Explorer ENTHYMESIS

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»Fand ich übrigens sehr – verwegen, dass wir den Sonderurlaub sofort genommen haben. Normalerweise wartet man, bis die Expedition abgeschlossen ist. Nicht, dass ich was dagegen hätte ...«

»Normalerweise schickt man auch keine Ionen-Raketen in strahlungsreiche Gebiete. Rogers konnte gar nicht ablehnen, als ich eingereicht habe. Sind auch nur lumpige fünf Tage ...«

»Bis jetzt fand ich’s ganz angenehm.«

»Allerdings«, fügte ich der Vollständigkeit halber noch hinzu. Ich ließ die Hand über ihr rechtes Bein gleiten, das lang ausgestreckt über meiner Brust lag. Sie hob das Knie leicht an, und ich küsste ihren schmalen, fleckenlosen Spann. Dann beugte ich mich herum und versenkte die durstigen Lippen zwischen ihren geöffneten Schenkeln.

Amygdala – Der Spiegelnebel

Ich bin kein Mörder, und ich fühle mich auch nicht als solcher. Ich wüsste nicht, weshalb ich das tun sollte. Vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung wurde ich freigesprochen. Vorsatz, hieß es in der Urteilsbegründung, impliziere Handlungsfreiheit und damit auch die Möglichkeit der Unterlassung der Tat, was hier nicht gegeben gewesen sei. Somit könne keine Schuld vorliegen. Ich hatte mich unmittelbar nach dem Vorfall der Militärgerichtsbarkeit der MARQUIS DE LAPLACE übergeben und selbst meine einstweilige Suspendierung von allen meinen Aufgaben veranlasst. Während der Verhandlung, die glücklicherweise zügig und sehr sachlich durchgeführt wurde, habe ich alles in meiner Macht Stehende dazu beigetragen, den Vorfall aufzuklären, wie ich auch – was mir im Rahmen der Urteilsfindung zugute kam – glaubhaft machen konnte, dass ich bereits im Vorfeld der Tat – oder besser: des Geschehens – alle menschenmöglichen Anstrengungen zu seiner Verhinderung unternommen hatte. Ich verließ den Gerichtssaal unseres Flaggschiffes als freier und unbescholtener Mann. Was bleibt, ist eine Kuriosität in den Annalen der MARQUIS DE LAPLACE, eine kosmische Aberration, die den Tüftlern von der Wissenschaftlichen Abteilung noch eine Weile zu knobeln geben wird, und ein Toter.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, erklärte Jennifer. Wie immer in Situationen, mit denen sie »ganz und gar nicht« einverstanden war, sprach sie sehr deutlich und bestimmt, als gebe sie ihren Protest zu Protokoll. Natürlich wurde jedes Wort aufgezeichnet, das im Cockpit gesprochen wurde. Der Automatik würde es später einmal – im Falle des Falles, dass es zu Beanstandungen kommen sollte – ein Leichtes sein, ihre metallische Stimme aus den hunderte von Stunden umfassenden Aufzeichnungen des VoiceRecorders herauszufiltern.

»Ich finde, es sieht phantastisch aus«, sagte ich und wandte mich jovial zur restlichen Besatzung um. »Was meint ihr?«

Craig zuckte nur die Schultern. Etwas anderes war von ihm auch nicht zu erwarten gewesen. Er war viel zu abgebrüht, um eine Beunruhigung zu erkennen zu geben, und viel zu cool, um sich so etwas wie ein ästhetisches Empfinden angesichts eines kosmischen Phänomens zu gestatten.

Jill hatte nur kurz von ihrer Konsole aufgesehen, aber die übertriebene Konzentration, mit der sie sich ihren Anzeigen widmete, machte deutlich, dass auch ihr das Ganze nicht recht geheuer war.

Reynolds schließlich bemühte sich, meinem Blick standzuhalten. Die Art, wie er versuchte, eine nichtssagende Miene auf sein Gesicht zu bringen, das ohnehin meistens vollkommen ausdruckslos war, hätte amüsant sein können. Aber seit der Affäre mit Jennifer, von der ich immer noch nicht genau wusste, wie lange sie gedauert hatte und wie weit sie gegangen war, fiel mir sein fest installiertes Pokerface nur noch auf die Nerven. Ich hatte keinen Wert darauf gelegt, ihn als Wissenschaftlichen Offizier bei dieser obskuren Mission dabei zu haben, aber Rogers hatte ihn mir für dieses Kommando auf's Auge gedrückt, vermutlich weil er um unser gespanntes Verhältnis wusste und mich ein bisschen ärgern wollte.

Ich seufzte und zuckte innerlich mit den Schultern. Das war nun also die Mannschaft, mit der ich diesem Ding da draußen zu Leibe rücken sollte. Ich drehte meinen Chefsessel wieder in die vorgesehene Position und starrte durch die Frontscheibe in den Raum hinaus.

Vor uns, einige dutzend Millionen Seemeilen entfernt, lag der Spiegelnebel, orangefarben und spiegelsymmetrisch, wie ein aufgeplusterter Schmetterling. Die riesigen Gaswolken verloren sich in indigoblauen und violetten Farbbögen aus feinstem Wasserstoffplasma, die die Ausmaße eines Sonnensystems hatten. In der Mitte dieser gewaltigen Eruption von Wasserstoff und harter Röntgenstrahlung hockte, wie eine Spinne in ihrem grellbunten Netz, das Schwarze Loch, das diese lodernde Ekstase der Materie verursachte und das die mythologisch versierten Spaßvögel der Planetarischen Abteilung auf den Namen Amygdala getauft hatten. Der Marschbefehl, den ihr Leiter Dr. Rogers mir an diesem Morgen persönlich übergeben und erläutert hatte, war gewohnt vage. Hinter wissenschaftlichem Schwulst, den kein Offizier der fliegenden Mannschaft je hätte entschlüsseln können, verbarg sich die versammelte Ratlosigkeit der wissenschaftlichen Crew der MARQUIS DE LAPLACE. Für uns war es ein Einsatzbefehl ohne klar umrissene Aufgabe, ohne Ziel, ein Freibrief. Oder, wie es der Alte zum Abschied formuliert hatte: »Seht es euch einfach ein bisschen aus der Nähe an. Irgendwas habt ihr doch noch jedesmal gefunden.«

»Okay, Lambert«, sagte ich in die Stille hinein. »Dann bringen Sie uns mal ein wenig näher ran. Halten Sie zum Zentrum immer und unter allen Umständen einen Mindestabstand von fünfzehn Million Kilometern. Natürlich wissen wir wie immer nichts Genaues, aber mit ziemlicher Sicherheit hält sich dort ein Neutronenstern versteckt. Ich würde sagen, wir fliegen einfach in das rechte Pfauenauge.«

Die spiegelsymmetrischen, aus dem glutenden Kern ausstrahlenden Schwingen durchliefen die gesamte Palette vorstellbarer Farben. Aus dem Zentrum, dessen Energie-ausbrüche im Röntgen- und Gamma-Bereich angesiedelt und daher unsichtbar waren, liefen vergleichsweise schmale Plasmaschläuche auseinander, die in intensivem Zinnoberrot leuchteten. Sie verloren, indem sie sich zu breiten, flächigen Flügeln auffächerten, an Grelle und bildeten gewaltige malchitgrüne Bögen. Diese umschlossen – auf beiden Seiten vollkommen identisch – große schwarze, annähernd kreisförmige Flächen, die völlig farb- und strukturlos waren. Sie konnten aber nicht aus leerem Raum bestehen, da sie den Sternenhintergrund verdeckten. Allein in dieser Zone totaler Opazität hätte die Erde samt Mondbahn mehrfach Platz gefunden. Weiter nach außen verloren sich die parabelförmig in sich zurückgekrümmten Protuberanzen in sattem Ultramarinblau und schließlich in ultravioletter Strahlung jenseits des sichtbaren Spektrums. Dort ging die Konzentration an Materie und Energie allmählich in die Leere des interstellaren Vakuums über. Da die hellroten Innenflächen der Schwingen mir andererseits zu dicht am gefährlichen Zentrum lagen, hatte ich beschlossen, die lichtlosen Bereiche im Inneren der unstofflichen Flügel anzusteuern und zu untersuchen.

Jill Lambert gab Kleine Fahrt auf dem Photonentriebwerk. Die ENTHYMESIS pirschte sich mit einigen zehntausend Stundenkilometern an die beängstigend schöne Erscheinung heran. Anders als der Langeweiler Reynolds befand sich Lambert auf meinen ausdrücklichen Wunsch an Bord des Explorers. Zwar ging mir manchmal ihr übertrieben ängstliches Getue auf den Wecker. Aber ich schätzte sie als verläßliche Pilotin. Deshalb hatte ich das Kommando zunächst auch ihr, der Zweiten Offizierin, gegeben, während Jennifer, die ihr dem Dienstgrad nach vorgeordnet war, ihre Manöver kontrollierte und die Funktionen des Schiffes überwachte. Nicht zuletzt hatte ich Lambert angefordert, weil sie beruhigend auf Craig einwirkte, den Technischen Ingenieur, der mir manchmal etwas zu forsch vorging. Ob sie eine Liaison mit ihm unterhielt, musste der Spekulation überlassen bleiben. Bedauerlicherweise weigerten sich beide, dem Tratsch in dem an Neuigkeiten armen Dorf, das die MARQUIS DE LAPLACE war, konkrete Nahrung zu geben. Umso mehr schossen die Gerüchte ins Kraut.

Jill drückte die ENTHYMESIS ein paar Bogengrade nach steuerbord und nahm Kurs auf den Blinden Fleck im Inneren der rechten Schmetterlingsschwinge. Sie beschleunigte ein wenig auf einhunderttausend Stundenkilometer, dennoch würde es noch etliche Stunden dauern, bis wir uns dem monströsen Objekt nennenswert angenähert haben würden. Jennifer assistierte ihr bei sämtlichen Manövern, während Reynolds von seiner Konsole aus, die sich rückwärtig an der Seitenwand des Cockpits befand, die Instrumente des Explorers überwachte, besonders natürlich die Röntgenscanner, das Deepfield-Radar und die Vorfeldabtastung.

Wir setzten eine Drohne aus. Der »Bombenschacht«, wie das Unterdeck bei den Offizieren der fliegenden Crew hieß, gab einen Automaten frei, den wir auf einer blauen Stichflamme davonreiten sahen. Er positionierte sich selbsttätig auf der Zentralachse des Spiegelnebels. So würden wir uns die externe Idealansicht Amygdalas auf den Schirm holen können, auch wenn wir selbst in ihrem Innern operierten.

Ich ging für eine Stunde auf meine Kabine und widmete mich dem grauenhaften Funktionärsjargon unseres Marschbefehls. Als ich daraus auch nicht schlauer geworden war, kehrte ich auf die Brücke zurück.

Ich ging durch die Messe, wo ich mir noch einen Kaffee aus dem Automaten ließ, und bog dann mit forschem Schritt ins Cockpit ein.

»Findet ihr nicht?«, fragte Lambert gerade.

Der Spiegelnebel war unwesentlich nähergekommen. Unsere Position hatte sich geringfügig nach halbrechts verschoben. Im Prinzip war der Anblick aber unverändert.

»Das rechte und das linke Auge des Orkans«, brummte Craig und schüttelte den Kopf.

»Seht doch mal hin«, sagte Jill. Und wie immer, wenn sie sich über irgendetwas aufregte, wurde ihre Stimme penetrant und quietschend.

 

»Lambert meint«, erklärte Jennifer, »dass es uns anstarrt.«

Ich nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis.

»Finden Sie nicht, Sir?«, plapperte meine Zweite Pilotin. »Wie eine Fratze, die uns gierig anglotzt. Wie eine Papageienmaske.«

»Ja, und wir spucken ihr gleich ins Auge«, war Craig zu vernehmen.

»Diese schwarze konturlose Pupille«, winselte sie. »Ich habe gar kein gutes Gefühl.« Und indem sie sich halb umwandte und zu mir aufsah, fügte sie noch hinzu. »Glauben Sie wirklich, Sir, dass wir dort hineinfliegen sollten?«

Bei strenger Auslegung hätte ich das als Untergrabung meiner Autorität interpretieren und ihr einen Verweis erteilen können. Ich begnügte mich damit, dass ich ihr befahl, auf Kurs zu bleiben.

»Und gehen Sie auf Große Fahrt«, kommandierte ich grob. »Wir nehmen das Ding unter die Lupe.«

Sie hatte wie in einem Schutzreflex den Kopf mit dem kurzen blonden Haar, das immer irgendwie durcheinander und verschwitzt aussah, zwischen die Schultern gezogen. Immerhin wagte sie es nicht, mir weiterhin zu widersprechen. Ich nahm vorsichtshalber Platz. Von meinem erhöhten Chefsessel aus tauschte ich einen Blick mit Jennifer. Dann deutete ich mit der Stirn nach vorne und wies sie damit an, meinem Befehl Folge zu leisten. Die beiden Pilotinnen sprachen sich kurz ab. Ein leises weibliches Flüstern. Ich spürte, wie der Beschleunigungsdruck mich für einige Sekunden in die Lehne preßte. Die ENTHYMESIS beschleunigte auf ihre Maximalgeschwindigkeit. Optisch, beim Blick durch die Frontscheibe, war kaum etwas wahrzunehmen. Außer leichten Vibrationen, als die Photonentriebwerke das Schiff erschütterten, konnten wir nicht sehen, dass unsere Annäherung jetzt mehr als fünfmal so schnell wie zuvor erfolgte. Der Druck gegen die Sessellehne ließ nach. Die Brennkammern erloschen. Die Vibrationen verstummten. Ruhig und scheinbar bewegungslos lag der Explorer im Raum. Über seine heruntergezogene Schnauze hinweg sahen wir die ausgebreiteten Schwingen Amygdalas.

Ich wollte mich gerade erheben, um zu meinen Unterlagen zurückzukehren, als ein Ruf von Reynolds mich in den Sitz zurückwarf.

»Seht doch«, sagte er.

Wir begriffen nicht gleich, was er meinte.

»Commander«, wandte er sich an mich. »Das empfehle ich unbedingt Ihrer Aufmerksamkeit.«

Ich hasste es, wenn er in solchen Situationen meinte, ganz besonders offiziell und langweilig werden zu müssen. Das ging mir fast noch mehr gegen den Strich als Lamberts grundlose Hysterien.

»Was ...«, fragte ich mit betontem Desinteresse, aber da sah ich es selbst schon. In der Nähe von Amygdalas Zentrum ereignete sich ein Materieausbruch.

»Ei-ne Pro-tu-be-ranz«, stellte Reynolds fest, und es kam mir so vor, als spreche er in Zeitlupe.

Nachdem er einige Sekunden lang starr zur Frontscheibe hinausgeblickt hatte, klappte er plötzlich zusammen und beugte sich über seine Konsole, auf der er in staunenswerter Geschwindigkeit herumzutippen begann.

Dicht neben der Spiegelachse des Nebels stieg ein Plasmastrahl auf, ein zitronengelb glühender Finger von einigen tausend Kilometern Durchmesser.

»Commander, Sir ...?«, hörte ich Lambert mit fragendem Unterton.

»Auf Kurs bleiben«, sagte ich rasch. »Wir sind weit genug entfernt.«

Streng genommen war es nicht eine Protuberanz, sondern deren zwei, die dicht nebeneinander aufwuchsen, als fahre der Schmetterling zwei Fühler aus.

»Reynolds«, rief ich ungeduldig, »ich erwarte Ihre Meldung.«

Ich hatte das wohl schärfer als angemessen hervorgebellt, was mir einen kritischen Blick Jennifers eintrug.

»Einen Augenblick noch, Sir«, nuschelte mein Wissenschaftlicher Offizier mit zähfließender Stimme.

Die Doppeleruption musste bereits mehrere hunderttausend Kilometer hoch aufgestiegen sein. Die Energien, die diese Materiemassen herausschleuderten, waren beeindruckend. Jetzt bogen die beiden parallelen Fontänen auseinander. In der Bewegung war die Exaktheit der Spiegel-symmetrie verblüffend. Sie gab dem Vorgang etwas Künstliches. Unwillkürlich fragte ich mich, ob das tatsächlich zwei für sich im Raum existierende Massenkonzentrationen waren, oder ob nicht eine optische Täuschung vorlag, die auf irgendeine Art und Weise ein einmaliges Geschehen scheinbar verdoppelte. Bilder von Sonnenprotuberanzen fielen mir ein, die ich als Jugendlicher mit einem selbstgebauten Spiegelteleskop beobachtet hatte. Was anfangs wie Lavafontänen bei Vulkanausbrüchen wirkte, bekam bei genauerem Hinsehen einen sonderbar elektrischen Charakter.

»Reynolds«, wiederholte ich.

»Extreme magnetische Fluktuationen«, stieß er jetzt endlich hervor. »Starke, rasch wandernde Felder. Das erklärt auch die verblüffenden Symmetrien. Die Ausbrüche zeichnen die Feldlinien nach. Sie werden vermutlich nierenförmig zurückstürzen.« Er sah von seinen Anzeigen auf und musterte mich. Sein Gesicht gerann zu einer Maske besserwisserischer Arroganz.

»Das wäre«, näselte er, »eine erste Hypothese für die Entstehung dieses Objektes. Das Schwarze Loch im Zentrum stößt parallel zu seinem Jet große Plasmamengen aus, die durch die elektromagnetische Feldwirkung zu deformierten Halbkreisen zurückgekrümmt werden. Ein Großteil der Materie stürzt ins Zentrum zurück. Der Rest wandert langsam weiter nach außen, sich wie Rauchringe allmählich ausbreitend.«

»Schön«, sagte ich. »Ist das für uns gefährlich?«

»Ich glaube nicht«, antwortete er. »Entlang des Jets auf der Hauptachse sind erhöhte Aktivitäten von Alphateilchen und Neutrinos zu registrieren. Hier draußen ist alles unverändert.«

»Gut«, machte ich. »Geben Sie ihre Ergebnisse ans Mutterschiff durch. Sollen sich die Kollegen von der Planetarischen damit rumschlagen.«

Er nickte und tippte vor sich hin.

»Und, Reynolds«, fragte ich noch. »Unsere Pfauenaugen, wie erklären Sie sich die?«

Über seine generelle Langsamkeit hinaus war ihm keine Verunsicherung durch diese Frage anzumerken.

»Die Rauchringe«, erläuterte er, »um in diesem Bild zu bleiben. Sie wandern durch die magnetische Drift nach außen und vergrößern sich dabei. In ihrem Innern entsteht natürlich eine freie Fläche, die sich ebenfalls ...«

»Natürlich«, unterbrach ich ihn. »Aber wenn es bloße Freiflächen sind, warum können wir dann nicht durch sie hindurch sehen und den Sternenhintergrund anpeilen?«

Ohne ihm noch eine Gelegenheit zu geben, seiner Ratlosigkeit Ausdruck zu verleihen, stand ich auf und rauschte davon. Ich zog mich auf meine Kabine zurück und loggte mich in die Wissenschaftliche Bibliothek ein. Mehrere Stunden sah ich die Artikel zu Protuberanzen, Plasmawolken, Gasnebeln und Schwarzen Löchern durch. Irgendwann klopfte es. Es war Jennifer.

»Ich habe die Brücke an Jill und Craig übergeben«, verkündete sie anstelle einer Begrüßung, »in zwei Stunden löse ich sie wieder ab.«

»Die Gepflogenheiten des Schichtdienstes sind mir vertraut.«

»Du bist so gereizt«, sagte sie. »So unbeherrscht.« Sie setzte sich neben mich und berührte mich sanft an der Wange.

»Willst du meine Rasur prüfen?«, stieß ich hervor.

Sie zog ihre Hand wieder zurück.

»Wie du mit Reynolds umgegangen bist«, meinte sie. »So kann man mit einem Wissenschaftlichen Offizier nicht umspringen.«

»Ja ja ja ja ja«, machte ich. »Schon gut. Der arme Reynolds.«

»Jill zuckt jedesmal zusammen, wenn du nur einen Ton sagst.«

»Lenk nicht ab«, sagte ich. »Er geht mir auf die Nerven, das gebe ich zu. Und daran bist du nicht ganz unschuldig.«

»Aha«, tönte sie. »Immer noch aus dieser Ecke!«

Ich sah zu, wie sie tief Luft holte und wie ihre Augen einen gefährlichen Glanz annahmen.

»Ich brauche mir von dir keine Vorhaltungen machen zu lassen«, zischte sie. Das Pronomen bohrte sie mir mit spitzem Finger mitten in die Brust. »Da war nichts, was deiner Affäre mit dieser Pilotenanwärterin, deren Namen ich glücklicherweise vergessen habe, gleichgekommen wäre. Nicht einmal annähernd.«

»Erstens war nichts«, stellte ich fest. »Und zweitens ist es schon lange vorbei. Du musst dich schon entscheiden.«

Sie atmete schwer durch. Genauso schnell, wie sie sich aufregte, konnte sie sich auch wieder beruhigen. Das war mir nur recht, denn ich hatte wirklich andere Sachen im Kopf als eine Szene.

»Nicht immer wieder die alten Geschichten«, sagte sie versöhnlich. Sie fasste mich am Nacken und zog mich an sich heran, bis unsere Stirnen heiß aneinanderlagen. Dann küsste sie mich.

»Laß uns diese Mission zuende bringen«, flüsterte sie, »und dann nehmen wir ein paar Tage Urlaub. Wir mieten eine Suite im WellnessArea, nur für uns zwei.«

Als ich am nächsten Morgen zu Schichtbeginn auf die Brücke kam, hatten wir uns dem rechten Flügel des Spiegelnebels erheblich genähert. Das Zentrum war von unserer Position aus nicht mehr zu sehen. Die nierenförmig deformierte Schwinge, die in öligen Farben zu schillern schien, nahm die ganze Breite der Frontscheibe ein. In ihrer Mitte, direkt vor uns, gähnte das schwarze Auge. Wir waren jetzt nah genug, dass unsere Bewegung feststellbar wurde. Außerdem trat der räumliche Charakter der Erscheinung allmählich hervor. Hatte Amygdala aus großer Entfernung zweidimensional gewirkt, eben wie ein flach auf einen Träger gepinnter Falter, so wurde jetzt deutlich, dass die einzelnen Ringe und Kreissegmente eher rundlichen Wülsten glichen. Sie lagen keinesfalls in einer gemeinsamen Ebene, sondern einzelne von ihnen ragten um zehntausende von Kilometern über das Niveau der anderen auf. Das Pfauenauge hingegen, das konnte man jetzt sogar mit bloßem Auge erkennen, war gar kein schwarzer Fleck, keine lichtabsorbierende Fläche, sondern wie ein Trichter, eine konkave Tunnelöffnung, die in das Innere der in sich verschlungenen Plasmawolken hineinführte.

Ich trat hinter Jennifer, die gerade am Hauptbedienplatz saß und die Vormittagsschicht absolvierte, und legte ihr zur Begrüßung die Hand auf die Schulter. Sie reagierte mit einer kaum merkliche Berührung, indem sie den Kopf an meinen Unterarm legte, wandte den Blick aber nicht von ihren Anzeigen ab.

»Leichter Gegenschub«, sagte ich, »Annäherung drosseln. Auf Kleine Fahrt gehen.«

Die Verzögerung drängte mich von hinten gegen ihre Sessellehne. Dann fing Jennifer das Bremsmanöver sanft ab.

»Haben wir ein Hologramm vorliegen?«, fragte ich.

Es war klar, dass diese Erkundigung nicht an die Pilotin sondern an Reynolds gerichtet war, der in unserem Rücken an seinem wissenschaftlichen Arbeitsplatz hockte und den ich beim Hereinkommen natürlich keines Blickes gewürdigt hatte. Er brauchte eine Weile, bis er das registrierte.

»Mit anderen Worten«, wiederholte ich. »Gibt es eine Angabe darüber, wo wir herauskommen, wenn wir jetzt dort hineinfliegen?«

»Schwierig«, sagte er und räusperte sich umständlich.

»Na es muss doch eine dreidimensionale Struktur haben«, warf ich ungeduldig ein.

»Nicht unbedingt«, bekam ich zu hören. Ich hatte mich immer noch nicht zu ihm umgedreht, sondern sprach nach vorne, unmittelbar zu dem eindrucksvollen und furchteinflößenden Phänomen hin.

»Das Schwarze Loch in seinem Zentrum«, erläuterte Reynolds, »verwirft das Raum-Zeit-Kontinuum.«

»Aha«, machte ich nur. »Und was heißt das für uns?«

»Seine räumliche Gestalt ist in einen mindestens vierdimensionalen Vektor eingebunden, der zu einer Möbiusschleife gekrümmt wird. Die Umpolung erfolgt im Zentrum, parallel zum Jet, der ...«

Ich hatte die halbe Nacht in der Kartothek der ENTHYMESIS zugebracht und allmählich die Schnauze voll von dem Jargon.

»Die Nutzanwendung«, sagte ich schroff. Ich drehte mich auf dem Absatz herum und schoss ihm einen feindseligen Blick zu. »Die praktische Nutzanwendung, Herr Offizier. Meine Pilotin wartet auf konkrete Angaben, nach denen sie navigieren kann.« Das Possessivum hatte ich vielleicht stärker betont, als nötig gewesen wäre.

»Verkürzt ausgedrückt«, fiel er in die übliche Arroganz zurück. »Es hat eine Vorderseite, aber keine Rückseite.«

Ich ließ das auf sich beruhen. Aber es gelang mir nicht, mir darunter irgendetwas vorzustellen.

»Deshalb können wir auch nicht durch das Ding hindurchsehen«, setzte er gnädigerweise hinzu. »Die schwarze Fläche scheint, nach allem was ich bisher sagen kann, tatsächlich aus gewöhnlichem interstellarem Vakuum zu bestehen. Aber da sie in der Raumzeit in sich zurückgekrümmt ist, können wir keinen Sternenhintergrund sehen. Es gibt gar kein ‚Dahinter’.«

 

»Schön, schön«, sagte ich, um ihn abzuwürgen. Er redete mir schon wieder viel zu viel. »Können Sie verantworten, dass wir dort hineinfliegen?«

Er zuckte mit den Schultern und hob die Hände. Jedenfalls war seine Ratlosigkeit echt. So viel Unbedarftheit konnte kein Mensch spielen.

»Die Frage ist doch«, meldete Jennifer sich zu Wort, »ob wir überhaupt hineinfliegen sollten.«

Sie hatte ihren Sessel herumgeschwenkt und mich, in der richtigen Voraussicht, dass ich gleich explodieren würde, an der Hand gefasst.

»Gibt es überhaupt«, erkundigte sie sich arglos bei meinem Widersacher, »einen Grund – aus wissenschaftlicher Sicht – in das Innere des Nebels einzudringen?«

Ich konnte riechen, wie Reynolds der Schweiß ausbrach. Jetzt lag der schwarze Peter bei ihm. War es möglich, war meine Erste Pilotin so raffiniert? Sie hatte ihn scheinbar aufgewertet, aber ihn zugleich in das Dilemma hineingetrieben, sich zumindest nach einer Seite entblößen zu müssen. Mit wem von uns beiden würde er sich anlegen wollen? Ich sah, wie er sich wand, und ich genoss es. In einer Woge der Dankbarkeit drückte ich Jennifers Hand. Dann machte ich mich von ihr los und begann, mit hinter dem Rücken verschränkten Fäusten auf der Brücke hin und her zu tigern. Schließlich war ich der Meinung, dass Reynolds die Frist verpasst hatte, um sich noch eine Antwort auszudenken. Zu lange brauchte er auch nicht im Mittelpunkt stehen.

»Es wird die einzige Möglichkeit sein, etwas Genaueres über das Wesen Amygdalas herauszufinden«, sagte ich großzügig.

»Sir«, winselte Reynolds, »natürlich ist das Ihre Entscheidung.« Er brachte es fertig, auch aus seiner Schwäche noch Kapital zu schlagen. Ich wusste, dass er Jennifer in diesem Augenblick schon wieder Leid tat.

»Ganz richtig«, sagte ich. Und so kameradschaftlich wie möglich setzte ich hinzu: »Aber Sie sind mein Wissenschaftlicher Offizier. Wenn Sie der Meinung sind, dass das Risiko unkalkulierbar ist ...«

Er seufzte theatralisch. War es ihm denn gar nicht peinlich, sich in Jennifers Gegenwart so gehen zu lassen? Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich darunter litt, dass sie ihm anscheinend gleichgültig geworden war. Aus irgendeinem Grund wäre es mir lieber gewesen, er wäre in offene Konkurrenz zu mir getreten.

»Ich kann keine Garantie übernehmen.« Mit einem regelrechten Hundeblick sah er zu mir auf. »Ich verstehe es noch nicht ausreichend. Der Ereignishorizont des Schwarzen Loches scheint durch eine Plasmaeruption nach außen gestülpt worden zu sein, aber ich kann nicht genau sagen, wo er verläuft. Wenn wir zu weit hineinfliegen, könnte es allerdings sein, dass wir von dem Quantenwirbel erfasst werden. Dann würde der Jet uns ansaugen. Wir hätten keine Chance, wieder herauszukommen.«

»Ist gut!« Ich schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab. Anders fand er ja nicht zum Ende.

Ich baute mich wieder hinter Jennifer auf und wies sie an, auf Kleiner Fahrt zu bleiben und die Annäherung bei größtmöglicher Vorsicht fortzusetzen.

Mehrere Minuten lang geschah überhaupt nichts. Jennifer und Reynolds hockten über ihren Konsolen und ließen ihre Anzeigen nicht aus den Augen. Ich hatte mich breitbeinig auf der Brücke aufgebaut und starrte nach vorne. Wir flogen jetzt wieder so langsam, nur gut zehntausend Kilometer pro Stunde, dass unsere Bewegung mit bloßem Auge nicht mehr festzustellen war. Es war vollkommen still im Cockpit. Ab und zu piepste oder klickte etwas in der Elektronik. Ich hörte Jennifers lange Fingernägel, die auf der Tastatur klapperten, wenn sie eine Eingabe machte, und Reynolds’ rasselnden Atem. Er neigte zu Fettleibigkeit und keuchte wie ein Dreizentnermann, der wider alle Vernunft einen Dauerlauf absolviert. Schließlich setzte ich mich auf den Platz des Copiloten und holte mir das Bild der Beobachtungsdrohne auf den Schirm. Ich erkannte Amygdala in der vollständigen Ansicht, so wie wir sie gestern mittag noch gesehen hatten. Dicht vor ihrer rechten Schwinge, winzig klein, an der untersten Grenze der optischen Auflösung, war gerade noch die ENTHYMESIS auszumachen. Ein winziger Kristallsplitter, der ängstlich vor dem weit geöffneten schwarzen Trichtermaul zu verharren schien. Ich schaltete auf Falschfarben um und betrachtete das gleiche Bild nacheinander im Ultraviolett-, Infrarot- und im Mikrowellenspektrum. Irgendwann wurde auch das langweilig. Jedenfalls ergab sich daraus für mich kein Erkenntnisgewinn. Es war pure Spielerei. Ich knipste den Monitor aus und erhob mich. In den nächsten zwei bis drei Stunden musste eine Entscheidung getroffen werden, die für uns alle von erheblicher Tragweite sein würde. Aber in der gereizten Stimmung, in der ich mich nach wie vor befand, verspürte ich keine Lust, mich bei Dr. Rogers rückzuversichern und mir eine Präzisierung unseres Marschbefehls geben zu lassen. Ich konnte allein entscheiden. Es war eine autonome Mission. Bis zu unserer Rückkehr auf die MARQUIS DE LAPLACE war ich niemandem Rechenschaft schuldig. Und ich hatte auch keine Lust, daran eigenmächtig zu rühren. Ich lungerte auf der Brücke herum und fing an, mir selbst auf den Geist zu gehen. Gerade als ich mich vom Copilotensessel abgestoßen hatte und in die Messe gehen wollte, um mir einen Kaffee zu holen, begann eine hektische Aktivität durch das Cockpit zu flackern. Die Automatik hupte. Die sterile Stimme des virtuellen Piloten verkündete »Objekt auf Kollisionskurs«. Bunte Polarlichter wehten über Jennifers Schirm, als ich mich über ihre Schulter beugte. Dann sprang die rote Alarmleuchte genau vor ihrer Konsole an.

»Unbekanntes Objekt «, sagte Jennifer. »Entfernung – 1350 Kilometer.«

»Größe?«, fragte ich.

»Maximal einige hundert Meter.«

Also war es noch zu klein und zu weit entfernt, als dass wir es hätten sehen können.

»Charakter?«

Keine Antwort. Ich griff über Jennifer hinweg und schaltete das alberne Blinklicht aus, das mir allmählich auf die Nerven ging.

»Ist es ein Asteroid«, säuselte ich. »Ein Kometenkern, ein Neutronenstern?«

»Das musst du Reynolds fragen«, sagte Jennifer leise.

Ich sah durch die Frontscheibe und aus den Seitenfenstern. Die am weitesten vorgewölbten Plasmaringe hatten wir passiert. Streng genommen befanden wir uns schon im Inneren Amygdalas. Breite rote und orangefarbene Gaswolken schlossen sich kreisförmig um uns. Und voraus lag nur noch der schwarze Schlund. Immer noch keine Antwort.

»Ich verlange Meldung«, brüllte ich. »Herrgottnoch-mal!«

»Kristallomorph«, quäkte Reynolds.

»Auf deutsch«, schrie ich. Ich war kurz davor, endgültig durchzudrehen.

»Regelmäßige Formen«, kam Jennifer ihm zu Hilfe, was nichts dazu beitrug, meine Laune zu verbessern.

»Deutliches Radarecho«, stammelte Reynolds. »Parallele Flächen, rechte Winkel, glatte Oberflächen ...«

Für Augenblicke herrschte wieder quälende Stille. Ich starrte mir die Augen aus dem Kopf, obwohl ich wusste, dass ich nichts würde sehen können. Lambert und Craig kamen auf die Brücke gerannt. Während Craig sich abseits hielt, kletterte Jill sofort auf ihren Copilotensitz und vertiefte sich in die Anzeigen. Es war beeindruckend und wohltuend, wie blitzartig sie die Situation erfasste. Sie benötigte kein einziges Wort.

»Ist es am Ende«, dachte ich laut nach, »so etwas wie ...«

»Ein Artefakt«, brachte Reynolds endlich heraus. »Es kann sich nur um ein Artefakt handeln.«

»Abmessung circa dreihundert mal achtzig mal fünfzig Meter«, sagte Lambert.

Diese Maße kamen mir irgendwie bekannt vor, aber der Gedanke war wohl zu phantastisch, als dass er mir zu diesem Zeitpunkt schon hätte kommen können.