Phalansterium

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Phalansterium
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Matthias Falke



Phalansterium



Band I und II





© 2015 Begedia Verlag



© 2013 Matthias Falke





Umschlagbild - Alexander Preuss



Lektorat und Satz - Harald Giersche



ebook-Bearbeitung - Harald Giersche





ISBN-13 - 978-3-95777-057-8 (epub)





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http://verlag.begedia.de





Das ENTHYMESIS-Universum



Eine Science-Fiction-Saga in sieben Trilogien





1. Laertes



2. Exploration



3. Gaugamela



4. Zthronmic





5. Tloxi



- Kampf mit den Tloxi



- Phalansterium



- Sternentor





6. Jin-Xing



7. Rongphu




Band I




Teil 1: Der Abschied




Kapitel 1: Katzenjammer



Als ich aufwachte, war der Platz neben mir leer. Ich blieb noch eine Weile liegen und genoss es, aus den Träumen aufzutauchen und in die Realität zurückzukehren. Lange sah ich mir selbst beim Erwachen zu, und die Bilder flossen von mir ab wie das Wasser von einem Leviathan, der sich zum Sprung aus dem Ozean schält.



Wir waren zusammen gewesen. In einer Weise, die es so nur in Träumen gibt. Wir waren eins gewesen, ein Hermaphrodit mit vier Armen und vier Beinen, zwei Mündern, die sich passgerecht ineinander saugten, und zwei schreienden Lungen. Eine goldene Kugel aus Leben, die Lust verglitzernd den Hang namens Liebe hinunterrollte und in einer weiten baumlosen Ebene liegen blieb. Diese Ebene war ohne Ende, ohne Grenze, ohne Horizont. Eine weiße Sonne brannte auf ihre schwarzen Schlackeflächen herab, ein teilnahmsloser Stern, der nie untergehen und nie erlöschen würde. In der Ferne führte ein Bauer den Pflug über diesen uferlosen Acker des Seins.



Immer wieder sank ich schwer in die Fluten der Visionen zurück, die zäh und teigig waren und mich nicht freigeben wollten. Dann tauchte ich doch daraus empor und war wieder in dem kleinen Zelt. Der Platz neben mir war leer. Der Eingang stand offen. Kühler Wind bauschte die Plane aus intelligentem Material. Draußen schien die Sonne.



Wie herrlich man hier schlief! Wie anders alles war. Die Luft so unbeschreiblich leicht und klar und heiter. Alles war erfüllt von der trockenen Nüchternheit des Hochgebirges. Man fühlte sich frei.



Ich richtete mich auf. Es war kalt. Sowie ich mich aus dem Schlafsack schälte, der selbsttätig die ideale Temperatur gehalten hatte, spürte ich die tausend Kiefer und Zangen des Frostes, die nach meinen Wangen, Händen und Füßen bissen. Der Rest meines Körpers steckte in dem sensoriellen Unterzeug, das sich sofort erwärmte.



Nachts hatte es gefroren. Ich lugte aus dem halboffenen Zelteingang. Wo die Büsche und Sträucher im Schatten lagen, waren sie von knisterndem Reif bedeckt. Aber auf der Wiese, die den Vorplatz unseres kleinen Lagers bildete, webte warmer Sonnenschein.



Ich stand auf und ging hinaus. Das Gras war trocken und warm. Es war herrlich, darüber hinwegzuschreiten. Wann war ich zuletzt barfuss über eine Wiese gegangen? Insekten summten. Asternartige Blumen öffneten ihre Kelche und richteten sie schlaftrunken auf die Sonne aus. Viertausend Meter über mir brannten die Firne der gewaltigen Gebirge dieser Welt im ungefilterten Morgenlicht.



Ich überquerte die Wiese und setzte mich auf einen großen Felsblock, der einladend in dem Meer aus Halmen ausharrte. Aus einer Laune, aus einem Zuviel an guter Laune heraus, schlug ich die Beine unter und nahm Meditationshaltung ein, als sei ich ein großer Yogi. Im Lotossitz, die Augen geschlossen, ließ ich mich von der organischen Wärme bescheinen, die aus dem tiefen Blau des Himmels auf mich ausgegossen wurde. Dieses Licht, diese Wärme, dieses Wohlbefinden gab es nur auf einer Welt, auf der Oberfläche eines Planeten, im schützenden Zelt einer Atmosphäre. Man musste Jahre an Bord von Schiffen und Raumbasen verbrachten haben, sein halbes Leben, um zu begreifen was das war, ein Morgen im Gebirge. Nur hier konnte man Mensch sein. Nur hier konnte man genesen.



Sowie ich die Augen schloss, blitzten wieder Bilder auf. Die metallischen Kuppen der denkenden Inseln in den cyanblauen Ozeanen des Planeten G.R.O.M. Gefechte und Explosionen vor der dröhnenden Leere des Raumes. Schiffe, riesige Schiffe, die brannten, in den Orbits über so vielen Welten. Jennifer, die aus dem Wasser geschritten kam und sich neben mich in den Schatten einer fremdartigen Palme lagerte. Jennifer, die ausgemergelt auf einer kupferfarbenen Klippe ausharrte wie der Heilige Gregor vor seiner Erwählung. Jennifer, die mich zum ersten Mal küsste und dann, ohne den Blick von mir zu nehmen, die Kleider abstreifte, sich von mir losmachte und ins Meer hinauslief, das warm vor lauter Nacht und Begierde war.



Jennifer!



In den Jahrzehnten unseres gemeinsamen Lebens war es uns Gewohnheit geworden, dass sie vor mir aufstand. Sie brauchte weniger Schlaf als ich. Meist war sie morgens schon auf der Brücke oder im Labor oder wo wir eben gerade zu tun hatten, bis ich die Benommenheit abschüttelte und mich von einer Tasse Kaffee zur Vernehmungsfähigkeit anstacheln ließ.



Auch jetzt war sie verschwunden. Sie musste aufgestanden und aus dem Zelt gekrochen sein, als ich noch in der klebrigen Schwere der Morgenträume hing. Sie träumte ebenfalls viel. Nachts hörte ich sie keuchen, stöhnen und schreien. Sie warf sich herum, und die ausgeklügelte Sensorik des intelligenten Schlafsacks konnte nicht verhindern, dass sie schweißgebadet war. Was bei mir nur besonders plastische Träume bei Nacht und irritierend intensive Déjà-Vues am Tag waren, waren bei ihr tödliche seelische Verwundungen und Traumata. Diese Verletzungen gingen auf ihre Geiselhaft bei den Zthronmic zurück. Und die Monster, die sie in inneren Käfigen verschlossen hatte, hatten während ihres Zusammenbruchs auf der spektakulären Hochzeit der kuLau laut und vernehmlich an ihren Gitterstäben gerüttelt .





***





Der Repräsentant Ang’Laq stand im Vorzimmer wie ein übermannshoher Ficus. Seine langen Extremitäten, die an Schlingpflanzen erinnerten, gestikulierten sachte, wie von einem zärtlichen Lufthauch bewegt. Noch nie war ich einem dieser Wesen so nahe gekommen, und jetzt stand ich in seiner Aura wie in der Duftglocke eines tropischen Gewächses. Die Zweige und Blätter verströmten den intensiven erdigen Geruch eines Tomatenstrauchs, dessen Laub man in der prallen Sonne mit den bloßen Händen brach. Es war aber auch ein süßeres Arom hinein vermischt, Blütenstaub und schwerer Pollen. Der kuLau war trächtig. An seinen Zweigen hingen überall halbreife birnenförmige Früchte. Bald würden sie abfallen und zu Sekundärwesen heranwachsen. Der Hochzeit und Paarung hatten wir beigewohnt. Wir hatten miterlebt, wie hochwohlgeborene Brautleute und Fürstenkinder ineinander gewachsen waren. Sie hatten ihre Blütenschirme einander zugewandt, und in diesem Moment begriff man, dass es Halbsphären waren. Sie ergänzten einander zu bunten, oszillierenden, farbensprühenden Kugeln. Ihre pflanzenartigen Körper, die einander während des Tanzes umwunden hatten, rankten sich ineinander, wucherten durcheinander, verflochten und verstrickten sich miteinander, bis sie zu einem hochragenden Strauch verschmolzen, der astreicher und buschiger war als zuvor.



Dieses Wesen stand nun vor mir und ließ seine lianengrünen Zweige im Wind eines unhörbaren Gespräches wehen.



Der Translator übersetzte. Den kuLau war der Vorfall unangenehm. Ihre Hochzeit hatte der festliche Höhepunkt der Neugründung der Union sein sollen. Die Wirkung auf die Zuschauer hatten sie so nicht vorhergesehen. Dass ausgerechnet Jennifer einen lebensbedrohlichen Zusammenbruch erlitten hatte, erfüllte sie mit Bestürzung. Der Repräsentant Ang’Laq, der aus der zeremoniellen Vereinigung hervorgegangen war, drückte seine Besorgnis und Anteilnahme aus. Ich dankte ihm und nahm das Geschenk entgegen. Eine Art Honig, der von seinem Heimatplaneten stammte und dessen Genuss heilkräftige Wirkung zugeschrieben wurde. Angesichts der Erschütterungen, die der bloße Anblick ihrer Hochzeit im Publikum hervorgerufen hatte, verspürte ich wenig Lust, das Zeug zu mir zu nehmen oder damit an Jennifer zu experimentieren. Aber das sagte ich natürlich nicht. Ich dankte dem Repräsentanten für seine Anteilnahme und versicherte ihm, dass ich ihn über das Stabslog auf dem Laufenden halten werde, was Jennifers Genesung anging. Dann komplimentierte ich ihn hinaus. Noch lange hing der üppige Geruch im Raum, wie von einem blühenden Gehölz nach einem Monsunregen auf einer fruchtbaren Tropenwelt.



Laertes kam herein. Er war Ang’Laq noch im Durchgang begegnet, der zum Unionsmodul führte, und hatte ein wenig Konversation mit ihm gemacht. Jetzt reichte er mir die Hand.



»Beneidenswert«, sagte er nachdenklich.



»Was meinst du?«



»Man sagt, Geliebte würden im Himmel zu einem Engel. Diesen Kreaturen ist das schon im Diesseits vergönnt.« Er lächelte melancholisch.



»Würdest du das wollen?«, fragte ich.



»Man wäre nie mehr allein.« Er hob die Schultern und sah mich an. Dann wurde er ernst. »Wie geht es ihr?«



Ich beschrieb eine ausweichende Geste. »Ihr Zustand ist stabil.«



Der alte Philosoph las in meiner Miene wie in einem Buch. »Kann ich sie sehen?«



»Sie lassen niemanden hinein.«



Er nickte.



Ich trat an die Tür zum Krankenzimmer und öffnete sie einen Spalt. Laertes lugte hindurch. Wir blickten auf das Bett und die abgemagerte Jennifer, die seit achtundvierzig Stunden im Koma lag. Sofort sprang die Krankenschwester auf, die zu ihrer Bewachung abgestellt war.



»Bitte, meine Herren«, fauchte sie. »Die Patientin benötigt absolute Ruhe!«

 



Laertes zog sich zurück. Ich schloss die Tür wieder. Er kaute auf den Lippen. Ich sah, dass der Anblick ihm nahegegangen war.



»Wird sie ...« Er brachte den Satz nicht zuende.



»Sie wird zurückgeholt«, sagte ich. »Voraussichtlich morgen.«



Er stieß gequält die Luft aus. »Warst du die ganze Zeit bei ihr?«



Ich nickte.





***





Nach ihrem Kollaps hatte ich sie auf die Krankenstation gebracht, die die Union auf dem Torus unterhielt. Man hatte sie an die Überwachung angeschlossen und in einen künstlichen Heilschlaf überführt. Zwei Tage und zwei Nächte wachte ich an ihrem Bett. Ihre Werte normalisierten sich allmählich. Am Kopfende hingen die Apparate, die ihren Kreislauf überwachten. Medikamente und Nährlösungen tröpfelten aus durchscheinenden Schläuchen in ihre Armvene. An Brust und Schläfen hafteten Sensoren, die jeden Herzschlag, jeden Atemzug, jede Veränderung des Muskeltonus oder der Hautelektrizität registrierten.



Und am Fußende baumelten die Beutel, die ihre Ausscheidungen auffingen. Die Schwester wollte mich hinausschicken, wenn sie sie erneuerte. Aber ich weigerte mich. Da gab es nichts, weswegen man sich hätte schämen müssen. Ich trat beiseite, um ihr Platz zu machen, und sah dann zu, wie sie sie wusch und ihre Hilfsmittel auswechselte. Jennifer lag da, zum Skelett abgemagert. Von oben führten Schläuche zu ihrer Nase und ihren Armen. Aus ihrem Unterleib kamen andere Schläuche hervor. Der menschliche Organismus war nur ein Durchlauferhitzer für unterschiedliche Säfte. Eine Maschine, die Zucker in Harn verwandelte, und nichts außerdem? Die Apparate registrierten ihre Hirnströme. Es gab Phasen der Ruhe und Phasen starker Aktivität.



»Sie träumt«, sagte der behandelnde Arzt, wenn wir auf die fiebrigen Ausschläge der Diagramme starrten.



Ich wusste, dass es keine normalen Träume waren. Es waren Traumata, Urängste, nicht wiedergutzumachende Verstörungen und mentale Verletzungen. Ein seelischer Krebs fraß an ihr.





Ihr Haar wurde immer ungebärdiger. Ich half der Schwester, es zu kämmen und in einem Netz zu verstauen, wie Jennifer es auch verwandte, wenn sie einen Helm trug. Wir würden es abschneiden müssen, wenn sie noch länger im Koma blieb. Aber der Arzt beruhigte mich. Mehr als ein oder zwei Tage waren nicht nötig.



Es gab auf dem Torus weder Tag noch Nacht. Die gigantische Raumstation trieb frei auf ihrer Bahn um das Doppelsystem, dessen rotes und blaues Licht seinem eigenen Rhythmus folgte. Ich programmierte das Krankenzimmer auf einen Vierundzwanzigstunden-Modus, so dass die Außenfenster selbsttätig die Polarisation vertieften, wenn es »Abend« wurde. Dann hatte auch die Schwester Schichtende. Ich saß in dem gravimetrischen Stuhl, den ich an das Bett herangefahren hatte, und döste, Jennifers Hand in der meinen. Ab und zu zuckten ihre Finger, als wolle sie mir im geheimen Zeichen-Alphabet der Prana Bindu etwas mitteilen. Aber es waren nur Reflexe, die durch ihre Nervenstränge liefen. Es war dunkel. Lediglich die Anzeigen der Apparate glimmten grün und blau durch die künstliche Finsternis. Im Grunde war es wie auf der Brücke eines Schiffes, wenn man die Nachtwache übernommen hatte. Nur Dunkelheit und das leise Rauschen der Lüftung und der sonstigen Instrumente. Gedanken kamen und gingen. Der eigene Atem wurde aufdringlich. Manchmal war es so still, dass man den Puls hören konnte, der einem in der Brust schmetterte, als müsse das einfach so sein. Ich schlief ein und schrak wieder hoch. Eine Stunde war eine gelinde Ewigkeit, eine uferlose Ebene aus Zeit. Aber wenn die Nacht vorbei war und die Panoramascheiben ganz von selber wieder transparent wurden, hatte ich das Gefühl, dass ich mich gerade erst hingesetzt hatte. Die Zeit war verdunstet, in dem Moment, da sie vergangen war. Sie hinterließ nicht die geringste Spur in meinem Bewusstsein.



Morgens half ich der Schwester, Jennifer zu waschen und ihre Anschlüsse zu erneuern. Ich ging duschen und holte mir einen Kaffee. Und dann saß ich wieder da und sah sie an, die immer noch schöner wurde.



Immer wieder musste ich die Freunde abwimmeln, die im Vorraum herumlungerten oder über Stabslog anfragten. Es tat ungeheuer gut, ihre Anteilnahme zu spüren. Aber solange es nichts zu berichten gab, hatten die Erkundigungen auch etwas Quälendes. Sie sahen das in der Regel ein und verabschiedeten sich wieder. Ein ums andere Mal sagte ich den Satz, dass ich sie auf dem Laufenden halten werde. Aber es geschah nichts. Jennifer war wie eine Pflanze. Organisches Gewebe, in dem Flüssigkeiten zirkulierten. Ich konnte nur mutmaßen, was in ihr vorging, und hoffen, dass das künstliche Koma, in das man sie gesperrt hatte, für ihren Geist nicht zu einem Verlies wurde, in dem sie den Ungeheuern hilflos ausgeliefert war. Was, wenn die Monster, die sie in sich trug, sich losgerissen hatten und ihre Seele zerfleischten, und die Flucht ins Bewusstsein ihr einziger Ausweg war, aber diesen Ausweg hatte man ihr verlegt?



Ich versuchte Hoffnung aus der routinierten Teilnahmslosigkeit des Arztes und der Schwester zu saugen. Sie gingen ihren Aufgaben nach, als handele es sich um die Bedienung einer robusten und gefühllosen Maschine. Ab und zu notierte der Mediziner etwas in seinem Log oder er gab der Schwester halblaute Anweisungen. Dann fummelte diese an der Steuerung der Überwachung. Vielleicht wurde das Dopamin erhöht oder der Blutzucker abgesenkt? Mir teilte man davon nichts mit, obwohl ich anwesend und der nächste Angehörige war. Ich ließ es auf sich beruhen und tröstete mich mit der Überlegung, die Leute würden schon alles richtig machen.





***





Nachdem Laertes gegangen war, drückte ich mich wieder ins Zimmer, um meinen Platz einzunehmen. Aber die Schwester, die Jennifer unterdessen für die Nacht fertig gemacht hatte, schickte mich weg.



»Sie müssen sich ausruhen«, sagte sie.



Ich erwiderte, dass ich am Morgen geduscht und frische Sachen angezogen hatte. Über den Tag verteilt hatte ich mich mit Kaffee und den trockenen Keksen aufrecht gehalten, die ich auch auf der Brücke der Enthymesis immer zur Hand hatte, und so würde ich auch die kommende Nacht überstehen.



»Sie sollten sich einmal sehen, Commander!« Sie lachte. Im Gegensatz zu dem barschen Ton, mit dem sie Laertes und andere Besucher fortschickte, war sie erstaunlich freundlich, wenn wir unter uns waren.



»Ich komme zurecht«, sagte ich. »Danke für Ihre Aufmerksamkeit.«



»Gehen Sie auf Ihre Kabine und legen Sie sich hin«, wiederholte sie, jetzt schon wieder ein Spur strenger. »Morgen beginnen wir mit der Rückholung, da braucht Ihre Frau Sie mehr als jetzt.«



Ich ließ einen letzten Blick über die madonnenhaft schöne Jennifer schweifen, die wie aufgebahrt in ihrem Bett ruhte, und sah es dann ein. Mit der Schwester war nicht zu spaßen, und die Aussicht, wenigstens ein paar Stunden in einem richtigen Bett zu schlafen, wurde in diesem Moment zu einer übermächtigen Verlockung.



»Ist gut«, sagte ich matt. »Aber jemand ist hier?«



»Eine Kollegin kommt«, sagte die Krankenschwester. »Im übrigen haben wir hier eine vollautomatische Überwachung. Wenn etwas passiert, ist der Arzt in dreißig Sekunden da.«



Ich nickte resigniert.



»Aber es wird nichts passieren«, sagte sie noch. »Ihr Zustand ist vollkommen stabil.«



Da riss ich mich los und ging hinaus.



Das Unionsmodul war nicht sehr groß und zu dieser Zeit nur spärlich besetzt. Ich schaffte es, in den Bereich der Offiziersunterkünfte zu kommen, ohne jemandem zu begegnen. Aus irgendeinem Grund wollte ich jetzt niemanden sehen und mit niemandem reden. Einige junge Piloten und Adjutanten vom Stab kamen mir entgegen, die unpersönlich grüßten, aber mich zum Glück nicht behelligten. Ich ging in die Lounge und bestellte bei der Ordonnanz ein Abendessen. Immerhin die erste warme Mahlzeit seit achtundvierzig Stunden. Dann begab ich mich auf meine Kabine.



Ich setzte mich aufs Bett. Die Ordonnanz kam und brachte das Tablett. Ich wartete, bis sie wieder gegangen war, und widmete mich dann schweigend dem Hühnchen, dem Curryreis und dem frischen Gemüse, das weder frisch war noch Gemüse, das aber doch erstaunlich gut schmeckte. Nach dem Essen holte ich mir ein Bier aus der kleinen Bar, die wir im Zimmer hatten. Dann saß ich wieder da. Laertes’ Worte gingen mir im Kopf herum. Solange ich an Jennifers Bett gewacht hatte, war ich nicht allein gewesen. Sie war ja da, wenn auch nur in Gestalt einer zum Skelett abgemagerten, von wächserner Haut bespannten Mumie, von der man nur rätseln konnte, ob noch genügend Leben in ihr war, um jemals wieder zu erwachen.



Erst jetzt, auf der standardisierten Kabine, die unsere Unterkunft während unserer Aufenthalte auf dem Torus war, spürte ich die drückende Last der Einsamkeit, die schwerer und schwerer wurde. Sie türmte sich über mir wie ein Berg, der mir die Brust zusammendrückte. Wie würde es sein, wenn Jennifer nie wieder zu sich kam? Ich begriff, dass ich das nicht ertragen würde, und versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben. Aber es gelang nicht. Eine Leere tat sich auf, die ich in meinem ganzen Leben nicht gekannt hatte. Ein Abgrund, dessen andere Seite im Nebel lag, so dass man nicht wissen konnte, wie weit sie entfernt war und ob es sie überhaupt gab.



»Man wäre nie wieder allein.«



Aber uns war das nicht vergönnt.



Irgendwann kamen der Schlafmangel und der Alkohol mir zuhilfe und entführten mich in gnädige Bewusstlosigkeit.





Am nächsten Morgen fand ich mich um acht Uhr Bordzeit im Krankenzimmer ein. Der Arzt und die Schwester waren schon da. Die »Kollegin«, die angeblich die Nacht auf der Station verbracht hatte, war natürlich eine Lüge gewesen, um mich loszuwerden. Ich zuckte dazu die Achseln. Es war alles gut gegangen. Jennifer hatte auch ihre dritte Nacht im Koma überstanden.



Der Arzt nickte mir zu. Für seine Verhältnisse wirkte er heute geradezu unternehmungslustig. Die Schwester trat an das Steuermodul der Überwachungseinheit und nahm ein paar Eingaben vor. Im Grunde war es nicht anders als auf der Brücke eines Schiffes. Der Kommandant befahl eine Kursänderung, die Piloten gab an der Konsole die Koordinaten ein. Der Vektor, der jetzt anlag, lautete Bewusstsein.



Die Nanopumpen begannen zu arbeiten. Andere Hormone und Medikamente strömten in den Organismus, der irgendwie das tragende Substrat einer Entität namens »Jennifer« war. Das alles wurde mir immer rätselhafter und unheimlicher, je länger ich es mir ansah. Nicht, dass ich nicht jeden Zentimeter dieses Körpers kannte und, von den Zehen bis zum Scheitel, tausendmal geküsst hatte, aber letztlich war es doch nur eine sterbliche Hülle. Was hatte sie damit zu tun?



Am späten Vormittag schlug sie die Augen auf. Sie war blass, und ihr Blick war voller Staunen. Ein Neugeborenes, das ein voll entwickeltes Bewusstsein hatte und doch alles zum ersten Mal sah, würde so in die Welt schauen, sprachlos vor Schwachheit und Überwältigung. Sie konnte nichts sagen. Sie war zu erschöpft, um Worte zu formen. Aber das war auch nicht nötig. Ich legte den Finger an die Lippen, um es ihr zu bedeuten. Wir sahen uns einfach nur an. Sie lächelte. Alles war gut.



Sie war intubiert gewesen. Das Einzige, was sie hervorbrachte, war ein heiseres Krächzen. Es schien ihr Schmerzen zu bereiten. Ich gestikulierte eine Weile, um auszudrücken, dass sie sich Zeit lassen und sich schonen solle, bis mir einfiel, dass sie stumm, aber nicht taub war.



»Ruh dich aus«, sagte ich, unwillkürlich flüsternd.



Sie legte den Kopf schief und betrachtete mich auf diese warme Art, bei der ich mich immer wie ein kleiner Junge fühlte.



Die Schwester flößte ihr ein paar Tropfen süßen Tees ein. Dann schien ihr zumindest das Schlucken nicht mehr so schwer zu fallen.



Ihre Kabel, Schläuche und Katheter wurden entfernt. Ich half ihr aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen, um ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. Dann begleitete ich sie auf die Toilette. Das Wasserlassen musste eine Qual sein. Ich sah, wie sie ihre ganze Selbstbeherrschung aufbot. Der Urin war dunkel und voller Blut. Trotz der intravenösen Versorgung war sie dehydriert. Es kostete sie Überwindung, wieder aufzustehen. Mit einem angespannten Lächeln, als beobachte sie einen Vorgang, der sie im Grunde nichts anging, ließ sie all diese Verrichtungen über sich ergehen. Ich hielt sie an der Hand und geleitete sie die paar Schritte bis zur Dusche. Dort wusch ich sie mit warmem Wasser. Es waren Augenblicke einer nicht mehr zu überbietenden Intimität. Nicht anders, als wenn ich mich selbst eingeseift und abgespült hätte. Wir waren eins!

 



Anschließend bekam sie ein Nachthemd übergestreift und wurde wieder ins Bett gelegt. Die Schwester löffelte ihr eine Suppe ein. Und ganz langsam kam sie wieder zu Kräften. Ihr Gesicht, das gelb und wie ausgeleert gewesen war, bekam wieder Farbe. Ihr Blick wurde präziser, wacher, klarer. Zwei Stunden, nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte, hatte ich das Gefühl, dass es wieder Jennifer war, die mich aus den Kissen heraus anblickte.



Ich brachte sie auf den letzten Stand. Die Gründung der Neuen Union. Den Rückzug der Tloxi von dem Planeten G.R.O.M. Die Einsetzung einer paritätisch von allen raumfahrenden Völkern kontrollierten Kommission, die die Zthrontat-Vorkommen in der Galaxis verwaltete. Sie hörte sich das an. Ob es sie interessierte, war nicht zu erkennen. Anschließend streckte sie sich aus und schlief mehrere Stunden.





***





Jennifer blieb verschwunden. Daran war nichts Besorgniserregendes. Sie war schon immer eine Herumtreiberin gewesen, eine Ausreißerin. Morgens stand sie auf und tigerte irgendwo herum. Auf der ENTHYMESIS fand man sie im Labor, auf der MARQUIS DE LAPLACE ging sie gerne aufs Drohnendeck. Schon früher war sie eine gewesen, die sich nicht festlegen ließ und schon gar nicht einsperren. Auf der Akademie galt es als aussichtslos, dass jemand sie heimführen könne. Ihr Wille nach Freiheit und Unabhängigkeit war größer als alles andere. Mit dem einen oder anderen ging sie aus, aber nie länger als für eine Nacht. Sie würde sich niemals binden, hieß es, und es wurden Wetten abgeschlossen, wer sich als nächstes an ihr die Zähne ausbeißen würde. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde Wiszewsky das Rennen machen. Er war die mit Abstand beste Partie in der gesamten Union. Gutaussehend, charmant, und nach Persephone wurde er Oberkommandierender der neuen MARQUIS DE LAPLACE.



Aber dann hat sie doch einen gewissen Frank Norton erwählt und ist den Rest ihres Lebens mit ihm zusammengeblieben.



Ich saß auf dem Felsblock mitten in der Wiese, ließ mich von Insekten umsummen und saugte die Sonne in mich auf.



Jennifer.



Je älter ich wurde, umso unwahrscheinlicher kam mir alles vor. Nicht, dass wir das Universum umrundet und das Sinesische Imperium in den Staub getreten hatten, sondern die scheinbar ganz alltäglichen und selbstverständlichen Dinge. Dass ich Kommandant eines Schiffes war. Dass wir die Akademie abgeschlossen hatten. Manchmal vergaß ich das und war dann wieder der neunzehnjährigen College-Absolvent, der sich voller Angst und Abenteuerlust zu einer Karriere bei der Union entschlossen hatte. Staunend betraten wir am ersten Tag den Campus und standen lange vor dem originalgetreuen Nachbau eines ENTHYMESIS-Explorers, der fünfzig Meter hoch und zweihundert Meter breit den Zugang zu den Instituten und Hörsälen versperrte. Hier war es ein Modell im Massstab eins zu eins, in dem die Verwaltung untergebracht war. Aber solche Schiffe gab es wirklich. Wir würden mit ihnen fliegen.



Und dass ich eine Jennifer Ash mein eigen nannte.



Mein Sitz auf dem sonnenwarmen Stein war wie ein Horst auf einer Bergspitze, von der ich über eine weite Landschaft hinaussah. Die Jahrzehnte wurden zu einer Ebene, die ich überblickte und auf der ich in Gedanken hin und her wandern konnte. Schlachten tobten darauf und Passagen düsterster Einsamkeit. An Aufregung hatte es nicht gemangelt. Aber eine war immer neben mir gegangen.



Auch wenn sie gerade einmal nicht zu sehen war. Vielleicht streifte sie am Fluss entlang oder sie kraxelte in einem Seitental herum. Oder sie hatte sich einen Platz wie diesen gesucht, um darauf zu meditieren. Nachts hatte sie gestöhnt und geschrien. Ich hatte immer wieder versucht, sie zu beruhigen. Obwohl das sensorielle Gewebe ihre Körperfunktionen überwachte, war sie schweißgebadet gewesen. Sie hatte den Schlafsack abgeschüttelt und lag ungeschützt im Zelt, dessen äußere Planen von Raureif knisterten. Sie knirschte mit den Zähnen wie damals, bei der Hochzeit der kuLau, und sie trat mit den Beinen aus, als erwehre sie sich einer imaginären Meute, die nach ihren Knöcheln schnappte.



Irgendwann war ich eingeschlafen. Ich hatte nicht mitbekommen, wie sie das Zelt verlassen hatte. Jetzt war sie fort. Ich konnte sie anpingen. Dann fiel mir ein, dass sie ihr Handkom fortgeworfen hatte. Sie wollte offline sein auf dieser Wanderung. Und ganz langsam fing ich an, mir Sorgen zu machen.





***





Am Nachmittag wachte sie wieder auf. Das unternehmungslustige Funkeln in ihren Augen drückte aus, dass sie vollständig wiederhergestellt war. Sie schwang die Beine aus dem Bett und sah sich suchend im Zimmer um. Ihre Gala-Uniform, in der sie