Opak

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Ich brauche also kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich für drei Wochen aufs Ohr lege? Wenn du es möchtest, kann ich dir aber auch Gesellschaft leisten.«

»Ich weiß, dass es unhöflich ist, aber nichts ist mir im Leben zu entbehren leichter gefallen als Gesellschaft. Auch wenn es so – erträgliche ist wie Ihre, Commander Carlssen.«

»Dann übergebe ich Ihnen hiermit das Kommando über den Explorer Dorset.«

»Gute Nacht! ›Träumen Sie schön‹, kann man ja nicht sagen, so bleiern wie man in den Tiefschlafkojen liegt.«

»In der Erprobungsphase haben eine Reihe von Testpersonen schwere psychische Schäden davongetragen, als sie mehrere Monate am Stück träumten, ohne dazwischen zu Bewusstsein zu kommen. Unsere neuronale Struktur ist darauf nicht vorbereitet. Sie waren völlig orientierungslos und brauchten langwierige Rehabilitationsverfahren, um wieder zu sich zu kommen. Ein Testschläfer, der über ein Jahr in der Box gelegen hatte, war unheilbar und zeigte an Autismus erinnernde Symptome. Daher das viele Blei.«

»Dann also: Guten Tiefschlaf.«

Silesio blendete den Monitor aus, auf dem er den Einschlafvorgang des Commanders verfolgt hatte. Die sensorielle Koje arbeitete einwandfrei und er übergab die Kontrolle der lebenserhaltenden Systeme an die Automatik. Er meldete sich ab und ließ alle Routinen unterhalb Priorität I unterdrücken. Er würde nur gestört werden, wenn ein Besatzungsmitglied in Lebensgefahr wäre, wenn ein Objekt sich auf Kollisionkurs näherte oder wenn eine Nachricht des Status topsecret übermittelt würde.

Er aktivierte seine aktuelle Datei, die mit der Freisprech-Software verknüpft war, und stand langsam auf. Immer noch formulierte er am liebsten, indem er die Hände hinter dem Rücken verschränkte und langsam auf und ab ging. Er hatte die Sessel der schlafenden Crewmitglieder versenken und das Licht im Cockpit herunterdimmen lassen. Aus der blau tickenden Dunkelheit heraus sah er durch die Frontscheibe. Obwohl sich das Schiff mit einer Geschwindigkeit bewegte, die unvorstellbar war, wenn man sie in Relation zu einem festen körperlichen Objekt setzte, war der Sternenhintergrund des Panoramafensters vollkommen unveränderlich. Es würde noch Wochen dauern, bis Jupiter aus einem unentschlossenen Punkt zu einem Klecks herangewachsen war. Er versuchte in einer meditativen Anstrengung, sich die Dimensionen des leeren Raumes, den sie innerhalb des Sonnensystems durchmaßen, vorzustellen. Er entwarf Skizzen und Planzeichnungen mit den Bahnen der äußeren Planeten und projizierte vor seinem geistigen Auge die elegante Parabel hinein, die die Dorset zwischen der siebten und der fünften der weit gespannten Ellipsen beschrieb. Dann sah er wieder hinaus in den festgezurrten Sternenhimmel. Er stellte interne Rechenvergleiche über ihre Geschwindigkeit an – zwanzig Minuten von der Erde zum Mond; vier Tage von der Erde zur Sonne –, um sich die ungeheure Ausdehnung begreiflich zu machen, die unser System außerhalb der Marsbahn annimmt. Aber es blieb eine zum Scheitern verurteilte, verzweifelte Denkanstrengung. Er konnte die Einzeldistanzen berechnen und Relationen herstellen, aber eine innere Vorstellung, ein seelisches Bild, das er als Begriffenhaben hätte bezeichnen können, gelang ihm nicht in sich zu erzeugen. Natürlich gab es da auf rein intellektuelle Art nichts zu »verstehen« – schon als Schüler hatte er maßstabsgetreue Diagramme der Planetenbahnen gezeichnet und sich über die enormen Abstände gewundert, die von Jupiter an auftraten. Aber der Versuch, diese Räume leibhaftig in sich zu erzeugen, schlug immer wieder fehl und glitt an der Maßlosigkeit der kosmischen Dimensionen ab. In diesem Augenblick erschien ihm traumhaft und unwirklich, dass er sich sogar außerhalb des Sonnensystems befunden und mehrere der näher gelegenen Sterne besucht hatte. Ein Bild aus seiner Jugend fiel ihm ein. Er saß an der Ostküste Kauais, dem nordwestlichsten Ableger des Hawaiianischen Archipels, und sah auf die abendliche Dünung des Pazifik hinaus. Er hatte sich ein paar Wochen zuvor verlobt, Cynthia aber bei dieser schon länger geplanten Reise nicht mitnehmen können. Nun sah er über die harmlosen Wellen, die in der Dämmerung den Ton gerösteter Krabben angenommen hatten, zum Horizont hinaus, wo sich einige Gewitterwolken dem nachtblauen Himmel entgegenballten. Und plötzlich begriff er, dass seine Geliebte in Mitteleuropa gar nicht hinter diesem lachsrot schimmernden Perlmutthorizont auf ihn wartete, sondern unter ihm, auf der anderen Seite des Erdballes, den er auf der zehnstündigen Reise in einem konventionellen Linienjet zur Hälfte umrundet hatte. Auch damals war die intellektuelle Einsicht logisch und unanfechtbar. Aber dennoch war es ihm auch damals nicht möglich, wirklich zu begreifen, dass er auf der einen Seite einer Kugel saß und Cynthia auf der anderen, zwölftausend Kilometer tief unter seinen Füßen, die in der pazifischen Brandung plätscherten.

Aber das war es nicht, was er hatte denken wollen. Silesio riss sich vom starren Nachthimmel los und sah zu der Konsole hinüber, wo ein grünes Signal die Aufnahmebereitschaft des virtuellen Diktafons anzeigte. Er schritt einmal die Längsachse des schweigenden Cockpits ab, räusperte sich kurz und begann, mit klarer Stimme und pointierter Artikulation zu formulieren.

»Versuch über die Phänomenologie des Opak. Kapitel eins, Absatz eins. Begriffsbestimmung. Phainomenon heißt: das Sich-Zeigende. Das Wesen des Phänomens ist, dass es sich zeigt oder dass es erscheint; freier übersetzt lässt sich Phänomen als Erscheinung auffassen. Das Opak ist nach unserem vorläufigen Kenntnisstand ein Objekt, das keine Erscheinungsseite hat, das sich nicht zeigt. Es ist also ein Nichtphänomen. Ob es ein Antiphänomen ist, das heißt, ob es sich nicht nur nicht zeigt, sondern sich sogar verbirgt, hat die nähere Erforschung freizulegen.«

Silesio half Carlssen, den Deckel der Koje zu öffnen, und reichte ihm eine Tasse Kaffee. Der Commander setzte sich auf und vollführte einige Grimassen, um die maskenhafte Gesichtsmuskulatur zu kontrollieren. Oft genug hatten sich frisch geweckte Besatzungsmitglieder die heißen Getränke über den sensoriellen Schlafanzug gekippt, wenn wohlmeinende Kollegen sie mit einem dampfenden Plastikbecher begrüßten. Carlssen schlürfte vorsichtig an seinem Lieblingsgetränk und riss sich mit der freien Hand die Elektroden von Brust und Schläfen. Der Anzeige unterhalb des Gesichtsfeldes, das jetzt halb aufgeklappt war, entnahm er, dass er termingerecht geweckt worden und dass sein dreiwöchiger Schlaf ohne Zwischenfälle verlaufen war. Da er auch in Silesios Miene nichts las außer gelassener Routine und ironischer Sympathie, ließ er sich wortlos von ihm assistieren, als er sich in der Koje aufsetzte. Er machte ein paar gymnastische Bewegungen, zog den sensoriellen Anzug aus, den er in die Klappe des Wäscheschachtes warf, und entfernte sich dann zur Dusche. Eine halbe Stunde später erschien er auf der Brücke. Er sah die Protokolle durch. Der Flug verlief ungestört. Das Opak verfolgte mit gleichmütigen Ausfällen seine Bahn, die im 5-Tages-Durchschnitt fast eben war; der 20-Tages-Durchschnitt hätte ebenso gut die Kurve eines x-beliebigen Kometen sein können, der sich auf seinem schweiflosen Sturz aus der Oort’schen Wolke Richtung Sonne befindet. Die politische Entwicklung war gleichermaßen langweilig. Die anfänglichen Hysterien hatten sich gelegt, nachdem sich Woche um Woche nichts Neues ereignete.

»Die Menschheit ist zu kurzatmig, um sich über etwas länger als vierzehn Tage aufzuregen.« Silesio strich sich den weißgrauen Bart, den er während der Zeit seines Alleinseins nicht gestutzt zu haben schien. Auch sonst wirkte er zwar etwas verwahrlost, aber ausgeruht und erfrischt. Die müden Augen hatten den bubenhaften Glanz wieder, der für gewöhnlich nur sporadisch aufflackerte. Tatsächlich sah er aus, als hätte er eine Bergfreizeit absolviert und sich an der blauen Höhenluft ertüchtigt. Auch seinen Zynismus schien er gehörig aufgetankt zu haben. »Man kann nur hoffen, dass der Weltuntergang erst ein paar Tage im Voraus angekündigt werden wird. Wenn die Leute ein Jahr Zeit haben, sich auf das Jüngste Gericht vorzubereiten, haben sie es wieder vergessen, bis es da ist.«

Carlssen verkniff den Mund zu einer spöttischen Bemerkung, sagte aber nichts. Er spürte, dass sein Blick starr und seine Sprechorgane ungelenk waren. Er war wohl doch noch nicht richtig wach.

»Und unser Objekt?« Er ließ die Lagemeldungen der letzten zweiundzwanzig Tage über den Schirm rollen.

»Bleibt berechenbar unberechenbar. Man hat zwei Sonden dran vorbeigeschossen.« Silesio wartete, bis der Commander die entsprechenden Protokolle auf seinem Schirm hatte. »Aber sie haben nichts herausgefunden. Totale Fehlanzeige. Eine ist in weniger als hundert Kilometern vorbeigeflitzt, aber sie hat nichts feststellen können.«

»Das gibt’s doch gar nicht.« Carlssen beugte sich tiefer über seinen Monitor und verlangsamte den Datenstrom.

»Da muss irgendwas zu sehen sein. Wie groß ist es denn?«

»No comment! Die Position, die es nach den Berechnungen von Luna im Augenblick des Vorbeifluges hätte haben müssen – und die es laut nachträglichen Erfassungen auch tatsächlich gehabt hat –, war völlig leer. Interplanetarisches Vakuum. Ringsum unverstellter Sternenhintergrund.«

»Aber die geostationären Teleskope hatten es geortet.«

»Einige meldeten eine teilweise Verdeckung des entsprechenden Himmelsquadranten.«

»Einige?«

»Alle hatten es noch nie im gemeinsamen Fadenkreuz.«

»Also war es gleichzeitig da und nicht da.«

»Was nach unserer klassischen Logik nicht möglich ist. Zumindest nicht für Objekte, die wesentlich größer sind als Elementarteilchen.«

»Und Gestalt, Gravitation, Drehachse, Radarbild …«

»Nichts.«

 

»Wann sind wir da?«

»Zehn oder elf Tage. Wir haben eine neue Kursberechnung, nach der wir beim Jupiter-Swing-by deutlich abbremsen und auf eine parallele Flugbahn zu dem Opak einschwenken. Eine Woche nach unserem Einschwenken werden wir uns auf hunderttausend Kilometer genähert haben und auf gleicher Höhe bleiben.«

»Bei einer synchronen Geschwindigkeit von dreißig Kilometer pro Sekunde.«

Bis wir das Rendezvous mit Jupiter einleiteten, waren alle Besatzungsmitglieder geweckt. Theresa hatte vier Wochen geschlafen und brauchte eine Stunde, bis sie frisch geduscht im Cockpit erschien. Silesios dialektischen Sarkasmus, dass die Frauen deshalb länger im Bad brauchten, weil sie sich nicht rasieren mussten, überhörte sie. Gus und Groenewold, die über zwei Monate »ruhiggestellt« (Carlssen) gewesen waren, benötigten einen halben Tag, bis sie ihre Positionen auf der Brücke einnehmen konnten. Während Evchen sich erkundigte, wie sich das Opak verhalte, trug Gus demonstratives Desinteresse zur Schau und mäkelte am Dienstplan herum, der nur bis zum Eintreffen auf der Höhe des seltsamen Objektes reichte.

»Nicht einmal ein ungefähres Ablaufdiagramm. Darf ich fragen, wann wir mit dem Ding fertig sind und wo es anschließend hingeht?«

Er erhielt keine Antwort und kratzte mit beiden Fäusten auf seinem Monitor herum.

»Sowie wir diesen Scheißasteroiden abgeknipst haben, leg ich mich wieder in die Falle, dass das klar ist. Und soll keiner auf die Idee kommen, mich zu wecken, ehe wir beim Mutterschiff oder auf Luna III andocken.«

»Unser gegenwärtiger Marschbefehl lautet auf Kontaktaufnahme und Observierung des fraglichen Objekts. Weitere Einsatzpläne werden nach erfolgreichem Abschluss dieser Mission bekannt gegeben. Alle Korrekturdaten für den Vorbeiflug verabschiedet?«

Commander Carlssen sah nicht von seiner Konsole auf, die eine dreidimensional gekrümmte Flugbahn anzeigte, quer durch das Jupitersystem hindurch. Die Erste Offizierin bestätige den Abschluss der Berechnungen. Die Dorset umrundete unseren fünften Planeten in deutlich größerer Entfernung als Saturn, sodass der Swing-by wesentlich unspektakulärer ausfiel. Dennoch füllte der rote Gasriese den gesamten Steuerbordhorizont aus, als wir uns von seinem Gravitationsfeld einfangen und abbremsen ließen und unter seinen schaumigen Wirbeln hindurchtauchten. Die Turbulenzen des Roten Flecks quirlten vorüber, dann versanken wir in der glosenden Nacht des Jupiterschattens. Theresa ließ das Schiff seitlich wegknicken. Das schwarzrote Panorama krängte herum und kippte schief über uns hinweg, als wir aus der Ebene der Ekliptik abdrifteten und schräg nach unten in die Bahn des Opak einfädelten. Es dauerte eine Weile, bis sich die inneren Koordinaten umgestellt hatten und wir uns damit abfanden, dass Jupiter nicht mehr oben links, sondern hinten rechts stand und dass »oben« gleichzeitig »unten« geworden war.

Groenewold äußerte ein ungutes Gefühl über diesen Flug aus der Ekliptik hinaus; sie mutmaßte sogar, es handle sich um ein heimtückisches Manöver des Objektes, das uns aus dem Sonnensystem hinauslocken und uns die Möglichkeit entziehen wolle, durch Ansteuern eines Planeten energiearm zu navigieren. Der Commander nahm dazu nicht Stellung. Er hatte die Brücke sofort nach Abschluss des Swing-by-Manövers verlassen. Theresa übergab an die Automatik und tröstete die Zweite Offizierin.

»Die Bahn ist wesentlich sicherer als die herkömmlichen Routen, weil sie den Asteroidengürtel vermeidet und außerdem nur um drei Bogengrad gegen die Ekliptik verkippt, sodass wir spätestens nach dem Sonnendurchgang ohne Treibstoffverlust auf die Erdbahn einschwenken können. Vielleicht ist das Opak sogar ein recht intelligentes Objekt; zumindest benutzt es eine ökonomische und risikoarme Passage durch unser inneres System.«

»Ich warne davor, als Handlung aufzufassen, was bisher reines Geschehen ist und keinerlei Bewusstsein hat erkennen lassen.« Silesio hatte sich ebenfalls erhoben und seinen Sessel wegschwenken lassen. Er biss sich an einem Zigarillo fest und verschraubte die Arme hinter dem Rücken. »Das Ding, und selbst diese Bezeichnung ist wohlwollend, hat seit seiner Erfassung keine Bahnkorrekturen oder sonstige kybernetische Aktionen durchgeführt. Zumindest in der Großzügigkeit des statistischen Mittels verhält es sich wie ein ungesteuertes Teilchen, am ehesten vielleicht wie ein Elektron auf seinem Weg durch einen widerstandsarmen Leiter.«

»Aber wozu muss es seine Bahn ändern, wenn diese von Anfang an sinnvoll und intelligent eingerichtet war.«

»Es hat im Augenblick nicht mehr Intelligenz und Sinn verraten als ein Komet, der stumpfsinnig die Sonne umrundet und irgendwann verglüht.«

»Aber warum muss es seine Intelligenz verraten?«

»Es muss gar nichts.« Silesio sah Gus nach, der sich mit angeekeltem Gesichtsausdruck in Richtung Messe begeben hatte. »Es würde mir lediglich leichterfallen, es als Subjekt einer Handlung anzuerkennen, wenn es in irgendeiner Form Handlung im Sinne von zielgerichtetem Verhalten vollführen würde.«

»Du bist ein Thomas und Häretiker, guter Silesio. Warum wollt ihr immer noch, dass das Sinnhafte suspendiert wird, um sich euch als Sinnhaftigkeit zu offenbaren. Warum muss Gott, der die Naturgesetze geschaffen hat, die Naturgesetze aufheben und Wunder vollbringen, um euch von seiner Existenz zu überzeugen. Warum soll der Schöpfer seine Schöpfung durchkreuzen, um sich seinen Geschöpfen zu erkennen zu geben?«

Groenewold atmete tief durch und verknäuelte ihre Hände auf dem Armaturenbrett, dessen geschäftige Anzeigen zwischen ihren Fingern tickerten.

»Was ich sagen will: Wenn wir hier kurzatmig herumkreuzen, obwohl wir keine AE am Stück ohne Korrekturmanöver zustande bringen, so rechnen wir uns das als technische Meisterleistung an; warum soll eine überlege Entität nicht störungsfrei und ohne Hakenschlagen durch unser mickriges System kommen, indem es sich seine Bahn eben schon vorher zurechtgelegt hat?«

»Der Schöpfer muss seine Schöpfung nur aufheben und Wunder vollbringen, wenn er sich mir offenbaren will. Denn ich muss sehen, dass er über seine Schöpfung souverän ist.« Silesio war auf seiner Wanderung durch das Cockpit stehen geblieben und sah unverwandt die Sterne jenseits der Scheiben an, die in ihrem obsidianschwarzen Futteral aus leerem Raum nicht flimmerten. »Aber ich glaube nicht, dass wir das Opak in Kategorien von handelnd oder nichthandelnd, wollend oder nichtwollend erfassen können. Es ist nach all dem, was ich aus den Protokollen entnommen habe, während ihr bewusstlos auf dem Schlafdeck lagt, etwas radikal anderes, das unsere geistigen Ordnungsgefüge übersteigt.«

»Glaubst du, dass es uns derartig überlegen ist?« Evchen hatte einen frostigen Belag auf der Stimme.

»Aber nicht überlegen in einem technischen oder intellektuellen Sinn; einfach nur: anders.«

Die folgende Woche verging in gereizter Langeweile und überdrüssiger Routine. Die Crew stand in beständigem Funkverkehr mit den Beobachtungsstationen auf Luna, die uns die aktuelle »Position« – wenn man es so hätte nennen können – des Opak übermittelten. Die Bugscanner und das Vorwarnradar tasteten den Raum ab und durchleuchteten die von der Onlineautomatik permanent aktualisierten Quadranten, aber sämtliche Ergebnisse blieben negativ.

Langsam und geradezu quälend schob die Dorset sich, ferngesteuert von der Basis auf Luna, an das Objekt heran, das in seinem Oszillieren nach wie vor riesige Sprünge und Verschiebungen von hunderttausenden von Kilometern aufwies. Carlssen und Theresa lösten sich alle sechs Stunden auf der Brücke ab, obwohl es wenig zu tun gab, da die Dorset vom Autopiloten beharrlich an die virtuelle Durchschnittsbahn des Opak, die man dazu aus einem Sieben-Tage-Mittel errechnete, herangeführt wurde. Groenewold überwachte die Datenströme, die mit den externen Stationen ausgetauscht wurden, während Gus sämtliche Frühwarngeräte und vor allem das DeepField-Radar endlosen Prozeduren und Selbsttests unterzog, um instrumentenverschuldete Fehler so gut wie möglich ausschließen zu können. Dennoch blieben unsere Schirme leer und nicht nur Groenewold verfiel allmählich in Ratlosigkeit.

Am achten Tag nach dem Jupiter-Swing-by hatten sie sich auf hunderttausend Kilometer genähert. Commander Carlssen übernahm das Schiff in manueller Steuerung und löste Alarmstufe 1 aus. Alle Schotten blieben geschlossen, sämtliche Besatzungsmitglieder mussten auch außerhalb der Dienstzeiten in Bereitschaft bleiben. Die diensthabende Crew durfte die Brücke nicht verlassen. Gus protestierte halbherzig gegen das Alkoholverbot, weil er gewohnt war, sich nach seiner Zwölfstundenschicht mit ein paar Bierchen in seine Kabine zurückzuziehen. Für den Beginn der ersten Schicht, die Carlssen am nächsten Tag übernehmen würde, war das Rendezvous angesetzt.

»Was ist, wenn es einen seiner unkontrollierten Sprünge vollführt und uns dabei anrempelt?«

»Die durchschnittliche Oszillation liegt bei unter zehntausend Kilometern; bei einem Abstand von hunderttausend haben wir ein Kollisionsrisiko von weniger als einem halben Prozent, das ich vertreten zu können glaube. Außerdem handelt es sich um kein körperliches Objekt, das uns irgendwie ›berühren‹ könnte.«

Evchen sah nicht beruhigt aus.

»Selbstverständlich habe ich die Abschirmung aktiviert. Das Schiff bleibt auf gefechtsmäßiger Alarmstufe.«

Die Dorset bewegte sich synchron mit dem Opak, das an einem bestimmten Punkt auf neunzig Grad – drei Uhr, nannten das die Offiziere – fixiert war und das inzwischen mit dem bloßen Auge zu sehen hätte sein müssen, wenn es sich um einen Asteroiden gehandelt hätte. Da unsere Schirme, auch die der empfindlichsten Geräte, die selbst ein Staubkorn in dem bewussten Quadranten erkannt hätten, leer blieben, breitete sich eine gewisse Ratlosigkeit aus. Gus behauptete, wir wären dem aufwendigsten Aprilscherz in der Geschichte der interplanetarischen Raumfahrt aufgesessen. Commander Carlssen besprach sich mit Groenewold, die als Kopilotin seinen Schichten zugeordnet war. Die Daten, die Luna überspielte, besagten, dass das Objekt sich auf ihrer Höhe in einem durchschnittlichen Abstand von 97 500 Kilometern befand. Es waren dazu über zwanzig terrestrische und geostationäre Teleskope der verschiedensten Wellenbereiche zusammengeschaltet, wobei nur Messungen bearbeitet wurden, die von mindestens drei unabhängigen Beobachtungen bestätigt wurden. Schließlich rief Carlssen den Bordingenieur auf die Brücke und unterrichtete sich über die Funktionsweise der Instrumente. Das Opak wurde mit Breitbandscannern gesucht, die mehrere tausend Kubikkilometer Raumes durchleuchteten. Der Commander trug Gus auf, die Detektoren zu fokussieren und gezielt ein punktförmiges Datum, das er aus dem aktuellen Fünf-Tage-Durchschnitt errechnete, anzuvisieren. Es dauerte eine Stunde, bis Gus die Sensoren neu programmiert hatte. Theresa, deren Nachmittagsschicht gleich beginnen würde, meldete sich auf der Brücke, als Carlssen wieder an der Konsole Platz nahm, um assistiert von Groenewold die neuen Einstellungen zu testen. In diesem Augenblick flammten mehrere Anzeigen auf den Monitoren auf und die Automatik schrillte los. Gus kam aus dem Instrumentenraum auf die Brücke gestürzt. Ein Hintergrundstern auf 88° 15$'$ war für eine Millisekunde verdeckt worden!

Carlssen übergab das Kommando an Theresa, während Groenewold von Silesio abgelöst wurde. Dennoch blieb die gesamte Besatzung der Dorset, einschließlich Gus, auf der Brücke. Die hochauflösenden Scanner wurden nachgeführt und entsprechend den ermittelten Daten korrigiert. Sowie die entsprechende Position am Backbordhorizont noch schärfer beobachtet wurde, ergaben sich etliche Abdeckungen, aus denen sich das Vorhandensein und die Bewegung eines nicht leuchtenden Objektes ableiten ließen.

»Wir haben es.« Carlssens Stimme war ohne Triumph. Er hatte seinen Sessel herumgeschwenkt und sah über Silesios Schulter auf dessen Monitor. Der Chefprogrammierer hatte ein fluktuierendes Diagramm erstellt, das die Beobachtungsdaten, die von Luna III hereinkamen, mit den eigenen Messungen der Dorset synchronisierte. Es verstrich eine Viertelstunde, in der mehrmals das Hupen der Automatik ertönte, das eine weitere Sternabdeckung verkündete, bis die von der Erde einlaufenden Übertragungen aktualisiert waren und mit den Feststellungen vor Ort abgeglichen werden konnten. Es gelang jedoch nicht, die beiden Positionen in Einklang zu bringen.

»Es ist da und ist doch nicht da.« Theresa kniff unwillkürlich die Augen zusammen und starrte zum Backbordfenster hinaus, obwohl dort natürlich nichts zu erkennen war.

»Es ist jeweils an einem anderen Ort, je nachdem, von wem und von wo aus es beobachtet wird.« Silesio tippte auf seinem Sensorfeld herum. Eine dreidimensionale Grafik zeigte zwei Linien, eine gerade verlaufende und eine heftig undulierende.

 

»Wir müssen eine Fallunterscheidung vornehmen: Es gibt ein Alpha-Opak, das von den Computern auf Luna ermittelt wird, und zudem ein Beta-Opak, das von der Dorset aus erfasst werden kann. Dass es sich um zwei verschiedene Objekte handelt, kann meiner Auffassung nach dadurch ausgeschlossen werden, dass es keine Überschneidungen zwischen den beiden Varianten gibt. Wir haben keine Schnittmenge von Alpha- und Beta-Opak. Erst wenn wir eine mehrtägige Beobachtungszeit für das zweite, das Dorset-Opak, zur Verfügung haben, können wir sagen, ob eine statistische Identität oder zumindest Varianz vorliegt. Im Augenblick haben wir es mit zwei virtuellen Objekten zu tun, von denen nur eines, das Beta-Opak, für uns von signifikanter Relevanz ist.«

»Das wir aber auch nur ex negativo …«

»Aber da ist überhaupt nichts!«

Gus schien es nichts auszumachen, dass er seinem Commander das Wort abgeschnitten hatte. Er war aufgestanden und tigerte aufgebracht im Cockpit hin und her.

»Ich habe keine positiven Daten dafür, dass sich an der Position, über die wir hier reden, irgendetwas befindet. Ich habe kein Radarecho und selbst in den stärksten Scannern keine Erfassung. Alles, was mindestens zehn Atomdurchmesser groß ist – und wenn es Sterne der Lichtstärke II überdeckt, muss es deutlich größer sein –, muss auf meinem Schirm erscheinen. Aber da ist nichts!«

Commander Carlssen verschwand im Stabszimmer und hielt eine Konferenz mit den schichthabenden Offizieren auf Luna ab, die sich wegen der Zeitverzögerung über mehr als zwei Stunden hinzog. Die Nachricht von der vermeintlichen Entdeckung und Fixierung des Objektes durch die Dorset war von zivilen Stellen auf der Erde aufgefangen und dechiffriert worden und hatte in kürzester Zeit für weltweite Aufmerksamkeit gesorgt. Die Panik flammte neu auf, zumal das rätselhafte Opak sich auf befremdliche Weise der Erde zu nähern schien. Die Gesprächspartner, die alle Viertelstunde wieder auf Carlssens Monitor erschienen, wirkten nervös und gestresst; ihre Überlegungen schienen von hektischen Aktivitäten im Hintergrund, mit heißer Nadel gestrickten Presseerklärungen, wie Carlssen vermutete, bestimmt.

Mit einem Anflug maskenhafter Entschlossenheit betrat der Commander die Brücke.

»Wir gehen dichter ran.« Er sah auf die Uhr. Theresas Schicht dauerte noch knapp drei Stunden.

»Kommandierende Offizierin, sind Sie bereit für ein manuelles Manöver von Priorität Rot?«

»Haben die das gesagt, dass wir dem Dings noch näher auf die Pelle rücken sollen?« Evchen sah von ihrem Schwenksessel auf, den sie neben den von Gus gefahren hatte. »Ich komme mir allmählich vor wie bei ’nem Himmelfahrtskommando.«

»Ich kann frei entscheiden.« Carlssen hatte die Augen fest in die Miene seines Bordingenieurs gebohrt.

»Man ist auf Luna an rascher Präzisierung unserer Daten interessiert und hat mir nahegelegt, alles zu tun, was zu einer baldigen Klärung der Situation beitragen kann.«

»Warum jagen wir nicht erst ein paar Sonden rüber?« Gus war durch den harschen Ton, dem gar keine Äußerung seinerseits vorausgegangen war, provoziert. »Das Drohnendeck liegt voller ausgebufftem Spielzeug. Und solange ich Roboter da rüberschicken kann, brauche ich doch nicht selber den Arsch riskieren.«

»Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so feige bist!« Theresa lächelte vom Hauptbedienplatz aus zwischen Groenewold und Gus hin und her. Dann wandte sie sich an Carlssen und erklärte sich bereit, die erforderlichen Manöver durchzuführen.

Wir hatten noch leicht gedreht und einige kleinere Kurskorrekturen vorgenommen, bis das Opak beziehungsweise seine Beta-Variante, wie Silesio es nannte, auf einer exakten Dreiuhrposition lag. Dann zündete Theresa für zwanzig Sekunden die Steuerbordraketen, sodass die Dorset bei Kleiner Fahrt direkten Kurs auf das unsichtbare Objekt nahm. Kilometer um Kilometer schoben wir uns heran. Die Warnsignale der Automatik waren deaktiviert worden; in regelmäßigen Abständen leuchteten aber die optischen Anzeigen auf, die neuerliche Sternverdeckungen mitteilten. Das Opak schien sich auf einer beschleunigungslosen linearen Bahn zu befinden, die völlig einer berechenbaren ballistischen Kurve glich. Es näherte sich mit etwa 100 000 km/h dem Asteroidengürtel, unter dem es in gemessenem Abstand hindurchgleiten würde. Carlssen und Groenewold übernahmen das Kommando für die Abendschicht und führten die Annäherung weiter.

»Träumst du von deiner Kleinen?« Theresa betrat die Messe und ließ sich einen Kaffee aus dem Küchenmodul geben. In wenigen Minuten würde ihre zweite Schichte beginnen.

»Wen meinst du?« Gus sah ausdruckslos vor sich hin. Seine Hände spielten mit einem Werkzeug.

»Groenewold.«

»Ach die.«

»Erzähl mir nicht, dass du sie nicht magst.«

»Sie ist ziemlich – anstrengend. Außerdem steh ich nicht auf Kindfrauen.«

»Aber du schläfst mit ihr.«

»So gewaltig ist das Überangebot an Frauen nicht, auf diesem gottverdammten Explorer.«

»Sie ist nicht dein Typ?«

»Wir machen meistens das Licht aus.«

»Und wen stellst du dir dann vor?«

»Was soll das?!«

»Nur so.« Theresa ließ sich in einen Sessel sinken und fuhr die Lehne bis zum Anschlag zurück. Sie schloss die Augen.

»Nun, wenn du es wissen willst: Jemand wie du wäre schon eher nach meinem Geschmack.«

»Oh, darf ich das unter Komplimente buchen?«

»Von mir aus. Aber du vö… Du bist mit dem Commander zusammen, nicht? Das ist freilich ein anderes Kaliber. Offizier und so.«

»Und du meinst, das würde die Wahl einer Frau beeinflussen?«

»Zumindest scheint es nichts zu schaden.«

»Du bist so naiv.«

»Oh danke, manchmal wünsche ich, ich wäre sogar richtig dumm.«

»Es lebt sich leichter, vermutlich. Was der Commander dir voraushat, Gus, ist seine Neugier. Er bekleidet einen militärischen Rang, aber er ist wissenschaftlicher Offizier. Und er will wissen, was das da draußen ist. Wie ich auch. Dir ist es …«

»Scheißegal. Genau. Ich mache hier meinen Job, so gut es geht. Und glaub nicht, dass ich da nicht auch meinen Stolz und meinen Ehrgeiz habe. Der Teufel soll mich holen, wenn eine Maschine auf diesem Hurenschiff nicht fehlerfrei funktioniert. Aber alles Weitere, euer bescheuertes Objekt und erst recht der Alte mit seiner Metaphysik, kann mir gestohlen bleiben.«

»Es interessiert dich tatsächlich nicht, nicht wahr? Du liegst nachts nicht wach und fragst dich, was es sein und woher es stammen könnte.«

»Ich frage mich, wann wir hier wegkommen.«

»Du bist langweilig.«

»Und du bist unausstehlich, obwohl du ’ne geile Figur hast.«

»Das war’s dann wohl. Gute Nacht.«

»Wie dicht sind wir dran?« Theresa kam auf die Brücke, um die Nachtschicht anzutreten.

»Schwer zu sagen. Wenn wir die Bahn des Alpha-Phänomens zugrunde legen, sind wir jetzt auf etwa 10 000 km Distanz. Unser Beta-Objekt, von dem wir noch zu wenig Daten haben, um sie zu einer kohärenten Flugbahn zusammenzufügen – bis jetzt haben wir 32 punktuelle Einzelereignisse –, lässt sich nicht exakt genug bestimmen. Von unserer Position aus können wir keine Triangulation vornehmen, und solange wir kein Radarecho und keinen optischen Kontakt haben, ist der dritte räumliche Vektor reine Spekulation. Immerhin steht es auf drei Uhr wie festgenagelt. Ich schlage vor, du orientierst dich vorläufig weiter an Objekt Alpha und gehst bis zum Frühstück auf 1000 km.«