass wir den stellvertretenden Leiter der Planetarischen gesehen hätten.

»Was?«, fragte ich.

Ich sah nur Zahlenkolonnen über die Konsolen rasen.

»Moment.« Jennifer klang, als würde sie gleichzeitig rauchen und Nägel kauen. »Die Daten kommen verzögert rein. Sie müssen erst compiliert werden.«

»Und warum dauert das so lange?«, entfuhr es mir. »Die Kapazitäten eines ganzen Schiffes! Da wäre Onkel Lu mit seinem Abakus schneller!«

Auf dem großen Schirm wurde Frankel sichtbar, der sich abrupt aufrichtete und sich verstört nach Dr. Rogers umsah. Der hatte jetzt ebenfalls mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Er feuerte den Kommunikator auf eine der Konsolen und kam mit einschüchternden Schritten auf seinen Stellvertreter zugestiefelt. In seinem Blick, den er durch den Schirm auf uns abfeuerte, lag etwas wie »Das habt ihr jetzt davon«. Dann tauchte auch er unter den Bildausschnitt hinab, als er sich neben Frankel über dessen Bedienplatz beugte.

»Was ist denn jetzt?!«, brüllte ich, wohl wissend, dass sich Jennifer durch meine Tobsuchtsanfälle noch weniger beeindrucken ließ als durch diejenigen unseres gemeinsamen Vorgesetzten.

Einige quälende Sekunden vergingen. Es war still. Die Feldgeneratoren säuselten. Die Rechner klickten und surrten leise vor sich hin. Vier Menschen im Servicemodul und zwei weitere, die fünf Kilometer entfernt waren, atmeten schwer.

»Hier!«

Jennifers Ausruf war wie ein Vogelschnabel, der nach einer Made hackt. Sie deutete auf einen grün hervorgehobenen Eintrag, der rasch vorüberratterte.

»Nummer vier«, hörten wir Rogers knurren.

»Ein Meteorit«, bestätigte Jennifer.

»Haben wir ein Bild?«, fragte ich.

»Noch nicht«, sagte Jennifer. »Und es wird wohl auch schwer werden, eins zu bekommen. Aber wir haben eine Bahnberechnung.«

Wie über den Gartenzaun hinweg schielte sie auf den großen Schirm, wo Rogers und Frankel sich jetzt erhoben hatten und ungute Blicke miteinander tauschten. Frankel kaute auf der Unterlippe und schob die Zunge im Mund herum, als sei sie etwas, das er am liebsten ausgespuckt hätte. Er zog die Augenbrauen hoch und ließ sie dann wie eine überschwere Last wieder herunterfallen. Sein Ausatmen kam so gequält über den Kanal, dass ich glaubte, seinen Atem im Gesicht spüren zu können.

 

»Ein Eisenmeteorit«, sagte er. »Er zielt genau auf unseren Rumpf.« Er ließ ein Holo-Bild der MARQUIS DE LAPLACE auf dem Schirm erscheinen. »Hier. Zentral auf Segment IV.«

Ich betrachtete die grünschimmernde Grafik, auf die ein rubinroter Lichtstrahl zustach und sich mitten durch das bohrte, was bei einem sehr großgewachsenen Menschen der Brustkorb gewesen wäre. Genau auf unser Herz.

»Was soll das heißen«, greinte Jill, »er zielt?«

»Das war nur eine Redensart«, wischte Rogers sie von der Bildfläche. Dann wandte er sich an Frankel und katechisierte ihn mit schnell hintereinander abgeschossenen Fragen, während er uns ignorierte. Frankels Auskünfte waren ernüchternd. Alle möglichen Fehlerquellen waren ausgeschlossen worden. Die Toleranz, die in der Berechnung der Bahndaten enthalten war, gestattete keinen Spielraum für Hoffnungen.

»Wie viel Zeit bleibt uns?«, wollte Rogers wissen.

»Was sollen wir jetzt tun?«, jammerte Lambert vor sich hin. »Wir können uns ja nicht mehr rühren.«

»Wir stehen gefesselt am Marterpfahl«, nickte Reynolds, dessen Vorliebe für zynische Bilder mir neu war, »und müssen einen Treffer nach dem anderen einstecken.«

»Nicht alle durcheinander«, sagte Jennifer, die sich über ihre Konsole hermachte wie über ein italienisches Nudelgericht. Ohne uns anzusehen, hob sie die Hand in dem Versuch, uns zum Schweigen zu bringen. Trotzdem redete jeder weiter vor sich hin.

»Vielleicht«, schien Frankel laut nachzudenken, »war es ja doch keine bloße Redensart. Mit rechten Dingen geht das jedenfalls nicht zu.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.

»Wo kommt denn das Scheißding her?!«, tobte Rogers im Hintergrund, der wieder angefangen hatte, mit stampfenden Schritten hin und her zu gehen.

»Major Ash, bitte«, flehte Jill.

Normalerweise wäre es meine Aufgabe gewesen, einen Lagebericht anzufordern, und auf der Brücke der Enthymesis hätte ich den entsprechenden Befehl auch in dieser Sekunde erteilt. So irritiere mich die seltsame Kommunikationssituation. Wir standen in einem Winkel, wo sonst Putzroboter parkten oder Mechaniker die Verschalungen der Feldgeneratoren überprüften, sich aber kaum jemals ein Offizier der fliegenden Crew hinverirrte, starrten auf behelfsmäßige Konsolen, die ich mir als Standardausstattung des primitivsten Shuttles verboten hätte und über die die kryptischen Daten improvisierter Programme liefen, während wir über einen Schirm mit der Brücke verbunden waren, wo ein cholerischer Dr. Rogers schimpfend und tobend auf und ab tigerte.

»Wir waren eine halbe Stunde offline«, erläuterte Jennifer, als erkläre sie am Tag der offenen Tür einem Zivilisten die Funktionsweise eines 100-Millionen-Dollar-Cockpits. »Bei seiner Geschwindigkeit und der Entfernung hätte der Meteorit vor« - sie überschlug die Daten im Kopf -, »vor mindestens 20 Stunden auf den Schirmen unseres Deepfieldradars auftauchen müssen.«

»Das verstehe ich nicht«, wimmerte Lambert. »Er kann doch nicht aus dem Nichts kommen ...«

»Eben«, donnerte Rogers auf der anderen Seite wieder los. Jills Einlassungen brachten ihn immer besonders in Rage. Ich stimmte ihm darin zu, dass sie schwer zu ertragen war, hatte mich aber in zahllosen gemeinsamen Enthymesis-Einsätzen schon daran gewöhnt.

»Physikalisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten«, begann Reynolds in näselndem Tonfall. »Entweder das Objekt war sehr viel schneller, annähernd Lichtgeschwindigkeit, sodass es in den 30 Minuten unserer Blindheit so dicht an uns herankam und dann seine Geschwindigkeit verringerte ...«

»Klingt blödsinnig«, warf Rogers ein. »Oder?«

»Oder es kommt aus einer Dimension des Hyperraums.«

»Dann wäre es wirklich ein Beschuß«, rief Frankel aus, der sich über diese Möglichkeit zu freuen schien. Um seine Metapher vom Zielen gerechtfertigt zu finden, fand ich den in Kauf genommen Aufwand allerdings etwas hoch.

»Und von wem?«, schaltete ich wieder in die Debatte ein.

»Eine Warp-Schleuder?«, fragte Jennifer wie aus einem tiefen Traum erwachend.

»Und was glauben Sie, wer dahintersteckt?«, fragte Frankel, der umso begeisterter wurde, je absurder die zur Verfügung stehenden Theorien wurden.

»Das tut jetzt nichts zur Sache«, donnerte Rogers. Er stand breitbeinig da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ein Kommandant auf seinem Schiff, das in die Schlacht fährt. »Die philosophischen Implikationen klären wir später. Jetzt sitzen wir als manövrierunfähig fest, und ein massereiches Objekt kommt mit staunenerregender Geschwindigkeit direkt auf uns zu.« Er wiederholte die letzte Frage: »Wie viel Zeit bleibt uns?«

»Keine dreißig Minuten mehr«, sagte Frankel mit einem Blick auf seine Konsole.

»Wie groß ist das Objekt?«, erkundigte ich mich, auch wenn es mir einen vernichtenden Grunzer von Rogers eintrug.

»zehn Komma sieben Tonnen«, war die Antwort, die Jennifer und Frankel simultan erteilten.

»Das hat er nicht gefragt«, brauste Rogers auf. »Die Abmessungen?!«

»Ein mal eins Komma zwei mal zwei Meter«, las Jennifer von ihrem Monitor ab. Die Messergebnisse hatten sich stabilisiert. Obwohl sie alle paar Sekunden aktualisiert wurden, gaben sich Veränderungen nur noch bei den Stellen hinter dem Komma. Das galt leider auch für die Bahnberechnung, die bei jedem Update noch um ein paar Zentimeter präziser auf den Schwerpunkt von Segment IV zielte.

»Gar nicht mal so groß«, meinte sie. »Mit starker Unwucht rotierend, weshalb in der Bahnberechnung auch noch eine minimale ...«

Sie kam nicht dazu, ihre Eingabe zu beenden. Rogers explodierte mit solcher Wucht, dass ich mich fragte, ob der Einschlag des Meteoriten wirklich die größte Gefahr war, der wir ausgesetzt waren.

»Gar nicht mal so groß«, äffte er und tobte dabei vor sich hin, dass ich froh war, ihn kilometerweit entfernt im vorderen Bereich des Schiffes zu wissen. »Zehn Tonnen massives Eisenerz kommen mit fünfunddreißigtausend Sachen auf uns zugerauscht, und Madame findet, das sei gar nicht so schlimm!«

Er rang nach Luft, wobei ein rasselndes Geräusch zu hören war, das mich um seine Gesundheit fürchten ließ. Sein Gesicht war dunkelrot. An den Schläfen traten dicke blaue Knoten hervor. Er sah aus, als wolle er sich die geäderten Augäpfel aus dem Schädel pressen.

»Das Ding schlägt uns in der Mitte durch wie der Handkantenschlag eines Kung-Fu-Kämpfers einen dürren Ast.« Er fasste Jennifer durch den Schirm hindurch scharf ins Auge. »Ihre geliebten Enthymesis-Explorer werden gleich in ihren Hangars pulverisiert, dass man die Detonation noch auf der Erde sehen kann!«

»Dann sollten wir es nicht so weit kommen lassen«, sagte Jennifer ungerührt und erhob sich von ihrer Konsole.

»Was haben Sie vor?«, fragte Frankel mit panischem Unterton in der Stimme. Er war einer dieser rechtschaffenen Bürger, die, während ihr Haus in Flammen steht, die Feuerwehrleute ermahnen, den Rasen nicht zu zertrampeln. Und er kannte Jennifer gut genug, um zu wissen, dass sie eine Vabanque-Spielerin war. Bei zahllosen Enthymesis-Einsätzen hatte sie bewiesen, dass sie in ausweglosen Situationen zu einer Künstlerin wurde, die mit graziöser Anmut Manöver von großer Eleganz und noch größerem Risiko vorführte.

»Wir lösen die Segmentkupplung zwischen IV und V«, riet ich.

»Das werden Sie schön bleiben lassen«, donnerte Rogers. Er schien gewachsen zu sein oder einen halben Meter über dem Boden zu schweben, anders konnte ich es mir nicht erklären, dass er über Frankel hinweg, der größer war als er und dichter am Schirm stand, in den Monitor brüllen konnte. »Sie würden unsere ohnehin fragile Automatik amputieren, wenn sie den Kontakt zwischen der Brücke und der Wissenschaftlichen unterbrächen. Außerdem dauert das Wiederankoppeln Stunden, und solange wären wir noch hilfloser als jetzt.« Sein Blick wurde schwarz und eng wie die Mündung einer kleinkalibrigen Strahlenwaffe. »Nur für den Fall, dass das Spiel mit Nummer vier nicht schon vorbei ist!«

Das war eine der Äußerungen, an denen man den ehemaligen General und Strategen erkannte. Aus Sicht des einfachen Soldaten, der auf verlorenem Posten verheizt wurde, schien es zwar Irrsinn zu sein, eine Schlacht verloren zu geben, um sich auf die nächste vorbereiten zu können, die kaum weniger verlustreich werden würde, aber an solchen ungerührten Gedankengängen erwies sich eben der kühne und weitblickende Schlachtenlenker.

Ich sah auf die Uhr. Die kostbaren Minuten rannen dahin. Mit einer Geschwindigkeit, die in dem Moment, da sie auf eine feste Bezugsgröße prallte, tödlich wurde, raste ein Objekt von der Masse einer Drohne heran, und wir standen da und debattierten. Sollten wir nicht langsam in die Boote gehen? Aber auf dem Oberdeck der Titanic wurde um die bequemsten Sitzplätze gefeilscht, während man sich im Bauch des Schiffes um die Buttervorräte stritt.

Wie immer, wenn die Situation schon nervenzerraspelnd genug war, meldete sich Jill mit einem absurden Vorschlag zu Wort.

»Warum zünden wir nicht einfach das Haupttriebwerk und schleichen uns aus der Schußbahn davon?«, fragte sie arglos. Es war ein weiteres Beispiel für ihre Unfähigkeit, unter Stress das logische Denken beizubehalten. Dinge, die ihr als Zweiter Pilotin klar sein mussten und die sie in der Messe beim Kaffee auch parat gehabt hätte, entfielen ihr, sowie es nur hoch her ging. Reynolds, der im Gegensatz dazu immer noch ruhiger und geduldiger wurde, je mehr die Dinge in Schieflage kamen, erklärte es ihr.

»Der Reaktorblock ist zu Wartungsarbeiten heruntergefahren, seit wir hier in die Parkbahn eingeschwenkt sind«, sagte er, als hätten wir alle Zeit zur Verfügung, solche Albernheiten auch noch ernsthaft durchzudiskutieren. »Ihn jetzt wieder anzuwerfen, würde mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Außerdem wäre es Wahnsinn, den Reaktor bei dem instabilen Zustand unserer Automatik hochfahren zu wollen.«

Lambert wischte sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht und funkelte ihn finster dabei an.

»Wahnsinn, ja?!«, schniefte sie. »Aber auf dem Präsentierteller sitzen zu bleiben, ohne sich zu rühren, ist kein Wahnsinn?!«

Es war einsichtig, dass ihre Widerspenstigkeit nur das Mäntelchen war, dass sie über den Lapsus ihrer grotesken Fehleinschätzung breiten wollte. Auf der Enthymesis hätte ich sie von der Brücke entfernen lassen.

»Darling«, sagte ich leise und legte Jennifer die Hand auf die Schulter, die ungerührt neben mir stand. Sie hatte sich an dem letzten Wortgefecht nicht mehr beteiligt, sondern stattdessen rasch einige Berechnungen durchgeführt und mehrere Downloads aktiviert, die von der Automatik der MARQUIS DE LAPLACE direkt auf die Rechner der Enthymesis überspielt wurden. Auf der Konsole hatte sie die Updates verfolgt, die die Bahndaten des heranrasenden Meteoriten aktualisierten. Jetzt richtete sie sich mit einem Ruck gerade, salutierte förmlich zum Schirm hin und sah Rogers mit so wildem Ausdruck an, dass selbst der alte Haudegen unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

»Dr. Rogers«, sagte sie in militärischem Tonfall, »erbitte das Kommando für Rettungsmaßnahmen in Segment IV. Alle Einheiten des operativen Sektors müssen mir für die« – sie sah auf die Uhr –, »für die nächsten 15 Minuten unterstellt werden.«

»Was haben Sie vor, Major?«

Rogers zögerte. Ich schnappte seinen Blick auf, der plötzlich trübe und greisenhaft war. Dabei rannen uns weitere kostbare Sekunden durch die Finger, wie der sonderbare Quarzsand auf Gamma Centauri III, der so fein war, dass er durch die Haut in das Gewebe eindrang und die Kapillaren verödete. Mehrere Männer meiner Crew sind damals qualvoll an Herzkranzödemen und Thrombosen gestorben.

Jennifer machte das einzig Richtige: statt weitschweifige Erläuterungen abzugeben, ging sie zum Befehlston über und erteilte Anweisungen.

»Setzen Sie Alarmstufe I«, schnarrte sie, als schicke sie einen Unteroffizier zum Latrinendienst. »Evakuieren Sie Segment IV mit Ausnahme der Angehörigen der fliegenden Crew. Lassen Sie das Große Drohnendeck vollständig räumen und leiten Sie Zündungssequenz für alle Enthymesis-Explorer ein.«

Sie wollte sich auf dem Absatz herumwerfen und davonwirbeln, um den Eindruck zu erwecken, dass es weiter nichts zu besprechen gäbe. Fakten zu schaffen war schon immer das Patentrezept im Umgang mit zauderlichen Vorgesetzten.

 

Während ich überlegte, was sie vorhaben mochte, erschien auf unserem zweiten Monitor das Bild Commodore Wiszewskys. Er wirkte wie ein Ludwig XVI., den man aus dem Mittagsschlaf geweckt hat, um ihm mitzuteilen, dass leider schon wieder ein Krieg ausgebrochen ist. Sein Haar stand in Strähnen um seinen Schädel, wie eine verrutschte Krone, und sein Blick war unpräzise und zerstreut.

»Da habe ich wohl noch ein Wörtchen mitzureden«, gähnte er.

Er hing in seinem gravimetrischen Sessel und legte nun zunächst eine größere rhetorische Pause ein, um seinen nachfolgenden Worten das größtmögliche Gewicht zu verleihen.

»Ich lausche ihrem Disput schon eine ganze Weile«, sagte er und klimperte demonstrativ auf der Armlehne, wo die Bedienfelder für die Kommunikation eingelassen waren.

Das war natürlich geheuchelt. Es war weder von Anfang an, noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf dem laufenden. Aber er hatte recht: so lange er an Bord war und das Oberkommando innehatte, konnte nur er über die Verhängung der höchsten Alarmstufe entscheiden; diese war normalerweise dem Gefechtszustand vorbehalten. Auch Evakuierungsmaßnahmen unterstanden seiner Anordnung.

»Selbstverständlich«, knirschte Rogers. »Ich wollte Ihren Befehlen nicht vorgreifen. Wir versuchen seit«, er stockte, »seit Ausbruch der Krise, Sie zu erreichen.«

»Ich weiß«, sagte Wiszewsky gelangweilt. »Aber ich fühle mich heute ein bisschen – indisponiert.« Er sah für mehrere Sekunden stumpf vor sich hin. Ein alter Mann mit leerem Blick. »Ich traute Ihnen zu, dieses kleine Missgeschick selbstständig zu beheben«, sagte er. »Aber wenn Major Ash nun zu der Auffassung gelangt ist, dass derart radikale Maßnahmen notwendig sein sollten, stehe ich nicht an, mich meiner Verantwortung für das gesamte Schiff zu entziehen.«

Die sensorielle Lehne seines Sessels gab nach. Er rutschte nach hinten. Zugleich drehte sich der schwenkbare gravimetrische Thron ein wenig. Die weiße Rundung eines nackten Pos kam für einen Moment ins Bild. Er konnte nur zu Svetlana Komarowa gehören, die sich auf der breiten gepolsterten Armlehne räkelte. Wiszewsky beeilte sich, den Sessel wieder gerade zu rücken. Er ließ sich nichts anmerken, aber für einen Augenblick hatte er wie ein zerknautschter Herrgott ausgesehen, der beim Schäkern mit seinem Lieblingsengel überrascht worden ist.

»Nun«, räusperte er sich. »Schwierige Situationen erfordern unkonventionelle Maßnahmen.«

Während ich hoffte, dass er an dieser Politikerfloskel ersticken möge, hatte ich Jennifer am Arm ergriffen. Schritt für Schritt stahlen wir uns nach rückwärts davon. Durch sparsame Kopfbewegungen gab ich Jill und Reynolds zu verstehen, dass sie sich bereithalten sollten, jeden Augenblick mit uns loszusprinten, sowie wir das offizielle GO! hatten. Uns blieben keine zwölf Minuten mehr.

»Major Ash«, setzte Wiszewsky seine Sonntagsrede fort, »Sie scheinen in der Ihnen eigenen Geistesgegenwart einen Notfallplan improvisiert zu haben. Sie wollten uns nicht einweihen, und vermutlich wäre es jetzt auch der falsche Zeitpunkt, eine ausführliche Darlegungen Ihrer Absichten einzufordern.«

Mit sichtlichem Stolz ließ er dieses Glanzstück seiner Eloquenz und seiner Auffassungsgabe auf uns wirken. Jennifer und ich standen mit dem Rücken zum Gang an der Gabelung, wo der direkte Weg zum Servicetunnel abzweigte. Aus zehn Metern Entfernung nickten wir unterwürfig und unter Vollführung angedeuteter Diener zum großen Schirm hin.

»Ich erteile Ihnen daher«, sagte Wiszewsky, »das kommissarische Kommando für die Durchführung dieser Aktion. Ich weiß nicht, was Sie ausgeheckt haben, und vielleicht ist es besser, wenn ich über die Details nicht näher informiert bin, aber ich vertraue Ihnen die Ausführung dieser für uns alle so entscheidenden Mission vorbehaltlos an.« Er überlegte. »Commander Norton wird Ihnen dabei assistieren«, fiel ihm dann noch ein.

Wir rannten los. Mit dem letzten Wimpernschlag hatte ich noch gesehen, wie Rogers bei Wiszewskys abschließender Bemerkung ein süffisantes Grinsen nicht unterdrücken konnte. Für ihn wäre eine Welt zusammengebrochen, wenn er das Kommando bei einer so brisanten Mission hätte abgegeben müssen – und noch dazu an eine Frau. Ich fand die Anweisung des Commodore, so tatterig er sich auch präsentiert hatte, plausibel.

Faktisch würde sich nur wenig ändern. Denn wenn wir uns an Bord der Enthymesis befanden und Jennifer an der Konsole der Ersten Pilotin Platz genommen hatte, handelte sie in der Regel sowieso vollkommen selbstständig. Ich ließ ihr freie Hand. Und da wir seit zwei Jahrzehnten ein eingespieltes Team waren, wusste ich, dass ich mich vollständig auf sie verlassen konnte.

»Gehen Sie auf einen lokalen Kanal«, hatte Jennifer noch in den Schirm gebrüllt und mit dem tragbaren Kommunikator gewedelt, ehe wir um die Ecke bogen und in dem langen grünlich erleuchteten Gang verschwanden.

»Erhöhen Sie die Abschirmung von Segment IV auf 125 Prozent«, schrie sie in ihr Sprechgerät, während wir nebeneinander den Gang hinunterrannten. »Und öffnen Sie sämtliche Hangars!«

Ich vergewisserte mich, dass Lambert und Reynolds uns in geringem Abstand folgten.

»Wie kommen wir da hin?«

Vor meinem inneren Auge sah ich in einer Art holographischer Ausschnittvergrößerung das Innere des Segments VI vor mir. Ein dreidimensionales Labyrinth von über 300 Decks auf der Fläche einer Kleinstadt. Und die vier winzigen Punkte, die sich langsam durch seine peripheren Regionen bewegten, waren wir.

»Rogers«, keuchte Jennifer in den Kommunikator, »geben Sie den Service-Schacht frei.«

Obwohl sie besser trainiert war als ich, kamen ihre Worte atemlos und abgehackt. Wir rannten so schnell wir konnten, um endlich diesen endlosen Verbindungsgang hinter uns zu bringen. Ich sah mich um. Jill hielt noch gut mit; sie legte ihre ganze Panik in ihre Beine. Obwohl sie kleingewachsen und sehr schmächtig war, ließ sie sich von uns nicht abhängen. Auch das kannte ich von ihr: Wenn es darauf ankam, konnte sie über sich hinauswachsen. Nur der stets etwas langsamere Reynolds war schon ziemlich abgeschlagen; er hatte in letzter Zeit etwas angesetzt und stolperte weit hinter uns um die Biegungen des Ganges.

»Jennifer«, versuchte ich mich mit hervorgestoßenen Sätzen verständlich zu machen. »Wir müssen Segment V durchqueren, das dauert eine halbe Stunde!«

Innerlich fluchte ich vor mich hin. Dieses riesige Schiff, und es verfügte über kein horizontales Beförderungssystem. Hallen, in denen man Flugschauen veranstalten konnte, kilometerlange Gänge, stundenweite Wege. Während der monatelangen Flugphasen, in denen man Zeit genug hatte und um ein wenig Bewegung froh war, mochte das angehen, aber in Situationen wie dieser, wo es um Minuten ging, vielleicht sogar um Sekunden, waren wir so beweglich, dass ein Supertanker neben uns wendig erschien.

»Wir gehen nicht über V«, gab Jennifer im Rhythmus ihrer tiefen Atemzüge zurück. »Wir gehen nach VII!«

Ich stutzte. Jetzt erst fiel mir auf: Ich war blind der Richtung gefolgt, die sie eingeschlagen hatte, wir liefen nach hinten, zum Heck der 12 Kilometer langen Konstruktion der MARQUIS DE LAPLACE.

»Was willst du denn im Kleinen Drohnendeck?«

»Na denk' doch auch einmal ein bisschen nach«, gab sie zurück und lächelte mich über die Schulter hinweg schnippisch an. Sie war jetzt in der aufgedrehten Stimmung, in der sie berauscht vor Adrenalin wirkte. Sie konnte sich in Wachtrance versetzen, die sie während ihrer Ausbildung auf Kloster Loma Ntang erlernt hatte und die es ihr ermöglichte, in Stress-Situationen Berechnungen mit Geschwindigkeit eines Quantenrechners durchzuführen.

Allerdings bezweifelte ich, dass das in der gegenwärtigen Phase der Fall war. Vermutlich war ihr Plan sogar ganz einfach; er musste es sein.