Als ich verlor, was ich niemals war

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Eine Woche Arbeit wurde in wenigen Minuten vom Wind verweht, von Wasser durchnässt und wieder in seine Bestandteile zerlegt. Dann sammelten wir die Einzelteile wieder ein, brachten sie zum Müll und mich beschlich damals schon ein leises Gefühl der Sinnlosigkeit in Bezug auf dieses ganze Projekt.

Vergänglichkeit! Unbeständigkeit! Ja, das fühlte ich sehr stark in diesem Moment.

Dann entdeckte ich das angeschwemmte Strandgut: viele Plastikflaschen, Holz- und Baumteile, alte Schuhe, die alle vom Wasser weich abgeschliffen waren und eine besondere Faszination auf mich ausübten. Ich verband dieses Strandgut mit ihrer jeweiligen Geschichte, sah den Baum, an dem einst Äste wuchsen, im Gesamtgefüge eines Waldes und sah den Baum, der hier tot vor mir lag. Da lagen Plastikflaschen und Schuhe und viele andere Gegenstände, die alle eine Geschichte erzählen könnten. Alle diese Dinge hatten eine Funktion und einen Nutzen gehabt. Jetzt lagen sie hier, vom Wasser angespült, vom Sand eingegraben und von der Sonne geblichen – nutzlos und verbraucht.

‚Sieh an‘, dachte ich, ‚da hatte ich ja schon damals solche ernüchternden Gedanken gehabt.‘

Auf alle Fälle verbrachten Anna und ich viel Zeit miteinander und trafen auch oft unsere Freunde. „Alles wie gehabt“, wie Burkhard manchmal so einfach und doch sehr zutreffend meinte.

Abends malte ich abstrakte Bilder und war dazu übergegangen, Kartoffelsäcke und Sackleinen als Leinwand zu verwenden. Dieses Material schien mir am geeignetsten, um durch die Wiederverwendung von bereits Benutztem eine Art Einklang mit der Natur sowie einen nachhaltigen Gebrauch natürlicher Ressourcen auszudrücken, einer Eingebung folgend, die mir in Suan Mokkh beim Duschen über den Pflanzen gekommen war.

Ich erledigte verschiedene Gartenbauarbeiten, hatte in diesem Sommer gut zu tun, aber diese Ernüchterung wollte nicht weichen.

Ein Nachmittag mit Anna

Eines schönen Nachmittags war ich mit Anna bei ihr verabredet. Wir kochten zusammen, tranken Rotwein, lachten und erinnerten uns an unsere gemeinsamen Reisen durch Asien und sprachen über verschiedene Erlebnisse.

„Hättest du dem Mann wirklich die Flasche auf den Kopf geschlagen?“, fragte sie mich plötzlich, und ich wusste gar nicht, was sie meinte. „Welcher Mann? Welche Flasche?“, fragte ich erstaunt. „Na, du weißt schon, als wir damals in Penang waren und …“ „Ach ja, stimmt ja, das hatte ich fast vergessen“, unterbrach ich sie und erinnerte mich sofort an diesen Abend.

Wir aßen abends immer an einem der zahlreichen Essensstände direkt an der Straße. Gleich nebenan befand sich eine Moschee. Das Freitagsgebet war gerade beendet und um uns herum waren fast nur weiß gekleidete Männer mit ihren traditionellen Mützen, dazwischen auch ein paar Rikscha-Fahrer. Einer von ihnen saß nur wenige Meter von uns entfernt, als er plötzlich unter den Tisch griff, eine Katze in der Hand hielt, aufsprang und sie gegen eine Wand schleuderte. Alle Restaurantbesucher verstummten auf der Stelle und starrten in seine Richtung. Wir auch.

Aber der war mit der Katze noch nicht fertig, ergriff einen großen Stein und schlug, über ihr kniend, mehrmals auf sie ein. Wir waren entsetzt, konnten nicht glauben, was wir gerade sahen. Als er mit der Katze fertig war, kehrte er an seinen Tisch zurück und aß weiter, so als ob nichts geschehen wäre. Es blieb mucksmäuschenstill.

Anna war besonders entsetzt und warf dem Mann böse, verachtende Blicke zu. Der bemerkte das, stand plötzlich auf und bewegte sich langsam auf uns zu. Oh, Mann. Neben mir stand eine Kiste mit leeren Cola-Flaschen, und ganz automatisch ergriff meine rechte Hand eine der dicken Glasflaschen, während ich in mir eine klare Entschlossenheit fühlte. Anna saß vor mir und der Mann kam immer näher. Irgendwie hatte ich geistig eine Schutzlinie zwischen ihm und Anna gezogen, und er blieb tatsächlich zirka einen halben Meter vor dieser Grenze stehen und meinte auf Englisch, dass die Katze ihn gebissen habe, und sagte noch irgendetwas anderes, was wir nicht verstanden. Dann ging er zurück auf seinen Platz und die Flasche zurück in den Kasten.

„Ja, mein Schatz, ich hätte sie ihm auf den Kopf geschlagen“, war meine sichere Antwort auf ihre Frage.

Dann erinnerten wir uns wieder daran, wie es überhaupt dazu kam, vor zirka zwei Jahren, nach Asien zu reisen. Eigentlich hatten wir ganz andere Pläne – und alles begann damals mit einer kleinen Meldung am 26. April 1986.

Ein russisches Atomkraftwerk in Tschernobyl hatte Probleme und irgendetwas trat aus. Dann wurden die Nachrichtensprecher immer ernster und die Meldungen darüber auch. Und irgendwann verstanden wir, nein, es war kein kleiner Unfall, sondern eine schwerwiegende Bedrohung. In Berlin hatten wir damals noch Glück im Unglück, weil der Wind in diesen Tagen aus Westen wehte und somit die radioaktive Wolke von Berlin fernhielt. Es kamen die ersten Warnungen: Kinder sollten nicht im Sand spielen und man sollte sich bei einsetzendem Regen davor hüten, nass zu werden.

Einige Tage später saßen Anna und ich auf meinem Balkon und spielten mit dem Gedanken, auszuwandern. Wir malten uns alle möglichen Horrorszenarien aus, die mit einer nuklearen Katastrophe einhergehen würden, und kamen zu dem Schluss, dass Südostasien sicherer war als Europa. Wir dachten darüber nach, in Thailand vielleicht ein Restaurant und einen Surfbrettverleih aufzumachen. Und so kam es, dass wir uns damals auf den Weg nach Asien machten, um die Möglichkeiten vor Ort etwas genauer abzuchecken.

„Wie die Zeit vergeht“, sagten Anna und ich gleichzeitig und wir mussten lachen.

Das Thai-Curry, das wir an diesem Nachmittag gemeinsam zubereitetet hatten, war schon zur Hälfte gegessen, als Anna mir plötzlich diese bedeutungsschwangere Frage stellte: „Könntest du mit dem Gartenbau eine Familie ernähren?“ Irgendetwas in mir erstarrte: „Äh, ja, glaube schon“, murmelte ich etwas erschrocken. Nein, sie war nicht schwanger, aber eben in dem Alter, wo diese Gedanken für eine junge Frau ganz normal sind.

Ist das die Richtung, in die unsere Beziehung gehen würde, der ‚normale‘ Weg?

War ich denn überhaupt schon bereit dafür? War ich dafür überhaupt geschaffen?

Nichts, aber auch gar nichts klang in mir an. Weder fühlte ich eine freudige Stimmung in mir aufkommen, noch sah ich erwartungsfrohe Bilder mit Eigenheim und zwei Kindern vor meinem inneren Auge. Ein Leben als Familienvater war für mich ganz und gar unvorstellbar. Anna musste mein Unbehagen bemerkt haben und beließ es bei dieser Frage. Sie meinte nur noch: „Nein, nicht heute oder morgen“‚ … aber irgendwann und dann für immer …‘, ergänzte ich im Stillen diesen Satz, ausgeliehen aus dem Film Casablanca.

Nein, sie wolle ja auch ihr Studium beenden, meinte sie dann, vielleicht noch ein bisschen von der Welt sehen, aber es schien so, als wollte sie schon mal vorchecken und meine generelle Haltung mit dieser Frage prüfen. Ich glaube, ich war haushoch durchgefallen.

Ein neuer Gedanke

Ich weiß nicht mehr genau, wann diese Entscheidung fiel, es war eher wie ein ‚Kippen‘ in eine Richtung. Irgendetwas in mir schloss mit Berlin ab und es formierten sich Gedanken und Ideen der besonderen Art: „Hey, wie wäre es eigentlich, wenn ich für ein paar Monate ins Kloster gehen und Mönch auf Zeit werden würde?“

Ich hatte eine interessante Rechnung aufgemacht. Ich überlegte, wie viele Einsichten und ‚Erleuchtungserlebnisse‘ ich in diesen Wochen gehabt hatte. In acht Wochen hatte ich soundso viel erlebt, in neun Monaten würde ich also soundso viel erleben!?

Anna war schließlich auch sieben Monate in Japan gewesen, sie könnte unmöglich etwas dagegen haben. Auch wenn Anna etwas schluckte, als sie von meinen Plänen hörte, meinte sie dann doch: „Na ja, neun Monate sind ja keine Ewigkeit.“

Ihre Mutter lebte in Australien und würde nächstes Jahr fünfzig werden und Anna war eingeladen, sie zu besuchen. Sie wäre dann sowieso zwei Monate in Australien und wir könnten uns dann wieder im April des kommenden Jahres in Bangkok treffen und zusammen zurück nach Berlin fliegen. Das hörte sich alles sehr gut für mich an und deckte sich mit meinem Zeitfenster.

Allerdings wollte ich nicht wegen irgendwelcher Verpflichtungen wieder nach Berlin zurück. Also beschloss ich, meinen Lkw und einen Teil der Werkzeuge zu verkaufen. Reinhold würde meine Wohnung übernehmen, und die schon vorliegenden Aufträge würde ich an befreundete Landschaftsgärtner abgeben. Gesagt, getan.


Abschied von Berlin

Nach einem letzten Sommer in Berlin, mit den üblichen Freizeitbeschäftigungen, zog der September ins Land. Ich hatte alles verkauft, was ich zum Gartenbau nicht mehr brauchte, regelte noch ein paar Formalitäten, und zwei Tage vor meiner Abreise fuhr ich nochmal durch die Straßen Berlins.

Es kamen mir viele Erinnerungen an vergangene Zeiten in dieser Stadt hoch. Immerhin hatte ich bislang elf Jahre hier gelebt, gelebte Zeit, gelebtes Leben, viel erlebt, und doch war ich nirgendwo angekommen, wo ich hätte sagen können: Hier bleibe ich!

Es war ein Abschiednehmen ohne Trauer. Es fühlte sich so an, als wäre ich in einen Kokon eingehüllt, während die Häuser und Straßen und die vielen Erinnerungen an mir vorbeizogen. Und am vorletzten Abend traf ich mich zum letzten Mal mit meinen lieben alten Freunden im ‚Untergrund‘. Wir lachten und tranken Bier, witzelten und sprachen über dies und das, die alten Zeiten, die gemeinsamen Erlebnisse, und irgendwie war ich schon gar nicht mehr da.

Den letzten Tag verbrachte ich mit Anna. Wir waren mittlerweile darin geübt, uns eine Weile nicht zu sehen, und so war es auch nicht weiter schlimm, denn wir hatten so etwas ja schon öfter durchgemacht. Wir führten eine sehr unübliche Beziehung und waren immer mal für längere Zeit räumlich getrennt. Ich glaube auch, dass wir beide das zu schätzen wussten, denn so konnte jeder die Dinge tun, die er tun wollte, und niemand musste sich für den anderen verbiegen.

 

Dann hatten wir ein letztes gemeinsames Abendessen bei ihr und eine letzte gemeinsame Nacht, und das machte es mir nicht leichter, sie eine Weile nicht zu sehen.

Kurz vor dem Schlafengehen schrieb ich noch etwas auf, was ich selbst nicht richtig verstand, aber es kam aus meinem Herzen, und Poesie ist ja bekanntlich dazu da, etwas in Worte zu fassen, wofür es eigentlich keine Worte gibt.


Die Bande …

… wie geschmiedete Ketten, aber Ösen gleich, eine geschlossene Öffnung.

Und durch den Sumpf der Dinge zeichnet sich die Klarheit ab,

wird von dem Nichts aufgefressen.

Mein Land, so weit du sehen kannst, mein, und kein Fleck,

dem ich gehöre, der mir gehört.

Die Sonne ergießt, Orgasmus gleich,

ihre hellen Fluten in schwarze Schluchten,

und die Reiter machen sich auf den langen Weg durch die grüne Wüste.

Eine Tasse Kaffee vertreibt die Spiralnebel.

Elitär vertrocknete Äste schwingen leicht im Winde

und schlagen ihre Vergänglichkeit ins innere Auge des Betrachters.

Steine rollen und Fliegen fliegen, bis sie am Bande gefangen verstummen.

Trost und Erlösung kommen erst in der Ewigkeit?!

Abgebrannte Zigarettenstummel und zerdrückte Cola-Dosen,

lieblich gelagert neben Einwegflaschen und Plastiktüten,

machen den Weg zum Gipfel seltsam

und zugleich befremdlich schön verführerisch.

Eingebunden in Gewalten.

Heißer Kaffee läuft die Kehle hinunter, und eine glimmende Zigarette

zwischen Mittel- und Zeigefinger der linken Hand,

in dieser Stellung der Meditation verharrend,

werde ich warten und Zeiten an mir vorüberziehen lassen.

Ein Kind schaukelt leicht im Wind,

nur gehalten von einem Strick am Ast.

Eine seltsame Verbundenheit bilden die Bande des Strickes

um des Kindes Halse straff gezogen.

„Lass dich nicht so hängen!“, schreie ich ihm entgegen.

Und während es antwortet:

„Die Zeiten haben sich geändert

und für einen Cadillac gebe ich alles!“,

erkenne ich in ihm mein Spiegelbild.

Die Zustimmung des lachenden Publikums

über sein Todesurteil verblüfft mich weniger

als das Zurückkommen des Bumerangs.

Barfuß springe ich durch Feuersglut,

während die Stiefmütterchen nicht ihre Farbe verlieren.

Einem Rollschuhfahrer gleich, Walkman am Gürtel hängend,

fliege ich über schwarzen Asphalt und verliere mich in grünen Wiesen,

wo schon lange nichts mehr wächst.

Polizisten schießen auf Kinder,

und Kinder werden schon lange nicht mehr geboren.

Spanien liegt fern, Amerika liegt fern.

Der Wind verstärkt sich im dichten Gestrüpp

und Häuser zerren Flugzeuge auf die Felder.

Schweißnasse Hand zwischen erigierten Beinen.

Nackte Körper, durch Lügen gerodet, gestraft durch ihr Sein,

belohnt von dem Nichts.

Einsam zieht der Falke seine Kreise.

Rückblick

Genau genommen hatte ich alles gehabt, was ein normales Leben lebenswert macht. Eine tolle Freundin an meiner Seite, eine schöne Wohnung mit Balkon, gute Freunde und ein Beruf, der mir Spaß machte und der mich vielleicht nicht reich, aber doch wohlhabend gemacht hätte.

Aber es fehlte etwas. Ich konnte gar nicht genau sagen, was da fehlte. Ich fühlte, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Aber vielleicht war es genau das: alles zu haben und doch nicht erfüllt zu sein, trotzdem eine tiefsitzende Unzufriedenheit zu spüren und kein Silberstreif am Horizont zu sehen, dass sich an dieser Unzufriedenheit etwas ändern würde, wenn ich diesen Lebensstil so weitergeführt hätte.

Es fühlte sich richtig an, mir diese Auszeit zu nehmen, alleine, nur mit mir, mein Leben zu leben, meine Lebensreise zu machen und keine Ahnung zu haben, wo und vor allem ob ich irgendwo ankommen würde.

Reinhold übernahm, wie gesagt, meine Wohnung, und ich holte am nächsten Tag alle wichtigen Dinge, wie Pass, Geld, Reiseschecks, aus meinem Regal, packte meinen Rucksack, vergewisserte mich des Tickets nach Bangkok und fuhr am nächsten Abend mit der S-Bahn nach Berlin Schönefeld, von wo mein Flieger mich direkt nach Bangkok bringen würde.

Die Maschine hob gemächlich ab, durchstieß irgendwann die Wolken, und als es langsam dunkel wurde, fiel ich in einen tiefen Schlaf.


Bangkok / Suan Mokkh

Nach einer Zwischenlandung in Dubai landete die Maschine um zirka sieben Uhr morgens in Bangkok. Ich fuhr direkt zum Hauptbahnhof und kaufte mir ein Ticket für den nächsten Zug Richtung Süden und erreichte Chaiya am nächsten Morgen um sechs Uhr.

Ich war aufgeregt, nein, freudig erregt, als mich das Taxi an den zahlreichen Essensständen absetzte, die vor dem Kloster Wat Suan Mokkh standen und zu dieser Zeit noch geschlossen waren.

Das Tor zum Kloster stand immer offen und so ging ich langsam hinein. Ein paar Mönche fegten die Wege, andere waren dabei, mit ihren Almosenschalen auf den täglichen Almosengang zu gehen. Ich lief an Ajahn Buddhadasas Hütte vorbei, erreichte den Hin Kong und sah auf einem dieser im Kreis liegenden Steine eine zirka zwei Meter lange schwarze Schlange. Sie schlängelte sich langsam über die Felsen; ihr Körper war nicht rund, sondern lief am Rücken spitz zu. Es handelte sich um eine der giftigsten Schlangen Thailands. Als sie mich bemerkte, schaute sie kurz in meine Richtung und verschwand dann langsam und gemächlich im Unterholz der Bäume.

In der Küche wurde schon gekocht und das freundliche Lächeln eines der Küchenmädels gab mir sofort ein heimisches, willkommenes Gefühl.

Ja, ich war wieder da, an dem Ort, der sich richtig anfühlte, der Ort, an dem ich mich zuhause fühlte, der Ort, an dem ich sein wollte.

Dann erschien plötzlich Santikaro, begrüßte mich und meinte, der Retreat habe schon gestern begonnen, aber ich könne noch einsteigen. Nichts lieber als das!

Er bot mir an, dass ich gleich in eine Kuti ziehen könnte, denn ich erzählte ihm, dass ich für länger gekommen sei. Für wie lange? Keine Ahnung, mal sehen.

Und so fühlte sich alles sehr gut und sehr vertraut an, und ich freute mich auf zehn Tage des Schweigens, auf das Hören von Vorträgen und auf die Meditation.

Die Tage entfalteten sich in ihrem eigenen, mir schon bekannten Rhythmus und Santikaro sagte zu mir, dass ich erst mal langsam runterschalten solle und ankommen müsse. Nein, ich war schon längst drinnen, zumal ich in Berlin ja wirklich die meisten Tage meditiert hatte und jeden Tag an Suan Mokkh denken musste.

Am Ende des Retreats blieben, wie immer, noch einige für ein paar Tage hier, manche für länger, und wir fanden wieder einen neuen Rhythmus. Ein Däne verabschiedete sich von mir und meinte, dass die Meditation so sei wie das Segeln, was wohl sein Hobby war. Da müsse man auch immer sehr achtsam sein. Ich wusste sofort, dass es ihn nicht ‚erwischt‘ hatte, und spürte eine gewisse Arroganz des Besserwissers in mir. Ja, da stand ich, eigentlich kurz vor der Erleuchtung, und der will das mit Segeln gleichsetzen? Ich murmelte ein paar Worte des Abschieds und fegte weiter meine Wege.

Nein, es musste nicht immer etwas Besonderes passieren, auch nicht in der Meditation, es reichte aus, einfach nur zu sein und die Dinge zu tun, die getan werden mussten.

Ich beobachtete Regentropfen an Blätterrändern, die kurz vor dem Fallen nochmal das Blatt umschmeichelten, ehe sie losließen. Manche Blätter waren wie ein Trichter gewunden und so konnte sich das Wasser in der Pflanze sammeln, für regenärmere Tage. In der Designersprache würde man sagen: Die Form folgt der Funktion.

In der Natur gibt es nichts Unnötiges, alles hat seinen Platz und seinen Sinn.

Im Kloster gab es einige Hunde, die eigentlich nur sich selbst gehörten und darauf hofften, dass etwas Essbares für sie abfiel. In der Nähe der Küche fanden sie reichlich Essensreste, wurden von der Küchenchefin auch mal gefüttert, und ab und zu brachte ich ein paar ‚Abfälle‘ mit und sie warteten schon darauf, was zur Folge hatte, dass sie sich meist in der Nähe meiner Hütte aufhielten und nachts darunter schliefen. Wie es schien, wurde ich langsam zum Führer des Rudels, das außer mir aus noch vier bis fünf Hunden bestand.

Sogar hier im Kloster wurde immer mal wieder in die umliegenden Hütten eingebrochen, und eines Nachts erhob mein Rudel ein so lautes Gebell und Gejaule, dass selbst der hartnäckigste Einbrecher Reißaus genommen hätte.


Karma

„Was du tust und denkst, kommt immer wieder auf dich zurück.“

Ich hielt regelmäßige Meditationszeiten ein, nahm weiterhin an Arbeitsperioden teil und saß sehr gerne vor meiner Hütte und entwickelte meine Meditation. Dann geschah während der Meditation etwas sehr Seltsames.

Während ich so mit geschlossenen Augen dasaß, beschlich mich urplötzlich eine Angst, es könne jemand von hinten kommen und mir mit einem Messer den Hals durchschneiden. Mein Verstand sagte: ‚Quatsch‘, und er hatte Recht, auch mein Rudel hätte das nie zugelassen. Aber egal, wie rational ich mir das auch erklärte, die Angst kam immer wieder und mein Geist fand keine Ruhe mehr.

Dann erinnerte ich mich daran, dass es mir auf Koh Samui auch schon mal so ergangen war.

Es war in einer Vollmondnacht. Während ich mit geschlossenen Augen nah am Wasser saß und das sanfte Geräusch der am Strand auflaufenden Wellen vernahm, beschlich mich unversehens die gleiche Angst: Es kommt jemand von hinten und schneidet mir den Hals durch, und es war vorbei mit der Ruhe. Aber auf der Insel war mir das gar nicht so bewusst geworden, denn dort gab es vielerlei Zeitvertreibe, welche von der Angst ablenkten. Zudem war ich zu jener Zeit nicht bereit, mich eingehender mit unangenehmen Empfindungen zu befassen.

Aber hier im Kloster gab es keine Ablenkung und es ging ja um Selbsterkenntnis und Selbsterforschung, aber ich wollte lieber was Schöneres erforschen als das da.

„Du kannst rennen, aber dich nicht verstecken“, hat mal irgendjemand gesagt, und dieser Satz bekam nun für mich die Bedeutung, die er hatte.

Wenn ich etwas las oder die Wege fegte oder mit den Hunden durch den Wald lief, war diese Angst wie weggeblasen. Erst wenn ich mich hinsetzte, kam sie wieder. Ich redete mit niemandem darüber, weil ich dachte, sie würden denken, ich sei etwas verrückt geworden und am Durchdrehen, was einigen bei so viel Ruhe und Stille durchaus schon passiert war.

Es war schon spät in der Nacht, als ich in die Pfadfinderhalle, unsere Meditationshalle, ging, dort eine Petroleumlampe anmachte und mich zur Meditation hinsetzte.

Ich saß vielleicht zehn Minuten, als diese Angst urplötzlich wieder in mir aufkam und langsam, aber sicher mit ihren kalten und immer stärker werdenden Wellen meinen ganzen Körper durchflutete. Dieses Mal wollte ich es wissen und blieb entschlossen sitzen.

Plötzlich hörte ich einige Meter hinter mir Schritte, die langsam schlurfend auf mich zukamen, und zu allem Überfluss war da auch noch ein klirrendes, metallenes Geräusch zu hören, so als ob jemand ein Schwert oder langes Messer aus einer Scheide ziehen würde. Ich blieb sitzen und dachte, scheißegal, dann werde ich jetzt halt sterben. Diese innere Haltung des ‚Kriegers‘ machte sich in mir breit, und die Schritte kamen immer näher und näher und ich war wirklich bereit, enthauptet zu werden. Jetzt war er schon ganz dicht hinter mir und ich würde mich keinen Zentimeter rühren.

Und dann wurde ich urplötzlich weit in die Vergangenheit katapultiert.

Ich sehe mich sehr deutlich in kurzen Lederhosen, meine rote Sparbüchse in der Hand, und mein Freund Rainer und ich, wir beide etwa im Alter von fünf Jahren, laufen über eine Wiese. Hier schleichen wir uns von hinten langsam an Bienen heran, die gerade auf Blumen gelandet waren und treten auf diese Bienen drauf, sodass sie zwar noch leben, aber nicht mehr weiterfliegen können. Wir stecken sie alle in diese Sparbüchse hinein. Weiter sehe ich, dass der Boden der Büchse schon mit vielen zappelnden, umherkriechenden Bienen gefüllt ist, manche leben mehr als andere. Und so laufen wir über diese Wiese und morden immer weiter. Die Farbe der Büchse rot, der Verschluss weiß, die Wiese grün, bunte Blumen, alle diese Farben sehe ich mit großer Intensität und Klarheit und auch die Bienen sehe ich in ihrem Leiden sehr deutlich. Und was noch verrückter war, ich fühlte wirklich ihren Schmerz.

 

Ich öffnete erschrocken die Augen, und mir wurde klar, dass das wirklich geschehen war, damals als Fünfjähriger.

Wir hatten es nicht getan, um die Bienen bewusst zu verletzen, sondern wir wollten sie einfach nur haben. Dennoch schaute ich mich um, einem automatischen Impuls folgend, um mich zu vergewissern, ob nicht doch jemand mit einem Schwert hinter mir stand. Doch da war natürlich niemand.

Aber ich erkannte den Zusammenhang zwischen der Angst, dass mir jemand den Hals durchschneiden würde, und dem Zertreten der Bienen. Saßen sie nicht auch einfach nur auf Blumen, in Frieden mit ihrem Sein und ihrem Tun, und dann schlichen wir uns von hinten heran und mordeten die Ahnungslosen? Und wollte ich am Strand nicht auch einfach nur dasitzen und das alles genießen und in der Halle meditierend Frieden finden?

Dann kam der Satz: „Das, was du tust, kommt immer wieder auf dich zurück.“

Es spielte keine Rolle, dass dieses Geschehnis fünfundzwanzig Jahre zurücklag. Dieses verschüttete Ereignis war tief in meiner Psyche vergraben gewesen und hatte jetzt nach langer Zeit die Gelegenheit erhalten, durch die meditative Stille meines Geistes an die Oberfläche meines Bewusstseins aufzusteigen und wieder erlebt zu werden.

Nach diesem tiefgreifenden Erlebnis war die Angst, von hinten ermordet zu werden, verschwunden, und sie tauchte nie mehr wieder auf.

Von einer ähnlichen Geschichte hörte ich Jahre später in einem anderen Kloster.

Tom, ein Anwärter auf das Noviziat, traute sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus seiner Hütte heraus, weil er Angst davor hatte, von Schlangen, Skorpionen, Hundertfüßern und anderen giftigen und nicht giftigen Tieren angegriffen zu werden. Die Nacht im Dschungel empfand er als reinste Bedrohung, als ginge es um sein Leben.

Das ging so weit, dass er nachts aus dem Fenster pinkeln musste, denn die Toiletten befanden sich außerhalb der Hütte, und frühmorgens, wenn es noch dunkel war, musste er von jemandem zur Morgenmeditation abgeholt werden.

Eines Tages während der Meditation stieg folgende intensive und ungemein lebhafte Erinnerung in ihm auf: Er sieht sich, zehnjährig, mit einem Freund in Australien. Sie haben eine große Echse gefangen, sie an den Beinen festgebunden und schlitzen sie mit einem Messer bei lebendigem Leibe auf, woraufhin sie elendig verendete.

Auch er empfand, genau wie ich, bei dieser in ihm aufsteigenden Erinnerung eine tiefe Reue und Schuld über den Schmerz und das Leid, das er dem Tier zugefügt hatte. Er entschuldigte sich ebenfalls innerlich für seine Missetat, und von da an war diese Angst verschwunden und kam nie mehr wieder zurück.

Das war also damit gemeint, dass Meditation auch alle Ungereimtheiten und ‚moralischen Vergehen‘ ins Bewusstsein holt und einem eine zweite Chance gibt, eine neue Haltung zum Leben und den Dingen, die man getan hat und sicherlich noch tun wird, einzunehmen. Unglaublich, wenn man das weiterdenkt.

Ich war nach meinem Erlebnis davon überzeugt, dass alle ‚Vergehen‘ im großen Bewusstseinsraum abgespeichert waren und nach Ausgleich, nach Harmonisierung strebten.

Später lernte ich, dass Buddha ein Gesetz entdeckte, das als Karma bekannt ist und kurz beschrieben besagt: Alles, was du absichtsvoll tust, kommt irgendwann auf dich zurück.

Das bezog sich sowohl auf heilsame wie auch auf unheilsame Handlungen, und Zeit spielte dabei keine Rolle.

Es heißt, dass die richtigen Bedingungen vorherrschen müssten, damit sich etwas entfalten könne. Als Beispiel für Karma wird das Bild eines Samens genannt, der jahrelang irgendwo liegen kann. Wenn jedoch die passenden Bedingungen wie fruchtbarer Boden, Regen und Sonnenschein vorliegen, kann daraus ein Baum erwachsen.

Alle Bedingungen sind nötig, damit sich sein Potenzial entfalten kann. Und so ist es auch mit den von uns ‚gesäten‘ Handlungen. Sie sind wie Samen, die irgendwann ihr Potenzial entfalten, wenn die dazu nötigen Bedingungen hinzukommen.

Ich wollte mehr wissen, mehr erkennen, wollte alle negativen Taten aus der Vergangenheit auflösen, die ich anderenfalls irgendwann bereuen würde.

Ich begann plötzlich den Sinn der Worte: Wer andere beschützt, beschützt sich selbst, und wer sich selbst beschützt, beschützt andere, auf einer tieferen Ebene zu verstehen.

Ab diesem Zeitpunkt geschah es nur noch selten, dass ich ein lebendes Wesen mit Absicht tötete. Manchmal musste eine Mücke dran glauben, aber sofort erinnerte ich mich an die potenziellen Folgen dieser Tat. Wenn ich das meinen Freunden in Berlin erzählt hätte, würden sie mich gleich für verrückt erklären.

Ich sah das Leben mit neuen Augen, respektierte alle lebenden Wesen und sah sie als gleichwertig an. Der Dschungel war an sich nicht gefährlich, aber wenn man sich darin unachtsam bewegte, könnte er gefährlich werden. Ich würde es auch nicht zulassen, dass mir jemand auf den Kopf tritt, und eine Schlange wehrt sich eben auf ihre Weise. Und obwohl ich dieses Wort nicht mag, fühlte ich eine tiefe Demut in mir aufsteigen, ich fühlte mich nicht klein, aber auch nicht besser oder mehr wert als dieser Schmetterling, der da gerade an mir vorbeiflog. Meine menschliche Arroganz schmolz langsam dahin, und so fühlte ich mich als Freund unter Freunden, und ich sah gerne Schlangen zu, wie sie sich durch das Unterholz schlängelten, und es waren viele, die hier lebten. Und irgendwie spürte ich, dass ich mit dieser neuen Haltung der Freundlichkeit und des Wohlwollens gut beschützt war.


Internationales Waldkloster

Im Nordosten Thailands gab es ein Kloster, in dem hauptsächlich westliche Mönche lebten, Wat Pah Nana Chat hieß es, Internationales Waldkloster. Es wurde von Ajahn Chah gegründet mit dem Ziel, Westlern die Möglichkeit eines klösterlichen Lebens und Trainings zu bieten, ohne die thailändische Sprache beherrschen zu müssen. Die Verkehrssprache war Englisch. Das interessierte mich sehr, und Santikaro meinte, es sei bestimmt gut, dort mal vorbeizuschauen. Gesagt, getan.

Der Zug brachte mich nach Bangkok, wo ich mir eine Fahrkarte für die Weiterfahrt in den Nordosten des Landes, den Isaan, kaufte.

Ich erreichte Warin, die Bezirksstadt, nach ungefähr zwölf Stunden Fahrt. Als ich ausstieg, war der Bahnsteig voller Menschen, die entweder gerade ankamen, irgendwo hinwollten oder etwas zum Verkauf anboten.

Thailänder sind freundliche Menschen, die dieses berühmte Lächeln auf dem Gesicht haben. Wie ich später lernte, gab es eine Menge Arten zu lächeln, die alle eine bestimmte Bedeutung haben und nicht unbedingt immer eine freundliche. Aber lächelnde Gesichter fühlen sich erst mal sehr angenehm an, und als ob sie wüssten, wohin ich wollte, sagten einige „Wat Pah Nana Chat“ zu mir, lächelten wissend und zeigten in Richtung der Tuk-Tuks, dreirädrige Mopeds, die zirka drei Leute transportieren können und vor dem Bahnhof auf Gäste warteten.

Der Preis war schnell ausgehandelt und so fuhren wir aus der Stadt hinaus an Reisfeldern vorbei. Große, alte LKWs überholten uns hupend, zwischen den Feldern standen Holzhütten auf Stelzen, vereinzelte riesige Bäume, ein paar Kokosnussbäume und Palmen, Wasserbüffel, die von kleinen Jungs irgendwohin geführt wurden, und ich war gespannt, wo ich jetzt landen würde.

In der Ferne tauchte dann ein Wald auf, und der Fahrer deutete mit einer Hand in diese Richtung und meinte: „Wat Pah Nana Chat.“

In den Wald führte eine Betonstraße. Ich nahm meinen Rucksack, bezahlte und ging diese Straße entlang, die rechts und links von hohen Bäumen gesäumt war.

An einem dieser Bäume hing ein Schild, auf dem stand: ‚Wenn du Zeit zum Atmen hast, dann hast du auch Zeit zum Meditieren.‘ Gezeichnet: Ajahn Chah.