Rave On

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Doch das, was ich 1992 für eine enorme Versammlung der deutschen Techno-Clans hielt, verblasste angesichts dessen, was noch kommen sollte. Die Loveparade wurde jeden Sommer größer. 1995 nahmen bereits 280.000 Menschen daran teil – viel zu viele für den Ku’damm! So ging es im Folgejahr über die Straße des 17. Juni, die vom Brandenburger Tor durch das üppige Grün des Tiergartens und vorbei an der Siegessäule mitsamt ihrer güldenen, geflügelten Statue an der Spitze führt. Dies war dieselbe Straße, auf der einst die Nazis ihre Paraden abgehalten hatten. Nun war daraus ein Ort kollektiver Ausgelassenheit geworden. „Die Loveparade ermöglichte es, Millionen Menschen auf einer solchen Straße Spaß zu haben und dabei nicht an Hitler zu denken. Es veränderte wirklich die Sicht auf Deutschland und die Deutschen“, sagt von Thülen.13

1997 schlossen sich laut einer Schätzung der Organisatoren bereits eine satte Million Menschen den Festivitäten an. Auch die weltweiten Medien begannen, sich für die jährliche Ausschweifung zu interessieren, und lieferten farbenfrohe Bilder von fotogenen Girls in fluoreszierenden Büstenhaltern, die sich mit Wasserpistolen austobten, und Jungs mit entblößten Oberkörpern, die ekstatisch winkten und schrien, während sie hoch über der tanzwütigen Meute von Laternenmasten hingen und Laser zu epischen Trance-Tracks kreuz und quer über die Siegessäule jagten.

Aber gleichzeitig setzte bei einigen Loveparade-Teilnehmern der ersten Stunde auch Ernüchterung ein. Bei ihnen handelte es sich um die Veteranen des Postpunk-Undergrounds der Achtzigerjahre, die mit all dem musikalischen Kommerz, der allgegenwärtigen Werbung, den flachen Loveparade-Hymnen, die jedes Jahr auf WestBams Label Low Spirit erschienen, und der Vorstellung, das ihr subkulturelles Happening sich in eine Touristenattraktion € 50,– Oktoberfests verwandelt hatte, herzlich wenig anfangen konnten. „Die Loveparade hat wortwörtlich ihre Seele verkauft“, verkündete der Frankfurter Sven Väth, einst einer der schrillsten Teilnehmer der Parade, bereits 2001.14

Ab 1996 erhielt Mottes jährliche Kundgebung ihre eigene Gegendemonstration in Form einer konkurrierenden Protestveranstaltung, die von Techno-Anarchisten initiiert wurde, die der Ansicht waren, dass die Loveparade zu einer aufgedunsenen Scharade verkommen sei. Der ursprünglich Hate Parade titulierte, schließlich aber im Jahr darauf schon in Fuck Parade umbenannte Event entwickelte sich zu einem jährlichen Marsch gegen Gentrifizierung und Kommerzialisierung sowie für einen störrischen, unwirschen Techno.

„Die Loveparade beanspruchte für sich, politisch zu sein, doch ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘ ist nicht unbedingt eine politische Aussage“, sagt Thomas Rupp, einer der Organisatoren der Fuck Parade. „Bei der Loveparade ging es nur um Sponsoren und Geld. Die Organisatoren der Loveparade behaupteten immer, sie würden die Subkultur unterstützen, was aber nicht der Fall war. Deshalb traten wir dagegen an. Underground gegen Mainstream.“15

Die Loveparade erreichte ihren Höhepunkt rund um die Jahrtausendwende und wurde daraufhin langsam, aber kontinuierlich kleiner. Als die Berliner Behörden schließlich entschieden, die Parade nicht länger als politische Demonstration einzustufen, und weil die Organisatoren sich weder das Polizeiaufgebot noch die Aufräumungsarbeiten leisten konnten, entfiel die Veranstaltung sowohl 2004 als auch 2005.

Schließlich wurde beschlossen, die Namensrechte an der Loveparade an den Tycoon Rainer Schaller, den geschäftsführenden Gesellschafter von McFit zu verkaufen, einer nach dem Discounter-Prinzip agierenden Kette von Fitnesszentren. Er stellte das Geld zur Verfügung, damit die Loveparade 2006 auf die Straße des 17. Juni zurückkehren konnte. Dr. Motte war außer sich und beschloss, jenem Event, den er so viele Jahre zuvor in der noch geteilten Stadt in einer ekstatischen Nacht ersonnen hatte, den Rücken zu kehren.

„Das ist die Frage, die sich mir stellt: Wenn du diese Kultur und ein damit verbundenes Happening hast, gehört dieses Happening dann der Kultur – oder in private Hand?“, fragte Motte. „Ich dachte, die Veranstaltung sollte für immer ein nicht an Profit orientiertes Unterfangen bleiben, da die Kultur eben allen gehört. Man kann eine Marke verkaufen, aber doch nicht eine Einstellung.“

Die Loveparade 2006 sollte die letzte sein, die in Berlin stattfand. Im darauffolgenden Jahr beschloss Schaller, den Event in den Ruhrpott zu verlegen. Motte war verzweifelt: „Die Politiker wollten das Image einer jungen, kreativen Stadt und wir lieferten ihnen dies“, sagt er. „Aber dann würgten sie jenen Event ab, der als weltweite Werbung für Berlin fungierte und der Stadt jedes Jahr so viel Geld eingebracht hat.“16

Nach erfolgreichen Veranstaltungen 2007 in Essen und 2008 in Dortmund sollte die Loveparade 2009 in Bochum ausgetragen werden, wurde jedoch abgesagt, da die lokalen Behörden befürchteten, nicht in der Lage zu sein, einen Event mit so vielen Ravern sicher durchzuführen. Im Juli 2010 sollte die Parade dann in der grimmigen Stahl- und Kohlestadt Duisburg stattfinden. Die Veranstaltung wirkte schon vorab wie eine Parodie ihrer selbst. Schließlich sollte keine Parade durch die Stadt führen, es sollte kein öffentlicher Raum symbolisch zurückerobert werden und die Festwagen sollten ausschließlich vor dem Rave über das Veranstaltungsgelände, einen ehemaligen Güterbahnhof, gondeln.

Der Bürgermeister der Stadt zeigte sich angesichts der bevorstehenden Einnahmen begeistert und verkündete vollmundig, dass er ungefähr 1,4 Millionen Raver erwarte, obwohl das Gelände nur circa 250.000 Menschen fasste. Doch die Vorausplanung der Organisatoren und lokalen Behörden erwies sich als absolut unzureichend. Sobald die Festwagen sich in Bewegung gesetzt hatten, kam es zu einem massiven Gedränge beim Zugangstunnel zum Festgelände. Eine Massenpanik brach aus und die Raver trampelten sich bei ihren verzweifelten Fluchtversuchen gegenseitig zu Tode. 21 Menschen kamen ums Leben und mehr als 500 wurden verletzt.

Der Spiegel berichtete, dass die Tragödie einer Vielzahl von Fehlern seitens der Stadt, der Polizei und der Veranstalter geschuldet wäre. Sie hatten Sicherheitswarnungen ignoriert, darauf verzichtet, Fluchtwege einzurichten, und ließen mehr als doppelt so viele Menschen ein, wie man es ihnen genehmigt hatte.17

Ein Polizeigewerkschaftsführer behauptete, dass man die Toten materiellen Interessen geopfert hätte, während Motte den Veranstaltern gefährliche Fahrlässigkeit unterstellte: „Als wir die Loveparade in Berlin veranstalteten, stand zuerst Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit an erster Stelle. Dann erst kam die Musik. Ihre Priorität war hingegen Profit.“

Direkt im Anschluss verkündete McFit-Boss Schaller das Ende der Party. Für immer: „Aus Respekt vor den Opfern wird die Loveparade nie wieder stattfinden.“18

„Record Art ist minimal music, sie ist unpopulär und unkommerziell.“

WestBam, „What is Record Art?“, 1984

Nach der Jahrtausendwende vollzog sich ein erneuter Wandel in der Landschaft der Berliner Clubkultur, da sich ihr Schwerpunkt immer mehr gen Osten verschob, nachdem viele der ursprünglichen Techno-Treffpunkte im zentral gelegenen Stadtteil Mitte neuen Bauprojekten weichen mussten. Der Bunker musste nach einer Polizeirazzia 1996 seine Pforten schließen und das E-Werk ein Jahr darauf das Handtuch werfen. Der Tresor harrte hingegen noch bis 2005 in Mitte aus, brach dann jedoch seine Zelte ab und übersiedelte ebenfalls in den Osten, in ein riesiges ehemaliges Heizwerk nahe der Spree. Dimitri Hegemann hatte gehofft, die ursprüngliche Location in der Leipziger Straße zu einem multifunktionalen Tresor Tower ausbauen zu können, doch stattdessen zog eine Versicherungsfirma ein. Er nahm ein paar der rostigen alten Bankfächer mit und installierte sie in der neuen Heimstatt seines Clubs, um ein wenig des alten Feelings zu erhalten.

In den Neunzigerjahren hatten die Clubs stets nur vorübergehend existiert, in Locations, die nie zu etablierten Unterhaltungstempeln ausgebaut werden sollten – und natürlich lag ein Teil ihres Charmes auch genau darin. Aber nun war die Zeit für Veränderungen angebrochen. „Nach dieser ganzen Hysterie und diesem enormen Energierausch war das einfach notwendig“, meint etwa Sven von Thülen. „Dann machte die Szene weiter und wurde sogar noch stärker.“

Außerdem war die Zeit reif für neue Sounds, Vibes und neue Clubs, um die Szene voranzubringen. Auch brach die Ära neuer Star-DJs an, die eine neue Form von Techno spielten: repetitiv, sanft drängend, endlos geloopt. Es war der Sound einer Szene, die zu ihren Wurzeln zurückkehrte. Minimal eben. Der Name leitete sich wahrscheinlich von Robert Hoods Klassiker Minimal Nation ab, auf dem er versuchte, sämtliche irrelevanten Einflüsse zu subtrahieren, um den intensivierten Fokus auf das Wesentliche zu richten. Hood hätte nie gedacht, dass seine Arbeit einen solchen Einfluss haben würde: „Mir war ja nicht klar, dass es die Leute so stark beeinflussen und ein Eigenleben entwickeln würde“, sagt er. „Es ist, als ob man einen Roboter programmiert hätte, der dann aber selbst zu denken, zu empfinden, sich zu bewegen und zu erschaffen beginnt.“

Die Minimal-Techno-Tracks, veröffentlicht auf Labels wie Perlon, Kompakt und Richie Hawtins Plattenfirma M.Nus, wurden zum Soundtrack der Mitt-2000er Afterparty-Ära, als Clubnächte ein Aufwärmprogramm für die darauf folgenden Sonntage zu sein schienen: für jene Stunden, in denen die Zeit ihre Bedeutung verlor und die Realität sich in alle möglichen unvorhersehbaren Formen verzerrte, wenn die ausgeflippten Schicken und die elegant Angeheiterten bis zum Montagmorgen in für ihre Zügellosigkeit berüchtigten Spelunken wie der Bar 25 an den Ufern der Spree durchfeierten.

Aber Mitte der 2000er-Jahre entstand auch ein weiteres neues Phänomen, das sich als stetig wachsender Einfluss auf die Berliner Szene herausstellen sollte – der enorme Zulauf von Techno-Touristen, die mit Billig-Airlines zu Rave-Missionen übers Wochenende einflogen. Am Flughafen Tegel war die Ankunftshalle mit jungen Clubbern in hautengen Jeans überflutet. Ihre Shirts zeigten die Logos diverser Techno-Labels, während sie ihre Koffer zu den auf sie wartenden Bussen zogen und schon von den kommenden Nächten träumten.

 

Der Berlin-Tourismus boomte in den 2000ern. Die Anzahl der Übernachtungen stieg von 2004 bis 2013 von 13 Millionen auf satte 27 Millionen. Musik spielte eine Schlüsselrolle dabei, da sie Berlins Image neu definierte und laut Tobias Maul, einem Beamten der städtischen Tourismusbehörde VisitBerlin, als „essenzieller Geschäftsantrieb für die Stadt“ fungierte. „Vor allem die Techno-Szene spielte eine sehr wichtige Rolle. Man könnte sagen, dass sie ein Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt ist“, erklärte mir Maul, womit er bestätigte, wie ernst die städtischen Behörden das Nachtleben als Einnahmequelle nahmen.

Tobias Rapp, ein alter Raver, der es bis zum Kulturredakteur beim Spiegel gebracht hatte, veröffentlichte ein Buch zum Thema der niemals schlafenden Clubbing-Szene der Minimal-Ära mit dem Titel Lost and Sound, in dem er die Techno-Touristen als „Easyjetset“ bezeichnete. Nachdem er immer mehr fremde Akzente wahrnahm, als er in den Warteschlangen vor Clubs wie dem Berghain stand, realisierte Rapp, dass die Billig-Fluglinien die kulturelle Landschaft der Stadt veränderten. Während Europa immer vernetzter wurde, hatte sich Berlins „Club-Meile“ in eine nächtliche Schengenzone verwandelt. Die Rave-Szene hatte schon lange als Verfechterin transnationaler Kommunikation gegolten, doch der Impuls wurde vor allem durch die Lockerung der Reglementierung des Luftverkehrs gestärkt, der zu einem enormen Routen-Zuwachs und einem gleichzeitigen Preisverfall führte. In seinem Buch spricht er von der Bildung neuer öffentlicher Netzwerke, die nicht an nationale Rahmenbedingungen gebunden sind.19

Doch Rapp weist darauf hin, dass er das Ausmaß der ganzen Sache sogar unterschätzt hatte, als er Lost and Sound Mitte der 2000er verfasste. „Es wirkte damals sehr groß, aber alles befand sich noch in der Anfangsphase“, erklärt er. „Für einen Deutschen war es einigermaßen schwer begreiflich, dass eine deutsche Stadt für so viele Gäste aus der ganzen Welt so attraktiv sein konnte. Aber es explodierte auf eine Weise, die niemand hätte voraussehen können. Daraus ergab sich die seltsame Situation, in der sich eine Großstadt, Berlin, in eine Metropole von Weltrang verwandelte – und zwar nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus kulturellen Gründen. Städte wie Paris oder New York wurden zu Weltstädten aufgrund von Handel, Finanzen oder Industrie. Berlin kann das nicht vorweisen – es hat nur die Kultur.“

EasyJet-Raver konnten Clubs wie kurzfristige Aufenthaltsorte auf der Durchreise erscheinen lassen – nicht unbedingt wie Flughafenlounge-Discos, aber eben auch nicht wie kohäsive Szenen, in denen sich Leute Woche für Woche treffen und so ein kollektives Gefühl der Sinnhaftigkeit erzeugen. Die EasyJet-Raver trafen einfach nur ein, feierten das Wochenende durch und reisten am Montag wieder ab, ohne dabei wirklich eine aktive Rolle beim Aufbau der Kultur zu übernehmen.

„Mitunter ist diesen Touristen einfach alles scheißegal. Die wollen sich nur abschießen. So nach dem Motto: Lassen wir es krachen in Berlin, dröhnen wir uns zu“, sagt von Thülen. „Natürlich kommen auch viele Leute, die wissen, was es mit Berlin auf sich hat, aber anderen ist alles schnurz. Die wollen das, was Berlin darstellt, bloß konsumieren, aber nichts zurückgeben. Es ist ganz klar ein Wirtschaftszweig, von dem eine Menge Leute leben, aber auf lange Sicht reitet er die Stadt in die Scheiße. So verwandelt sie sich in einen Themenpark.“

Aber manche blieben und gaben tatsächlich auch etwas zurück und trugen mit ihrer Musik dazu bei, Berlins urbanen Mythos zu erweitern. Den Pionieren aus Detroit folgten nun DJ-Produzenten wie Richie Hawtin, Ricardo Villalobos, Miss Kittin (Caroline Hervé), Alan Oldham, Daniel Wang und Ewan Pearson. Für sie war Berlin nicht nur ein billiges und praktisches Reiseziel, von wo aus sie zu Gigs in ganz Europa weiterreisen konnten, sie tankten auch unendlich viel Inspiration. „Diese Stadt gibt es nur einmal auf der Welt – sie ist nicht vergleichbar mit New York, London oder Paris. Nur Berlin ist auf so viele Arten lebendig“, behauptet Hawtin. Für den in Chile geborenen DJ Villalobos war die Stadt Mitte der Nullerjahre gar ein Freestyle-Techno-Salon, ein kreatives Treibhaus, in dem Ideen und Beats ausgetauscht sowie Erfahrungen geteilt wurden. „Es ist einfach unglaublich, weil wir zusammen mit den anderen Künstlern Partys feiern und Künstler die Studios anderer Künstler besuchen können. In dieser Hinsicht ist es eine sehr fruchtbare Geschichte.“20

Villalobos kam in Santiago de Chile zur Welt, doch seine Familie flüchtete nach Deutschland, als er drei Jahre alt war, um Augusto Pinochets Militärjunta zu entkommen, die sich 1973 an die Macht geputscht hatte. In den Nullerjahren avancierte er zum Fürsten der Afterpartys, einem liederlichen Hohepriester des Minimal-Sounds. Seine epischen Sets bei Partys in den Bars entlang der Spree standen umgehend im Ruf, legendär zu sein. Er bewegte sich auf ebenso charakteristische wie seltsam schwankende Weise fort und legte mit einem Feeling für unkonventionelle Rhythmen und Texturen auf, was ihn zum charismatischen Aushängeschild jener Technoheads machte, die Rapp als „72-Hour-Party-People“ bezeichnete. Außerdem war Villalobos ein wahrhaft visionärer Produzent und Urheber von Fizheuer Zieheuer, einem unheimlichen 37-minütigen Minimal-Meisterwerk, das rund um Samples einer Blaskapelle vom Balkan aufgebaut war, sowie Enfants, das aus einem Versatzstück eines Kinderchors konstruiert war, der Magmas Mëkanïk Dëstruktïw’ Kömmandöh sang, ein außergewöhnlich progressives Rock-Epos aus dem Jahr 1973.

Leute wie Villalobos und Hawtin lieferten frische Einflüsse und trugen dazu bei, andere zu inspirieren, nach Berlin zu ziehen und noch mehr Vitalität mitzubringen. Dadurch veränderten sie das Image der Stadt dahingehend, dass die ominöse, von einer Mauer zerschnittene Stadt des Kalten Krieges nun nicht mehr nur als hedonistisches Schlaraffenland, sondern auch als kreative Hochburg angesehen wurde.

„Die Szene spielte eine maßgebliche Rolle dabei, das kulturelle Leben in Berlin weiterzuentwickeln und neu zu erfinden“, sagt Thomas Fehlmann, obwohl er einräumt, dass er es seinerzeit nicht ganz realisiert hatte. „Wenn man sich mittendrin befindet, begreift man nicht wirklich, dass man etwas erfindet. Was das alles bedeutet, findet man erst später heraus.“

„Es geht nicht um delikate, exklusive Schönheit, ironischen Witz oder sentimentale Nostalgie. Es geht um den menschlichen Körper, den gegenwärtigen Augenblick – Ausdauer, Glücksgefühle, fortwährende Bewegung.“

Daniel Wang über das Berghain, 2004

Als es 2004 eröffnete, schien das Berghain mit seiner Panoramabar, der Tanzfläche und dem Lab.Oratory, einem nur Männern zugänglichen Sexclub im Untergeschoss des Gebäudes, die nächtlichen Obsessionen, die die Stadt seit den Achtzigerjahren pflegte, noch weiter auf die Spitze zu treiben: rigoroser Techno, umgedeutete Industrieflächen, exzentrischer Avantgardismus, sexuelle Freizügigkeit und hedonistische Hemmungslosigkeit. „Der beste Club der Welt“ ist ein höchst subjektiver Ritterschlag – eine Bezeichnung, die im Verlaufe der Jahrzehnte auch schon Locations wie die Paradise Garage in New York, Amnesia auf Ibiza, das Haçienda in Manchester und so vielen anderen zugesprochen wurde. Aber für Technoheads einer bestimmten Generation ist es nun einmal das Berghain.

„Es ist deshalb der beste Club der Welt, weil man hier eine Vielzahl von Erfahrungen gleichzeitig machen kann“, sagt Marea Stamper, eine amerikanische DJane, die man besser unter ihrem Pseudonym The Black Madonna kennt. „Im Berghain findet man diese unfassbare, enorme, kühle, mechanische Techno-Maschine. Dann geht man die Treppen hoch in die Panoramabar und findet sich in einem strahlenden, warmen, bezaubernden menschlichen Freudenfest wieder. Dann gibt es da noch das Lab, einen verschwitzten, hypersexuellen Ort. Für mich sind es diese drei Welten, die die Dance-Music, so wie wir sie kennen, hervorgebracht haben – und dass sie hier alle gleichzeitig stattfinden und die Leute sich zwischen ihnen hin- und herbewegen können, ist einfach einzigartig und besonders.“

Die Wurzeln des Clubs lassen sich weit in die Subkultur zurückverfolgen, die sich nach dem Mauerfall 1989 gebildet hat. Die Besitzer Michael Teufele und Norbert Thormann organisierten ihre ersten Snax-Sexpartys in den Neunzigerjahren im Bunker, einem verlassenen Bombenschutzkeller aus dem Zweiten Weltkrieg, den Raver 1992 als kompromisslosen Außenposten für spezielle Vorlieben wie Acid-Techno, Gabba und Sadomaso-Partys erschlossen hatten, bis er 1996 gezwungenermaßen geschlossen wurde.

Zwei Jahre darauf gründeten Teufele und Thormann in einem alten Friedrichshainer Bahnhofsdepot das Ostgut. Friedrichshain galt damals als eher trostlos-desolate Ecke des einstigen Ostberlins. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als die Kräfte des Aufschwungs, die das Nachtleben nach dem Mauerfall beflügelt hatten, wieder zu verebben schienen, erklärt Thilo Schneider, der Event-Rezensent der deutschen Electronic-Music-Zeitschrift Groove, der Stammgast im Ostgut war. Die Loveparade war vom Kommerz assimiliert und kulturell entwertet worden, E-Werk und Bunker waren Geschichte, der Tresor war zu einer Art Institution aufgestiegen und Techno als kreatives Phänomen schien, wenn man dem vorherrschenden Grundtenor Glauben schenken wollte, am Ende zu sein. Die Revolution war vorüber. Oder etwa nicht?

„Die Neunzigerjahre neigten sich ihrem Ende zu und Techno war aus der Mode gekommen, aber im Ostgut warfen die Leute immer noch Ecstasy ein und amüsierten sich prächtig. Die Partys dauerten immer noch bis zum nächsten Nachmittag“, erinnert sich Schneider. „Es war ein gut gehütetes Geheimnis und kein Magazin schrieb darüber. Vielmehr handelte es sich um einen ganz besonderen Ort, speziell für die Leute, die ihn frequentierten – und niemanden sonst. Wir wollten ihn geheim halten, da etwas Neues, sobald es zu bekannt wird, seinen Spirit einbüßt. Wegen des Internets ginge das heute nicht mehr.“

Ostgut schloss schließlich 2003 für immer und das Gebäude wurde im Rahmen der Bauarbeiten für die riesige O2-Mehrzweckarena abgerissen. Doch Teufele und Thormann gelang es, sich ein gewagtes Ersatzobjekt zu sichern, ein altes, nahe dem Ostbahnhof gelegenes Heizkraftwerk, dessen Betrieb in den finalen Jahren der DDR eingestellt worden war. Das außer Betrieb gestellte Kraftwerk mit seiner neoklassizistischen Fassade, dem schlichten Inneren und dem gigantischen Turbinenraum vermittelte einen absolut kolossalen Eindruck. „Als sie mir die Location vor der Eröffnung zeigten, sagten die Leute: Das ist großartig, ja, aber ihr seid doch irre. Es ist so riesig“, erzählt Schneider, der die Texte für die elaborierten monatlichen Flyer des Berghain redigierte. „Es war ein großes Risiko. Das hätte auch total schiefgehen können.“

Stattdessen wurde das Berghain zu einem Eldorado für Techno-Aficionados und ein Zufluchtsort für sexuelle Dissidenten. Hier entstand viel mehr als eine schnöde Disco. Das Berghain war zugleich ein subkultureller Treffpunkt, Nexus musikalischer Kreativität und eine Institution alternativer Kunst – und zwar in einem Ausmaß, das seinesgleichen suchte.

Ein Schild an der Tür – in Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch gehalten – warnte streng davor, dass Fotografieren drinnen unerwünscht war. Am Eingang platzierte das Personal kleine Aufkleber auf den Kameralinsen der Mobiltelefone ihrer Gäste. Sollte sich ein Missetäter einen Fehltritt leisten und einen Schnappschuss riskieren, würde er brüsk des Spielfelds verwiesen. Sogar ein Twitter-Feed namens Inside Berghain stellte unmissverständlich klar: Keine Fotos aus dem Innenbereich. Keine Leaks. Kein Ausverkauf. Keine Selfies.“

Der beinahe allumfassende Mangel an visueller Dokumentation der Geschehnisse innerhalb des Berghains – in einer Ära, in der praktisch jeder und alles ununterbrochen und bei noch so banalen Aktivitäten fotografiert wurde – erlaubte den Clubbern, nicht nur ihre Hemmungen über Bord zu werfen und Fantasien auszuleben, die sie nicht unbedingt fotografisch festgehalten wissen wollten, sondern trug auch zur undurchdringlichen Rätselhaftigkeit des Clubs bei. Eine Nacht im Berghain wurde nicht digital für die Nachwelt konserviert. Sie existierte nur im Augenblick und blieb nur als Erinnerung, Klatsch, Gerücht oder wilde Spekulation bestehen. Dies war ein die Realität blockierender Mechanismus, der ein befreiendes Gefühl totaler Loslösung vom Panoptikum des Alltags mit sich brachte. Das Berghain war einer der wenigen verbliebenen Orte in Westeuropa, wo man die Matrix hinter sich lassen konnte.

 

„Leute wollen frei von Kontrolle sein, aber in einem normalen Club in London oder New York laufen Leute mit Ohrolive-Hörgeräten herum, während überall Videokameras mitfilmen. Sogar die Toiletten werden überwacht. Eine Atmosphäre von vollständiger Kontrolle“, sagt der Künstler Wolfgang Tillmans, dessen riesige Fotodrucke an den Wänden der Panoramabar zu den visuellen Highlights des Clubs zählen.

Im Berghain wurden äußere Einflüsse de facto getilgt und nichts zählte außer dem Hier und Jetzt. „Von außen ist es nur ein graues Gebäude, in dem sich ein schwarzes Loch befindet, also kann man seine eigenen Vorstellungen darauf projizieren und es zu allem machen, was man möchte“, sagt Boris Dolinski, ein Resident-DJ der Panoramabar. „Besonders außergewöhnlich ist, dass man seine Augen schließen und sich in der Musik völlig verlieren kann. Es überkommt einen das Gefühl, dass man keinerlei Verbindung mehr zur Außenwelt hat.“

Dieses Gefühl wurde durch den Mangel an Spiegeln und das völlige Fehlen jeglicher Werbeschriftzüge noch verstärkt. Keinerlei illuminierte Logos flüsterten einem verwunschene Werbeformeln aus der Finsternis zu, nicht einmal von den Bierkühlschränken hinter der Bar. In einer Clubkultur, die angesichts omnipräsenten Sponsorings desensibilisiert worden war, stellte dies ein weiteres Alleinstellungsmerkmal dar.

„Ich halte das für ziemlich beachtlich“, sagt Tillmans. „Heute wird jede größere Versammlung von Menschen als Vermarktungsmöglichkeit gesehen. Aber im Berghain bleibt dies ungenützt. Einem Marketing-Menschen muss es verrückt vorkommen, einen Club zu betreten und auf 2.000 glückliche Gesichter zu treffen, ohne dass ihnen eine Werbebotschaft vermittelt wird. Ich halte das heutzutage mehr denn je für ein aktives Statement.“

Teufele und Thormann steigerten ihren geheimnisvollen Nimbus noch dadurch, dass sie sich konsequent jeglicher Interviewanfrage verweigerten. Eine smarte Strategie, denn alles, was sie sagten, hätte nur von der Legende, die sich um den Club herum aufbaute, abgelenkt bzw. seine esoterische Anziehungskraft unterminiert.

Einen seltenen Einblick in ihre Denkweise offenbarte der amerikanische DJ Daniel Wang, als er von einer Konversation berichtete, die er im Eröffnungsjahr des Berghains 2004 mit den beiden Männern führte. Er bot eine der wenigen glaubhaft belegten Erklärungen für ihre Motive: „Norbert und Michael gaben an, dass sie einen Club schaffen wollten, der als Kunstwerk funktionierte.“21

Doch ein Kunstwerk verlangt mitunter nach Hege und Pflege. Auf dem sandigen Weg, der zum Club führt, eingerahmt von Metallabsperrungen, bewegt sich die Warteschlange schleppend vorwärts, durchwegs von Samstag um Mitternacht bis weit in den nächsten Tag hinein. Auf die hoffnungsfrohen Clubber warten prüfende Blicke und eine mögliche Zurückweisung seitens der Türsteher, die am Eingang zum gewaltigen Gebäude postiert sind. Seine äußerst selektive Einlass-Politik wurde in den Jahren nach der Eröffnung des Clubs heiß debattiert – Abgewiesene ließen ihrem Zorn im Internet freien Lauf und gleichzeitig tauchten ebendort auch Richtlinien auf, wie man auszusehen und sich zu verhalten habe, um eingelassen zu werden. All dies trug aber nur zum kultischen Image des Clubs bei, eine Art Techno-Geheimbund zu sein. Die furchterregend aussehenden Türsteher des Berghains waren nicht direkt unhöflich, sondern nur absolut kompromisslos. Immerhin fungierten sie als Torwächter zur Unterwelt. Ihre Aufgabe bestand darin, die Freiheiten, die im Club gewährt wurden, so gut wie möglich zu schützen. „Ich bin dafür verantwortlich, das Berghain für die Leute, die hierherkommen, um die Musik zu genießen und zu feiern, zu einem sicheren Ort zu machen. Ich muss es als einen Ort bewahren, wo Leute eine Zeitlang Raum und Zeit vergessen und sich amüsieren können“, erklärte der Cheftürsteher, Sven Marquardt, dessen Gesicht von Tattoos und Piercings übersät ist. „Der Club ist aus der Berliner Schwulenszene der Neunzigerjahre hervorgegangen. Es ist mir wichtig, einen Teil dieses Erbes zu bewahren, damit es für die ursprünglichen Club-Besucher weiterhin ein einladender Ort ist.“22

Da das Berghain als eine Art Refugium für die Freaks der Nacht jeglicher Konfession und Neigung gedacht war, die Berlin zu dem machten, was es war, sollte die Einlasspolitik – Tobias Rapp bescheinigte ihr einst, „einen Hauch jakobinischen Terrors“ zu versprühen – sicherstellen, dass keiner der Gäste den Vibe ruinierte. Aber auch dass sie Sex haben konnten, wenn sie das begehrten, eventuell in einem der Darkrooms des Clubs unweit der Tanzfläche oder dem ausschließlich für Männer zugänglichen Lab.Oratory. Dieser Club im Club beschrieb seine Attraktionen auf seiner Website: Da gab es etwa die wöchentlich stattfindende Naked Sex Party, wo man seine Klamotten an der Tür abgeben konnte und „viel Gruppenaktion“ geboten bekam, oder auch Themenabende für Gummi-Fetischisten, Faust-Fanatiker und Natursekt-Sommeliers sowie eine Veranstaltung mit dem Titel Filthy Farm, bei der landwirtschaftlich-rustikal angehauchte Aktivitäten im Mittelpunkt standen. Sogar der Reiseführer Lonely Planet empfahl ihn als geeigneten Ort für „fortgeschrittene sexuelle Experimente“ in einem Ambiente, das an den „Maschinenraum eines Flugzeugträgers“ erinnerte – ein düsteres Bumslokal, in dem Back- und Bratenfett von Crisco als Gleitmittel an der Bar erhältlich und es nie ein allzu großes Problem war, in kürzester Zeit intime neue Freundschaften zu knüpfen.23

Auch abseits der Darkrooms war es nicht ungewöhnlich, splitterfasernackte Männer oder nur sehr spärlich beschürzte Damen durch die Gegend flanieren zu sehen. Es mag sich zwar nach einem Klischee anhören, aber niemand schien das großartig aufzufallen. Doch ohne rigorose Einlasspolitik, die jene zurückwies, in deren Herz kein Feuer für die freigeistige Lebensart brannte, wäre all dies ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Sogar in Berlin. „Dies ist ein besonderer Ort, ein Ort, an dem sich Leute fallen lassen können. Es ist ein Ort, den Schwule aufsuchen, um Bekanntschaften zu machen. All das würde sich aber ändern, wenn da ein paar besoffene, heterosexuelle Techno-Touristen abhängen würden. Dann hätten wir einen Zoo – und keinen Safe-Space“, erörtert The Black Madonna. „Wenn das heißt, dass gelegentlich ein paar sehr nette Heteros abgewiesen werden, dann kann ich damit leben, weil es sich hier um einen der wenigen Orte weltweit handelt, an dem straighte, weiße Männer mit viel Kohle nicht unbedingt an der Spitze der Nahrungskette stehen.“

Bei den in unregelmäßigen Abständen stattfindenden, nur für Männer gedachten Snax-Partys wurden Bereiche des Clubs, die für gewöhnlich gesperrt waren, geöffnet, um 2.500 schwule Schwelger in Feierlaune willkommen zu heißen. Für solche Anlässe wurden dann auch gerne unorthodoxe Dekorationen angebracht. Einmal zu Ostern etwa stand der Club unter dem Motto Bergbau mitsamt an Kohlezechen erinnernden Schächten, rotierenden Stahlsägen und einem künstlichen See gefüllt mit Gleitmittel. „Man muss keinen Sex haben, aber es wird erwartet, dass man gegenüber allem, was da passieren kann, offen ist“, erklärt ein Snax-Stammkunde. „Was es so besonders macht, ist nicht der Umstand, dass es erlaubt ist, weil es einem ja immer erlaubt ist, sondern die Art geteilter Begeisterung.“