Rave On

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Für Boris Dolinski war es das gigantische Angebot sexueller Möglichkeiten, das Snax ausmachte. „Ich weiß, dass es auch andere schwule Clubs gibt, wo Sex praktiziert wird, aber nicht in diesem Ausmaß, verstehst du? Nicht in diesem Umfang“, sagt er. „Es ist ein Fest. Man kann sich davon mitreißen lassen und sich darin verlieren, aber man weiß, dass sich jemand um einen kümmert, wenn einem was passieren sollte. Wenn man will, kann man seine Grenzen überschreiten – und ein paar Leute haben das natürlich auch getan. Dort geschehen Dinge, die man nicht im Traum irgendwo anders machen könnte. Nicht einmal zuhause.“

Seitdem Jean-Michel Basquiat und Keith Haring gemeinsam in den Achtzigerjahren die New Yorker Szene aufmischten, waren die Clubkultur und die Kunstwelt eng miteinander verknüpft. Auch das Berghain förderte aktiv solche Verbindungen. Wolfgang Tillmanns stellte etwa eine Reihe herrlicher Bilder zur Verfügung – so auch eine entblößte Vulva, einen runzeligen Anus, einen gigantischen Vertreter seiner liquide-abstrakten Freischwimmer sowie einen mit statischem Rauschen bedruckten Banner, das er vom Fernseher eines russischen Hotelfernsehers abfotografiert hatte. Auch der monatliche Flyer des Clubs zeigte originale Arbeiten namhafter Künstler. „Das lag an den Snax-Partys. Alle schwulen Künstler, die dort verkehrten, stellten ihre Werke zur Verfügung, weil sie so dankbar waren: Danke, Berghain, für all den Spaß, den ich hier mit tausenden nackten Männern aus der ganzen Welt haben durfte“, meint Thilo Schneider und lacht, bevor er ernst fortfährt. „Die Ästhetik, die sie bieten, ist absolut einzigartig. Manche Clubs wollen ein Image, das sich eher am Underground orientiert, manche wiederum wollen eher glamourös und sexy wirken – aber das hier ist wirklich einzigartig und außergewöhnlich.“

Der Club feierte sein zehnjähriges Jubiläum mit einer Kunstausstellung, die auch körnige Fotografien des Cheftürstehers Marquardt und eine glühende, Aquarium-artige Installation der ehemaligen Berghain-Barkeeperin Sarah Schönfeld enthielt, die mit 1.000 Litern Clubber-Urin angefüllt war, die sie im Laufe von mehreren Monaten in Giftstoffbehältern gesammelt hatte. Es erschien sogar ein Bildband mit dem Titel Berghain: Kunst im Klub, der auch Interviews mit den Künstlern enthielt.

Die Kreativität, die der Club fördern wollte, war sowohl musikalischer als auch künstlerischer und sexueller Natur. So wurden an den Wänden der Eingangshalle Platten, die auf dem clubeigenen Label Ostgut Ton erschienen waren, in mit Nieten beschlagenen Rahmen wie im Museum ausgestellt – schließlich waren auch deren Cover von mit dem Club verbundenen Künstlern entworfen worden. Berghains weltweit renommierteste DJs, Marcel Dettmann und Ben Klock, beides Veteranen der Berliner Neunzigerjahre-Szene, wurden berühmt für ihre eiskalten, aggressiv-schmucklosen Marathon-Sets in der Turbinenhalle, die mitunter länger als zehn Stunden dauerten. Falls es so etwas wie einen spezifischen „Berghain-Sound“ gab, dann war das wahrscheinlich ihrer. Klock, aufgewachsen in Westberlin, erklärte, dass er „eine perfekte Balance zwischen hypnotischem tiefen Tripping und starker Energie“ suchte.24

Sein Kollege Dettmann, der aus dem östlichen Teil der Stadt stammte und dort mit Depeche Mode und elektronischer Tanzmusik groß geworden war, bevor er Clubs wie den Tresor und das E-Werk für sich entdeckte, bevorzugte sogar noch derbere Lärmattacken, die mitunter richtiggehend brutal sein konnten. Techno, sagte Dettmann einmal voller Zustimmung, „kann dazu führen, dass du deinen Verstand verlierst“. Und um Techno richtig wertschätzen zu können, musste unbedingt auch das Element Dreck eine Rolle spielen, betonte er: „Techno ist schmutzig. Wenn du von einer Techno-Party zurückkommst, solltest du schmutzig sein. Deine Jeans sind dreckig, du riechst nach Zigaretten, du bist schweißnass. Das ist mir sehr wichtig.“25

Der in Neukölln aufgewachsene Boris Dolinski war schon zu Zeiten des Ostgut im Club und seine persönliche Geschichte fügte seiner kulturellen Bedeutung noch eine weitere Facette hinzu. Der DJ mit adrettem Bart hatte in den Achtzigerjahren in New York gelebt und war regelmäßig in der Paradise Garage ein und aus gegangen, wo er zu einem Jünger Larry Levans wurde, den er als seinen musikalischen Mentor bezeichnet. Nach dem Ende des Kultclubs im Jahr 1987, spürte er, dass ein Kapitel seines Lebens zu Ende gegangen war. „New York war vorbei für mich“, erinnert er sich. „Es gab keinen Grund für mich, noch länger dort zu bleiben.“ Nach dem Fall der Mauer kehrte er nach Berlin zurück, um sich ein Bild davon zu machen, wie sich seine Heimatstadt veränderte. Im Gepäck hatte er seine Sammlung klassischer Garage-Tracks. Als er schließlich Mark Ernestus traf, fragte der ihn, ob er nicht sein erster Angestellter in seinem Kreuzberger Plattenladen Hard Wax werden wollte.

Dolinski orderte daraufhin in den frühen Neunzigerjahren sämtliche originalen Chicagoer und Detroiter 12-Inches für den Laden, wodurch das Hard Wax zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für diesen neuen Sound in Mitteleuropa wurde. Ernestus und er fuhren regelmäßig zum Flughafen, um ihre Bestellungen entgegenzunehmen: „Das machte alles sehr speziell – es gab damit einen Laden in Kreuzberg, in dem man Sachen kaufen konnte, die man sonst nirgendwo in Deutschland fand.“ DJs wie Tanith, WestBam, Jonzon und Dr. Motte führte ihr Weg jede Woche, wenn die neue Lieferung eintraf, in den Laden, um sich die heiße Ware zu sichern. „Da herrschte ein erbitterter Konkurrenzkampf. Wir konnten uns manchmal schon glücklich schätzen, ein paar Exemplare zu erhalten, weshalb es nie genügend Platten für alle gab. So wurde sogar darum gestritten, wer die Platten bekam“, berichtet Dolinski.

Geprägt vom Sound in der Paradise Garage fühlte er sich nicht sofort zum härteren europäischen Techno hingezogen. „Ich konnte damit wirklich nichts anfangen, da ich aus einem Club kam, der vorwiegend schwarz und hispanisch war und wo die Leute halbnackt zu Disco, House und Funk tanzten. Ich hatte überhaupt keine Verbindung zu dieser europäischen Szene“, erklärt er. „Tatsächlich war ich in meiner eigenen Stadt ein Fremder.“

Für Dolinski, der später die lüsternen Cocktail d’Amore-Partys veranstalten und als Resident-DJ in der Panoramabar auflegen sollte, war der Einfluss der Schwulenkultur auf das Berliner Nachtleben eine essenzielle Komponente für die kreative Vitalität der Stadt – und zwar nicht weniger als deren politische Vergangenheit. „Da Berlin von den alliierten Supermächten regiert wurde, war es bis 1989 ja nicht wirklich Deutschland. Wir trugen nie deutsche Ausweise in Berlin und es gab auch keine Wehrpflicht wie im restlichen Deutschland“, erinnert er sich. „Das machte es sehr attraktiv für Leute, die nicht eingezogen werden wollten, vor allem Homosexuelle. Also machten sie sich auf den Weg nach Berlin. So wurde Berlin zu einem riesigen schwulen Zufluchtsort. Hier gab es den höchsten Prozentanteil von Schwulen in ganz Deutschland. Natürlich förderte das eine gewisse Subkultur. Außerdem war Berlin ja sehr politisch. Es gab ständig Demonstrationen und die Leute sind auch immer noch viel militanter in Sachen Politik als irgendwo sonst in Deutschland. All dies verdichtete sich in der Clubkultur und machte sie härter und stärker.“

Ohne seinen intensiven schwulen Einfluss hätte das Berghain nie seine befreiende Atmosphäre aufrechterhalten können, glaubt Thilo Schneider. „Das schwule Publikum im Berghain ist sehr treu. Es geht jedes Wochenende dorthin. Seit Jahren schon. Es bewahrt den Geist des Teilens und gegenseitiger Freundlichkeit“, sagt er. „Es geht dabei auch um eine gewisse Körpersprache. Man spürt es, wenn man sich einem straighten Club befindet, weil die Leute dort eine andere Körpersprache haben. Ich habe im Berghain zum Beispiel viele Mädchen oben ohne tanzen gesehen – in einem vorwiegend heterosexuellen Club wäre das unvorstellbar. Die Schwulenkultur spielt daher auch eine wichtige Rolle dabei, sexuelle Freiheit zu entdecken. Wenn das Berghain seine schwule Klientel verlieren würde, wäre es bloß noch eine Großraumdisco.“

Aus den Worten von Leuten wie Schneider und Tillmans kann man ein Gefühl tiefer Verbundenheit mit dem Berghain heraushören – nicht etwa im Sinne von Ravern, die sich in der Ära der britischen Superclubs in den Neunzigerjahren Tattoos von Schuppen wie dem Cream oder Gatecrasher stechen ließen, sondern vielmehr als ein Gefühl persönlicher Anteilnahme an einem Projekt, dessen gesellschaftliche und künstlerische Vision sie ebenso zu schätzen wissen wie dessen musikalische Angebotspalette.

„Manche Leute würden sagen, dass das Berghain eine spirituelle Erfahrung darstellt“, sagt Sven von Thülen. „Natürlich finden sich auch Leute, die sagen, dass es nicht mehr dasselbe sei wie früher. Aber die gibt es überall. Für mich hat es immer noch seinen Zauber. Das letzte Mal, als ich dort war, war unglaublich. Die Intensität im Club … da tanzten nackte Männer und auch nackte Frauen. Darum geht es hier. Totale Freiheit. Und wenn du die Treppe hochgehst und auf den Dancefloor hinabblickst, siehst du, dass wirklich alle tanzen. Jeder bewegt sich auf seine eigene Weise, nicht nur mit dem Gesicht zum DJ. Jeder zieht sein eigenes Ding durch. Hier herrscht kein Konformismus. Das ist einfach unglaublich.“

„Die Clubs des neuen Party-Viertels haben Berlin in eine popkulturelle Wunschdestination verwandelt; eine Stadt, die einer großen Anzahl Menschen erfolgreich das Gefühl vermittelt, dass es immer noch Orte gibt, an denen Menschen ihre Freiheit nicht gegen Sicherheit eingetauscht haben und dass es auch einen anderen Weg gibt.“

Tobias Rapp, Lost and Sound

Das Berlin der 2010er-Jahre war nicht länger die Stadt der Mauer, der Einstürzenden Neubauten und anarchistischen Hausbesetzer, von Unruhen am 1. Mai und postpunkiger Sinnesumnachtung. Es war nicht länger die gesetzlose Spielwiese des Technos der frühen Neunzigerjahre. Inzwischen stand es im Ruf, das europäische Epizentrum junger Kreativer zu sein – und die kontinentale Party-Hauptstadt.

 

Der Grund dafür war teilweise wirtschaftlicher Natur: Berlin verwandelte sich nicht, wie jeder angenommen hatte, sofort nach dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung in ein finanzielles Kraftpaket. Obwohl vielerorts Sanierungsarbeiten durchgeführt wurden – etwa die Umgestaltung des Potsdamer Platzes und die Verbürgerlichung von Berlin-Mitte, die viele Clubs auf der Suche nach erschwinglichen Immobilien gen Osten verdrängte –, verlegte keines der größten deutschen Unternehmen seinen Firmensitz nach Berlin. Trotz zunehmender Gentrifizierung blieben die Mieten relativ niedrig, was einer Reihe von miteinander verzahnten kreativen Communitys erlaubte, nicht nur aufzublühen, sondern auch ihren Visionen treu zu bleiben.

„Leute machen jetzt auch nicht alles, um so viel Geld wie möglich zu verdienen. Sie haben Ideale und Werte, die für das, was sie machen, eine zentrale Rolle spielen. Sie wollen nichts machen, was kein Teil ihrer Kultur ist“, sagt Jan-Michael Kühn, ein Wissenschaftler, der seine Doktorarbeit über die Wirtschaft der Berliner Techno-Szene verfasst hat. (Natürlich verfolgte er unter dem Pseudonym Fresh Meat auch noch eine DJ-Karriere.) Kühn postulierte eine Theorie, der zufolge das Berliner Nachtleben über eine immanente Empfindung für seine Wertvorstellungen verfüge und Freiheit vor Profit ginge. Dies führte in der Praxis wiederum zur Entstehung autarker Mikroökonomien, die die involvierten Menschen zu erhalten vermochte. „Sie haben ihre eigenen kulturellen Erzeugnisse und ihre eigenen Methoden, sie zu verbreiten“, erklärt er. „Geld ist gleichbedeutend mit der Freiheit, ihr Leben und ihre künstlerischen Aktivitäten zu finanzieren.“

Sogar ein paar von jenen, die davon profitiert hatten, ein Teil der Szene zu sein, bestanden darauf, dass Freiheit immer noch wichtiger war als Geld – Ideale, die auf der alten Westberliner Gegenkultur zu fußen schienen. Steffen Hack (besser bekannt unter seinem Spitznamen Stoffel) mauserte sich zu einem der prominentesten nächtlichen Unternehmer, als er den Club Watergate an der Oberbaumbrücke in Kreuzberg öffnete, dessen riesige Fenster seinen tanzenden Gästen wunderbare Ausblicke über die Spree ermöglichten. Ursprünglich war er in den Achtzigerjahren im Alter von 17 nach Westberlin gekommen, um der Einberufung zur Bundeswehr zu entgehen. „Ich war ein Punk und Hausbesetzer und ein linker Politaktivist. Ich spielte Schlagzeug in einer Punkband namens Loose Nut, dem Titel eines Black-Flag-Songs. Das gefiel uns, weil wir alle Spinner waren“, sagt er. Viele der Strategien, die in der Berliner Techno-Szene zur Anwendung kamen, basierten auf den Erfahrungen der Mauer-Jahre, insistiert Hack: „Uns bot sich die Möglichkeit, zu leben, ohne stupide von morgens bis abends malochen und diesen ganzen überflüssigen Mist kaufen zu müssen. Wir lernten durch unsere Lebensweise, dass wir nicht viel Geld brauchten. Was wir brauchten, waren Ideen und Raum.“

2005 erklärte der Berliner Bürgermeister, dass Berlin zu einem „Mekka der kreativen Klasse“ werden würde. Wowereit war bekannt für seine kreativen Sprüche. So umschrieb er Berlin mit der Behauptung, es sei „arm, aber sexy“. In mancherlei Hinsicht wurde seine Ankündigung aber tatsächlich wahr, immerhin fanden viele Vertreter der europäischen „digitalen Bohème“ hier ein neues Zuhause. Sogar von „Silicon Allee“ war die Rede. So entstanden etwa Technologie-Firmen von Weltruf wie Native Instruments und Ableton, die bahnbrechende Musiksoftware für DJs und Produzenten entwickelten.

Native Instruments hat seinen Ursprung im Kreuzberger Wohnzimmer eines arbeitslosen Synthesizer-Spielers namens Stephan Schmitt, als er Mitte der Neunzigerjahre der Idee nachging, Computer in virtuelle Instrumente zu verwandeln. Zwei Jahrzehnte später war die Firma nach wie vor in Kreuzberg beheimatet, belegte nun jedoch 15 Stockwerke eines roten Ziegelstein-Komplexes, versteckt in einem Innenhof in der Schlesischen Straße. Statt einer Handvoll idealistischer Enthusiasten beschäftigte das Unternehmen mittlerweile über 300 Leute in Berlin, junge Programmierer, die in gläsernen Kabinen entlang strahlend weißer Korridore eifrig auf ihre Bildschirme starrten. Die Wurzeln der Firma waren jedoch immer noch erkennbar. An der Wand eines Konferenzraumes hing etwa ein Plakat für eine Clubnacht mit Carl Craig.

„Ende der Achtziger- und in den Neunzigerjahren war Techno mein Leben“, erinnert sich Mate Galić, der Chief Technical Officer von Native Instruments. „Die Musik besaß eine fortschrittliche Natur, vor allem damals. Es ging darum, den Sound monatlich, wöchentlich neu zu definieren. So begann ich, mich für Computer zu begeistern, und so endete ich schließlich bei Native Instruments.

Galić betätigte sich in der Szene der frühen Neunzigerjahre als DJ. So trat er etwa 1993 neben Größen wie Jeff Mills, Tanith und WestBam beim gewaltigen Mayday-Rave auf. Die damalige Kultur war dabei behilflich, Ideen dazu zu formen, was Musik bedeuten und wie sie klingen könne, versichert er.

Der Firmensitz Berlin erwies sich als immens wichtig für den Erfolg von Erzeugnissen aus dem Hause Native Instruments wie der DJ-Software Traktor oder dem Modular-Studio Reaktor, meint der Firmenchef Daniel Haver. „Berlin war eben jener Ort, wo elektronische Musik angesagt war und neue Sounds kreiert wurden, wo Leute innovativ sein wollten“, erklärt Haver. „Aufgrund seiner Clubkultur sprach Berlin viele sehr talentierte Leute an, die ein Teil dieser neuen Sache sein wollten. Wir profitierten enorm von dieser Bewegung – und wir sind beide ein Teil dieser Bewegung, da wir, Mate und ich, jahrelang auf dem Dancefloor zuhause waren, was toll war, weil wir so am Abend hören konnten, was wir tagsüber geschaffen hatten.“

Einen kurzen Spaziergang von den Native-Instruments-Büros entfernt wohnte in einem luftigen Dachgeschossapartment nahe dem Görlitzer Park Robert Henke, ein Computer-Künstler und Monolake-Produzent, der dabei half, die höchst erfolgreiche Software Ableton Live, die einem das Komponieren und die Wiedergabe elektronischer Musik erleichtert, zu entwickeln. Ableton, von Gerhard Behles, Henkes einstigem Partner bei Monolake und ehemaligem Native-Instruments-Angestellten, mitgegründet, erschuf eine Software als praktische Lösung für die Probleme, mit denen sich Techno-Produzenten, die billig Tracks aufnehmen und kein Studio buchen wollten, in den Neunzigern konfrontiert sahen.

„Ich erinnere mich an eine Reklame aus dieser Zeit – ein Foto von einem Studio mit einer großen, langen Konsole und teuren Lautsprechern – und am Rand des Pults lag ein Porsche-Schlüssel. Die Aussage dahinter war, dass dies nur was für ‚Superprofis‘ war. Das war sicher nichts, was irgendjemanden interessierte, der einen 808 benutzte, um elektronischen Punk in einem besetzten Haus zu machen“, sagt Henke. „Unsere Software-Idee beruhte darauf, dass wir etwas brauchten, mit dem wir raven konnten. Wir müssen schnell mit rhythmischem Kram arbeiten können. Das war es, was wir für uns selbst entwickelten. Uns war klar, dass früher oder später alle unsere Techno-Freunde so etwas benötigen würden. Nicht ganz so absehbar war der Umstand, dass auch viele Leute aus nicht-elektronischen Dance-Genres sich dafür begeistern würden.“

Doch nicht jedermann war sofort überzeugt. Henke erinnert sich daran, wie er die Software bei einer Handelsmesse um das Jahr 2000 herum in Los Angeles präsentierte. Im Rahmen dieser Veranstaltung erhielt er Besuch von einem Vertreter eines bedeutenden Technologie-Konzerns, der Abletons grafisches Interface belächelte und sich über dessen Potenzial mokierte: „Er sagte: ‚Junge ist das hässlich. Was ist das?‘ Ich erklärte ihm, dass man damit auf der Bühne Musik machen konnte. Er meinte darauf: ‚Ein Laptop auf der Bühne? Ihr Typen seid ja irre!‘ Dann zog er ab. Es war damals also so etwas wie ein urkomischer Gag.“

Henke ereilte außerdem ein sonderbares Phänomen: Da er zu den vorgefertigten Sounds der Software beitrug, konnte er, wenn er abends ausging, um Musik zu hören, oft sich selbst wiedererkennen, obwohl er die Tracks gar nicht produziert hatte. Mit Ableton Live wurde Monolake allgegenwärtig und Henke zum Geist in der Maschine.

„Zugegeben, das war schon eigenartig – als Mensch, der ständig hinterfragte, was er tat, wurde ich mitunter von sehr, sehr seltsamen Emotionen heimgesucht“, sagt er. „Ich dachte immer, dass ich lieber fantastische Platten machen sollte, die die Welt verändern, statt für andere Leute Tools zu schaffen. Ich gelangte zu dem Schluss, dass ich beides tun müsse. Ich sollte mich darüber freuen, dass das, was ich geschaffen habe, die Welt verändert hat. Ohne mich gäbe es kein Skrillex! Ich übertreibe, aber in gewisser Hinsicht entspricht es komischerweise der Wahrheit.“

„Die Zukunft gehört jenen, die sie kommen hören können.“

Zeitungsannonce für David Bowies ,Heroes‘, 1977

„Detroit-Techno erschien kurz nach dem Mauerfall auf der Bildfläche und bot uns eine neue Richtung“, erzählte der Gründer des Tresors, Dimitri Hegemann, in seiner Rede im Museum of Contemporary Art während des Movement-Festivals an einem Wochenende im Mai 2014. Er nutzte die Gelegenheit, um sich vor seinen amerikanischen Helden zu verneigen. „Diese Musik hat Berlin in vielerlei Hinsicht beeinflusst“, fuhr er fort. „Es war die richtige Zeit, der richtige Augenblick und es war der Beginn von Veränderungen für die Stadt Berlin … Jetzt ist es an der Zeit, dass wir etwas zurückgeben.“

Hegemann sprach bei einer Veranstaltung der Detroit-Berlin-Connection, einer Organisation, die gegründet wurde, um kreative Verbindungen zu pflegen, in der Hoffnung, die kulturellen Strategien aus der Zeit nach dem Mauerfall dafür zu nutzen, der Motor City wieder Leben einzuhauchen.

„Detroit verfügt über diese Magie“, erklärt er mir ein paar Monate später, als wir uns beide wieder in Berlin aufhalten. „Ich reiste wegen der Musik dorthin, aber ich verliebte mich in die Stadt. Sie leidet unter einer Reihe von Problemen, aber nun hat sie eine neue Energie. Ich erkenne die Hoffnung dort, ich sehe Möglichkeiten. Für Berlin spielte es eine wichtige Rolle, dass es genug Platz gab. Das trifft auch auf Detroit zu. Und es ist erschwinglich. Außerdem hat Detroit eine unglaubliche musikalische Tradition: Motown, MC 5, Iggy Pop, Detroit-Techno.“

Hegemann, den man nicht dafür kennt, seine Träume einzuschränken, hatte die Vision, eine der größten stillgelegten Detroiter Autofabriken in einen kulturellen Knotenpunkt zu verwandeln. Fünf Jahre zuvor hatte er in Peking etwas Ähnliches versucht und war gescheitert. Nichtsdestotrotz strotzte er angesichts der Möglichkeiten immer noch vor Optimismus.

Konventionelle Modelle kapitalistischer urbaner Wiedererschließung – die Errichtung feudaler Einkaufszentren, Geschäftsviertel und Luxusapartments – konnten Berlin nicht wiederbeleben, argumentiert Hegemann. Vielmehr war es die Popkultur – Techno und die kreativen Köpfe, die Techno anzog –, die die Stadt transformierte. „Berlin veränderte sich, weil Menschen die Stadt veränderten. Es lag an Orten wie dem Tresor und dem Berghain, weshalb Menschen nach Berlin kamen – und nicht an Einkaufszentren, wo man sich eine Rolex kaufen konnte. So etwas lockt niemanden an. Wir hatten diese magische Ingredienz des neuen Denkens – subkulturelles Denken.“

Richie Hawtin, der seine frühen Partys in der verfallenen Packard-Fabrik in Detroit veranstaltete und später nach Berlin umzog, zeigte sich ebenfalls optimistisch: „Was man in den letzten 20 Jahren oder so in Berlin erlebt, seit dem Fall der Mauer, ist eine unglaubliche Wiederauferstehung der Kreativität, die auch das wirtschaftliche Wachstum der Stadt ankurbelte. Ich glaube, dass das auch zur Rettung und Wiederbelebung Detroits beitragen kann“, sagte er.

Doch obwohl Detroit leere Immobilien im Überfluss zu bieten hatte, zeigten sich die Behörden wenig angetan von nächtlichen Ausschweifungen. Die Motor City war keine Metropole, die niemals schlief. Sie litt unter Armut und de facto auch unter Rassentrennung und einem Versagen der Obrigkeit. Die Vorschriften zur Konzessionserteilung waren viel strenger und EasyJet flog am Wochenende auch keine Raver zu Besäufnissen ein. Abseits des Movement-Festivals zogen Techno-Partys in Detroit höchstens ein paar hundert Leute an. Sollte Detroit tatsächlich maßgeblich zur der Erschaffung eines neuen Berlins beigetragen haben, würde es viel schwerer werden, dies umgekehrt zu bewerkstelligen, weil es sich hier um die USA und nicht Deutschland handelte, wie Alan Oldham warnte. „Die Ähnlichkeiten sind meiner Meinung nach ausschließlich oberflächlich – desolate Städte mit unterschiedlichem Werdegang“, sagt Oldham. „Viele Leute glauben, dass Detroit das nächste Berlin sein könnte, weil viele junge Leute dorthin ziehen, um ihr Ding durchzuziehen, da die Lebenskosten und Mieten so niedrig sind. Doch leider umgibt Detroit ein mentales Kraftfeld – immerhin liegt es in Amerika, daher halten sich die Ähnlichkeiten mit Berlin in Grenzen.“

 

Als würde er seinen Standpunkt bezüglich der jeweils unterschiedlichen sozialen Welten unterstreichen wollen, lud Oldham mich zu seinem Gig in einem Club in einem ehemaligen Industriegebäudekomplex in der Revaler Straße ein, einer ehemaligen Waggonfabrik, die mittlerweile zu einer Hipster-Spielwiese umfunktioniert wurde. Bei Tageslicht wirkte die Revaler Straße, als ob die Freaks den Planeten übernommen hätten – zumindest vorübergehend. Ein New-Orleans-Jazz-Trio zog umher, blies in seine Instrumente und schnorrte Kippen, während ein paar abgefuckte Punks mit leuchtenden Iros Lagerbier tranken und vor dem Suicide Circus Kleingeld nassauerten. Es gab Boutiquen für Möbel im Shabby-Chic-Look, Pop-up-Restaurants, einen organischen Lebensmittelmarkt, ein Martial-Arts-Studio sowie zerlumpte Touristen mit Dreadlocks und Rucksäcken, die bei ihrem Streifzug die von Drogen und Raves inspirierten Graffiti fotografierten: grinsende Totenschädel, schmelzende Visagen, Aliens in Technicolour und Monster wie auf einem schlechten Trip. Außerdem konnte man Poster bestaunen, die zum Aufstand gegen Überwachung und Kontrolle aufriefen.

Nachts brachten dunklere Energien den verworrenen Komplex zum Pulsieren. Ein Suchlicht schweifte über die Spree, hinweg über verfallende Lagerhallen und schwach beleuchtete Fußwege. Drogendealer aus vieler Herren Länder murmelten einem aus den Schatten heraus ihre Verkaufsargumente entgegen.

„Join in the music, the music of drums!“, intonierte eine Stimme mit vertrauter Bedrohlichkeit aus den hoch aufragenden Lautsprechertürmen, während Arme aus der moderigen Finsternis zur hohen Betondecke des bunkerhaften Schuppens ragten, in dem Oldham auftrat. Während Nitzer Ebbs Schlagbohrer-Beats dahinratterten, wirbelte und tänzelte eine über einen Meter achtzig große deutsche Blondine in ihrem Op-Art-Kleid über den Floor, ihre Augen im Delirium fest geschlossen. Zwei junge Polinnen, die Haare pink gefärbt, zogen ihre schwarz gekleideten Freunde in den akustischen Vortex einer feuchten Kammer. Drei lächelnde junge Türken labten sich rasch und verstohlen an einer Tüte weißen Pulvers, das sie brüderlich teilten. Nur kurz verzogen sie die Gesichter, bevor sie sich wieder ins rhythmische Getümmel stürzten, das Oldham in Form eines seiner eigenen T-1000-Tracks, „Loop and Destroy“, zu servieren verstand.

Doch an Orten wie der Revaler Straße spürte man stets, dass solche Orte nur temporärer Natur sind und jederzeit im Zuge diverser Neugestaltungspläne plattgemacht werden können. Eben so, wie das schon beim alten Tresor und dem E-Werk der Fall gewesen war. Als die jungen Hipster nach Berlin strömten, profitierten die Vermieter, in dem sie die Preise in die Höhe trieben, während gleichzeitig die Arbeitslosigkeit hoch blieb. Auch stellte sich die Frage, ob die Zuwanderung von Lifestyle-Bohemiens mit ihren organischen Lebensmittelmärkten, Bikram-Yoga-Studios und Handwerksbäckereien viel zur Bereicherung der Ortsansässigen beitrugen, wenn sie nicht gerade über eine Beherbergungs-Website ihre Wohnungen an ravende Wochenendgäste vermieteten. Denn eines hatte sich seit den Anfangstagen der Rave-Kultur mit Sicherheit geändert – in New York oder London sogar noch stärker als in Berlin: Die Clubs wurden nun nicht nur durch missbilligende Beamte und die Polizei bedroht, sondern durch die desinfizierenden Kräfte der Gentrifizierung.

Einige Kilometer entfernt, quer durch die Stadt hindurch, steuert Billie Ray Martin, eingehüllt in wehende Schals gegen die herbstliche Kälte, ihr Fahrrad an einem knackig-frischen Nachmittag durch frisches Schöneberger Laubwerk. Sie hält kurz vor einem unscheinbaren Altbau-Wohnhaus in der Hauptstraße, um auf ein Fenster im ersten Stock zu zeigen. Nummer 155. „Das ist die Wohnung, in der David Bowie und Iggy Pop gewohnt haben, als sie in Berlin lebten“, erklärt sie mir. Sie deutet auf ein unauffälliges Café gegenüber namens Anderes Ufer. An der Wand hängt ein Foto von Bowie. „In diesem Café haben sie gerne gefrühstückt. Damals war es das einzige offen schwule Café in der Stadt.“ Noch mehr Geschichte: Als Bowie und Iggy hier in den Siebzigerjahren an ,Heroes‘ und The Idiot arbeiteten, trugen sie maßgeblich zu Berlins großstädtischem Mythos bei, ein Hort abseitiger Kreativität zu sein – ein Image, dass auch noch Jahre später, lange nach dem Fall der Mauer, seine Wirkung zu entfalten vermochte. Nach Bowies Tod 2016 verwandelte sich der Bürgersteig vor der Hauptstraße 155 zu einem improvisierten Schrein.

Billie Ray Martins kräftige wie eigenwillige Stimme hat seit ihren Tagen als Sängerin der Band Electribe 101 so manche elektronische Hymne veredelt, darunter auch meine eigene, das Ende der Nacht einläutende, himmelhochjauchzende Lieblingsnummer aus alten Haçienda-Zeiten, „Talking with Myself“. Die geborene Hamburgerin gehörte zu jenen kulturellen Outsidern, die mit Cabaret Voltaire und Throbbing Gristle aufgewachsen waren, sich von den befreienden Möglichkeiten elektronischer Musik inspirieren ließen und schließlich irgendwie, irgendwann in Berlin landeten. Allerdings erklärt sie mir, dass sie die deutsche Hauptstadt eigentlich gar nicht sonderlich mag, aber von London hierherzog, weil es schlichtweg billiger war. „Ich verdiene kein Geld. Ich mache kein Geld mit Verkäufen. Ich mache kein Geld mit Gigs“, erklärt sie. „Das Aufkommen von Streaming-Seiten war für mich der letzte Sargnagel. Es ist schrecklich, es ist lächerlich – und es gibt nichts, was man daran ändern könnte.“

Trotz ihrer ambivalenten Haltung gegenüber ihrem Wohnsitz, schien Berlin ihre Arbeit doch auch mitgeprägt zu haben. Am Tag vor unserem Treffen hatte sie noch einen Protestsong über Gentrifizierung aufgenommen, der den Titel „Soul Defender“ trägt. „Darin geht es darum, durch den ganzen Prozess übers Ohr gehauen zu werden und wie man sich dagegen zur Wehr setzen kann“, sagte Billie Ray. „Es hat einen Hauch von ‚We Shall Rise‘ an sich. Ich bin sehr inspiriert von Dingen wie Occupy und ähnlichen friedfertigen Protesten. Gentrifizierung ist definitiv etwas, das sich in diesem Viertel bemerkbar macht. Gerade erst haben sie die wunderschönen, alten Bäume gefällt, damit sie hier ein Haus bauen können, das weder du noch ich sich werden leisten können.“

Ihre Single „Off the Rails“, aufgenommen mit einer weiteren in Berlin ansässigen Künstlerin, der Venezolanerin Aérea Negrot, ist auch als Schlachtruf für großstädtische Outsider zu verstehen. „Es geht zwar um Grace Jones, aber es ist auch eine Freak-Hymne für all jene, die anders sind, um ihnen zu zeigen, dass es immer noch Platz gibt, um anders zu sein“, sagt Billie Ray. „Die Leute, die durch Gentrifizierung in die Obskurität gedrängt werden, so wie in New York, all die Freaks, die aus Manhattan hinausgeekelt wurden.“ Oder vielleicht auch aus Schöneberg.

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