Rave On

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„Plötzlich erschien da diese neue Musik – House! – und schlagartig war alles ganz anders“, erinnert sich Motte. „Es war ja nicht nur neue Musik, sondern ein ganz neues Leben, eine neue Atmosphäre, und auf einmal tanzten alle. Es war der Anfang vom Anfang.“ Für Motte stellte Acid House den Schlüssel zu einer neuen psychischen Erfahrungswelt dar. „Als würde man ein neues Territorium entdecken. In Berlin gab es ja die Mauer und plötzlich war da eine Tür in dieser Mauer, durch die man hindurchblicken konnte. Einfach unglaublich! Es öffnete unseren Verstand und wir entdeckten uns selbst.“2

Motte beansprucht für sich, im September 1988 gemeinsam mit einem anderen DJ namens Jonzon (Jürgen Stöckemann) die erste Westberliner Acid-House-Fete im Club Turbine Rosenheim veranstaltet zu haben. Ende desselben Jahres öffneten Hegemann und sein Kollege Achim Kohlberger außerdem bereits den ersten Acid-House-Club, UFO, der sich im Keller des Fischbüros befand, einer dadaistischen Bar, die sie in einem alten Schuhgeschäft betrieben. Motte und Jonzon zählten schon bald zum Inventar, gemeinsam mit anderen Resident-DJs, die den Nukleus der frühen Berliner Szene bilden sollten, etwa Tanith oder Kid Paul.

Obwohl die Stadt immer noch zweigeteilt war, konnten Ostberliner Teenager Radioübertragungen aus dem Westen empfangen: so etwa Barry Graves’ einflussreiche Disco-Mix-Shows auf dem von den Amerikanern betriebenen Sender RIAS, John Peel auf dem British Forces Broadcasting Service oder auch Monika Dietl, die die frühe House-Szene im Rahmen des Jugendprogramms von Sender Freies Berlin propagierte. „Wir haben alles mitgeschnitten. Wir lebten von diesen Mixkassetten“, erzählte Wolle XDP (Wolfram Neugebauer), ein Ostberliner, der später ein einflussreicher DJ und Rave-Veranstalter werden sollte. Es gab kleine Hip-Hop- und Postpunk-Szenen östlich der Mauer, doch Techno und Disco für sich zu entdecken, war ein ganz besonderer Kick, auch wenn es noch nicht möglich war, diesem Sound in einem Club zu lauschen, wie Frank Blümel, ebenfalls aus Ostberlin, zu berichten wusste. „Es verlieh einem Energie“, sagte er. „Die DDR brach zusammen, weshalb es die Musik war, aus der wir unsere Kraft bezogen.“3

Am 9. November 1989, nach monatelangen Protesten und nachdem eine immer größer werdende Zahl von Leuten aus dem Land geflüchtet war, gaben die ostdeutschen Behörden unerwarteterweise grünes Licht für die Öffnung der Grenzen und ließen die Menschen frei passieren. Die Barriere, die die Stadt fast drei Jahrzehnte lang geteilt hatte, war durchlässig geworden und Berlin verfiel in einen kollektiven Freudentaumel.

„Das muss der größte Rave des Jahrhunderts sein, nur ohne House“, erklärte der Techno-Produzent Stephan Fischer dem britischen Journalisten Jack Barron an jenem Abend, als sie den Menschen auf dem Potsdamer Platz dabei zusahen, wie sie im Einklang auf das verhasste Betongebilde, das die Stadt so lange entzweit hatte, einhämmerten.4

„Alles geschah wie aus heiterem Himmel. Keiner wollte es zuerst glauben: ‚Ach, nee, dit kann doch nich’ wahr sein!‘ Wir wussten, dass es womöglich ein paar Veränderungen im Osten geben würde, aber niemand dachte, dass die Mauer wegkäme. Das war echt das Letzte, von dem irgendwer ausgegangen wäre“, erzählt Thomas Andrezak, ein weiterer charismatischer Ex-Punk, der sich den Namen Tanith zugelegt hatte. Dieser hagere wie eindrucksvolle Mann, der über unfehlbares Fingerspitzengefühl für Rave-Theatralik verfügt, erarbeitete sich den Ruf, der härteste und kompromissloseste aller Berliner DJs der ersten Generation zu sein – zuerst im UFO und dann in Dimitri Hegemanns nächstem Club, dem Tresor, aber auch bei den ersten Raves der Stadt, den Tekknozid-Partys, die von Wolle XDP ab April 1990 in Locations wie dem Haus der Jungen Talente, einem DDR-Jugendzentrum, veranstaltet wurden. Tanith glaubt, dass Techno die gemeinsame Sprache darstellte, die die jungen Leute in den ersten Monaten nach dem Mauerfall zusammenbrachte. Techno tauchte zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort auf, um der ersten gesamtdeutschen Jugendkultur nach dem Ende der Mauer sowohl als Soundtrack als auch als Inspiration zu dienen. Schließlich war Techno zu neu, um von alten Unterteilungen geprägt zu sein bzw. der einen oder anderen Seite beansprucht werden zu können. „Ost und West, wir begannen alle zusammen bei Null“, erzählte Tanith. „Techno war die erste Jugendkultur, die auf beiden Seiten bei Null anfangen musste. Wir alle trafen an diesem Nullpunkt aufeinander und es gab keinerlei Unterschiede zwischen uns.“5

Es hatte eingesetzt, was WestBam als Deutschlands „Befreiungstanz“ bezeichnet. „Als die Mauer fiel, stell dir mal all diese Kids aus diesem unterdrückten Staat vor. Und die Polizei wusste nicht mehr, wie sie vorgehen sollte, weil sie über keine Macht mehr verfügte“, erklärt er. „All diese Dinge, von denen man fantasiert hatte, sind nun auf einmal möglich. Ich erinnere mich an die frühen Raves in den Tagen nach dem Mauerfall. Zuvor waren sie nie ganz voll gewesen, doch nun platzten sie aus allen Nähten – und vor dem Club parkten all diese DDR-Karren. Man konnte die Energie spüren – als ob ein Vakuum ‚plopp‘ machen würde.“

Techno avancierte zum Soundtrack der Wiedervereinigung und Berlin sollte fortan seine europäische Residenz darstellen. „Es war, als ob alles bei Null beginnen würde, die Vergangenheit zählt nicht mehr, wir starten etwas Neues“, sagt der Journalist Thomas Rapp, der 1990 im Alter von 19 nach Berlin zog und sich dem Sog der frühen Szene nicht entziehen konnte. „Irgendwie wohnt der Popkultur ja eine sehr deutsche Herangehensweise inne. Von ganz vorne beginnen und so – das hat wohl mit den Nazis zu tun. In der Popkultur heißt es immer: Wir wollen nichts mit der Vergangenheit zu tun haben, wir müssen von vorne beginnen.“

Und Berlin war tatsächlich bereit für etwas Neues. Es verfügte schließlich bereits über eine kreative Gegenkultur, seine Genialen Dilletanten und anarchistischen Hausbesetzer, die schon Erfahrung damit hatten, leerstehende Immobilien in Beschlag zu nehmen. Nun erhielt die Stadt frische, unverbrauchte Energie in Form von neugierigen jungen Entdeckern aus dem Osten und als Bonus noch jede Menge alte Fabriken und Lagerhallen, die nach dem Kollaps des DDR-Regimes verlockend und verlassen dastanden. Dort, wo die Mauer das Zentrum der Stadt durchdrungen hatte, eröffneten sich nun etliche Freiräume. Die Zeit war gekommen, sie neu zu erschließen.

„Viele der Ostberliner Industriebauten standen nun leer, da die dort beheimateten Firmen dem Staat gehört hatten, aber der Staat eben nicht länger existierte – also waren sie jedem scheißegal“, erzählt Robert Henke, der ebenfalls 1990 nach Berlin zog und unter dem Künstlernamen Monolake für seine hypnotischen, elektronischen Soundkulissen berühmt werden sollte. „Man konnte also in diese ehemaligen Arbeitsstätten gehen, wo alles noch ganz unverändert war, da sie ja geschlossen hatten. Da stand etwa noch eine Tasse mit Kaffee darin, oder dort lag noch die Tageszeitung von zwei Tage vor dem Mauerfall. Wie nach einer nuklearen Explosion. Man stieg einfach ein und verwandelte die Läden in Clubs.“

Hegemann beschreibt die Westberliner Gegenkultur zur Zeit der Mauer als Brutkasten der Techno-Szene. „Als die Mauer fiel, fingen hunderte kleiner Zellen an, Dinge zu unternehmen, aber die Wurzeln ließen sich in die gegenkulturelle Bewegung Westberlins zurückverfolgen“, erklärt er. „Wir waren bereit, uns auf Experimente einzulassen. Wir wussten, wie man eine Bar, eine Galerie, einen Club betrieb. Wir waren in der Lage, die freien Räume, die sich auftaten, zu füllen. Drei Jahre lang gab es keine Behörden und wir konnten tun, was wir wollten.“

In Berlin galten zudem die liberalsten Konzessionsgesetze in ganz Europa. Die dortigen Clubs und Bars waren rund um die Uhr geöffnet, nachdem ein Hotelier namens Heinz Zellermayer 1949 die Kommandanten der besetzten Zonen überzeugt hatte, die vorherrschende Sperrstunde, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammte, außer Kraft zu setzen.

„In vielerlei Hinsicht endete der Zweite Weltkrieg in Berlin erst mit dem Mauerfall“, meinte Dave Rimmer, der Autor von Once Upon a Time in the East, einem der besten Bücher über das Berlin jener Tage. „Sobald die Mauer weg war, veränderte sich alles im Eiltempo – und man hatte keine Vorstellung davon, wo die Veränderungen aufhören würden. Es war absolut die richtige Zeit für eine neue Musikrichtung – es fühlte sich definitiv nach einer ‚Stunde Null‘ an. Und Techno vermittelte einem das Gefühl, die Vergangenheit abzuschütteln, den alten Mief zu entlüften und stattdessen rasant in die Zukunft zu beschleunigen.“6

Nachdem das UFO seine Pforten schloss, sahen sich Hegemann und seine Partner nach einer neuen Location um. Unweit des Niemandslandes Potsdamer Platz, einem Ort von immenser psychogeografischer Bedeutung, wurden sie schließlich fündig. Während der Weimarer Republik hatte das Herz des Berliner Nachtlebens eben dort geschlagen. In den Jahren des Nazi-Regimes befanden sich an diesem Platz diverse Verwaltungsgebäude, doch die hatten die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche gebombt, noch bevor die Mauer ihren Verlauf genommen hatte. Nun war die Gegend eine urbane Wüste, die darauf wartete, mit neuem Leben erfüllt zu werden.

Hegemann erzählt, wie er zum ersten Mal in jenen brachliegenden unterirdischen Raum in der Leipziger Straße hinabstieg, der ab 1991 als Heimstatt seines neuen Clubs Tresor dienen sollte. Es war, als ob man die Grabkammer einer antiken Pyramide öffnete. Einst hatten die Räumlichkeiten dem Wertheim-Kaufhaus, dessen ursprüngliche jüdische Besitzer von den Nazis enteignet wurden, als Tresorräume gedient.

„Als ich zum ersten Mal einen Blick darauf warf, wusste ich, dass hier etwas Besonderes passieren würde. Aber wir wussten nicht, dass Techno und elektronische Musik so durchstarten würden, wie das dann der Fall war“, erzählt er. „Es war die perfekte Location, nahe der Mauer, ideal für Kids aus dem Osten und Westen, um sich zu treffen – symbolisch für einen Neuanfang und eine neue Generation von Musik.“

 

Wer sich in das Kellergeschoss des Tresors mit seinen niedrigen Decken, den Stahlkäfigabteilen und den alten Bankfächern hinabbegab, fühlte sich an den Abstieg in eine mit Soundsystem ausgestattete Unterwelt erinnert – ein Inferno, in der der härteste, metallischste Techno die inneren Organe vibrieren ließ.

„Meine erste Nacht im Tresor kann ich nur als Schock beschreiben“, erinnert sich Robert Henke. „Es war in fast jeder Hinsicht überwältigend. Es war lauter als jede Musik, die ich bis dahin gehört hatte, mehr Bass, düsterer, intensiver. So viele Leute auf so wenig Fläche. Der totale Wahnsinn. Die Lightshow bestand im Grunde genommen aus jeweils einem roten, blauen und weißen Stroboskop und jeder Menge Nebel. Ich hielt es nur eine halbe Stunde lang aus, es war einfach zu viel – und natürlich war ich am nächsten Wochenende wieder dort. Es war äußerst verwirrend und gleichzeitig faszinierend.“

Dasselbe konnte man auch von Berlin behaupten, als die Stadt sich in diesen chaotischen und gesetzlosen Jahren nach der Wiedervereinigung 1990 neu erfand. Tanith erinnert sich daran als eine Zeit der psychischen Befreiung, die durch das Fehlen jeglicher Gewissheit ermöglicht wurde. „Damals konnte man alles machen. Man konnte einfach eine Tür öffnen, einziehen und irgendetwas unternehmen, weil niemand wusste, wie die Rechtslage aussah“, sagt er. „Wir dachten uns: Jetzt haben wir einen neuen Spielplatz, auf dem wir machen können, was wir wollen.“

Jeder noch so wilde Plan, oftmals inspiriert von veränderten Bewusstseinszuständen, schien nun machbar zu sein. Hegemann überzeugte sogar die Humboldt-Universität, an der großen Durchfahrtsstraße Unter den Linden gelegen, den psychedelischen Guru Timothy Leary 1990, kurz vor dem offiziellen Ende der DDR, eine Grundsatzrede halten zu lassen: „Ich erklärte, dass ich da diesen Harvard-Professor hätte und erkundigte mich, ob es möglich wäre, den großen Vorlesungssaal zu belegen? Dann hieß es: ‚Hmmmm … Okay, ja!‘ Die wollten zeigen, dass sie dem Westen gegenüber nun offen stünden. Also kam Timothy Leary und hielt einen großartigen Vortrag – From Psychedelics to Cybernetics. Solche Dinge waren damals möglich.“

Leary, der tatsächlich Professor an der Harvard University gewesen war, wurde 1963 wegen seiner Befürwortung von LSD gefeuert. Zu Beginn der Neunzigerjahre versuchte er, sich als Vaterfigur der Ecstasy-Generation neu zu positionieren. Diejenigen, die kamen, um ihm zu lauschen, waren fasziniert von seiner unverblümten Werbung für psychedelische Experimente, erzählt Mark Reeder, der Gründer des ersten Berliner Trance-Labels MfS, der im Publikum saß.

„Wir hörten gebannt zu und hingen quasi an seinen Lippen. Er war ein Mystiker, der all das bestätigte, von dem wir ohnehin schon überzeugt waren. Man darf nicht vergessen, dass die ganzen ostdeutschen Kids vor dem Mauerfall noch keinerlei Erfahrungen mit irgendwelchen harten Drogen gemacht hatten – höchstens mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, Alkohol und Zigaretten. Somit waren sie sehr neugierig, vor allem in Bezug auf psychedelische Drogen … Und hier stand nun der Guru schlechthin, um darüber zu sprechen“, erinnert sich Reeder. „Wie Timothy es formuliert hat: ‚Mein Job ist es, junge Leute zu verderben.‘“

Der Vortrag wurde für ein Album von System 01 gesampelt, das Hegemann herausbrachte. Ein Track hieß „Any Reality is an Opinion“ – ein Titel, der den Augenblick gar nicht besser hätte zusammenfassen können.

Die Stadt zog nun weitere neue Querdenker an, die unkontrollierte Räume abseits sozialer Normen suchten, darunter auch ein paar der berüchtigtsten Free-Party-Crews Großbritanniens, die am Potsdamer Platz Quartier bezogen. Die globetrottenden Schrottkünstler von der Mutoid Waste Company erbauten aus ausrangierten Ostblock-Panzern ein neonfarbenes Stonehenge und verschönerten die Landschaft mit verzierten MiG-Kampfjets, die die Rote Armee nach ihrem Abzug offenbar zurückgelassen hatte. Neben der Mutoid Waste Company betraten auch Spiral Tribe die Bildfläche. Bei ihnen handelte es sich um militante Techno-Fanatiker, die aus Großbritannien geflohen waren, nachdem vier ihrer Rädelsführer wegen der Durchführung des größten illegalen Raves aller Zeiten auf britischem Boden – in Castlemorton Common im Mai 1992 – des verschwörerischen Komplotts bezichtigt wurden.

Sogar für Berlin waren Spiral Tribe echt hardcore. Viele Leute in der städtischen Szene empfanden ihre kompromisslose Haltung, ihre apokalyptische Musik und ihren scheinbar unersättlichen Appetit auf Drogen als zu extrem und nicht nachvollziehbar. „Ein echter Affront gegenüber der gesellschaftlichen Norm“, meinte etwa der DJ Alec Empire, der mit ihnen ein paar Partys veranstaltete.7

Für die Spirals stellte Berlin lediglich einen Zwischenstopp dar, bei dem sie jede Menge ausrangiertes sowjetisches Arsenal ergatterten, bevor sie weiter ostwärts zogen, um vogelfreie Raves zu organisieren, die eine ganz neue Bewegung illegaler Raves inspirierten. „Nach Osteuropa zu gehen, fühlte sich wirklich so an, als würden die Grenzen des uns Bekannten verschoben“, erzählte mir Mark Harrison von Spiral Tribe später mal. „Wir reisten in einem riesigen Konvoi: zwei MiG-Kampfflugzeuge auf Panzertransportern, gewaltige Zirkuswagen und massive sechsrädrige Amphibienfahrzeuge … Das war ganz schön imposant.“8

Nachdem der Tresor in seiner unterirdischen, mit Strobos beleuchteten Gruft Quartier bezogen hatte, öffneten auch andere an ähnlich außergewöhnlichen Orten beheimatete Clubs ihre Türen. So wurde den Überbleibseln der Vergangenheit ein neuer Sinn verliehen, um eine alternative Vorstellung von der Zukunft der Stadt zu kreieren. Der Bunker – laut Eigenbezeichnung „der härteste Club der Welt“, was auf den brutalen Gabba- und Acid-Sound zurückzuführen war, dem dort gefrönt wurde – erstreckte sich in einem gewaltigen Luftschutzraum aus der Nazi-Zeit, den später die Rote Armee für die Inhaftierung von Kriegsgefangenen genutzt hatte. Der Planet wurde 1991 in einer alten Seifenfabrik eröffnet. Seine Betreiber sollten später auch den monumentalen Club E-Werk in einem ehemaligen Kraftwerk in der Nähe des Checkpoint Charlie starten.

Nach dem Fall der Mauer konnten die Menschen Ideen und Räume erkunden, die während der Jahre der Teilung tabu gewesen waren. Manche deutsche Raver machten es sich gar zur Gewohnheit, Tarnklamotten, Gasmasken und Strahlenschutzanzüge zu tragen, als ob sie einen Überlebenskünstler-Kult gegründet hätten und nun bereit wären, die unwirtlichsten Randgebiete dieser eigentümlichen neuen Welt voller politischer Ungewissheit und Chaos zu überwinden. Tanith und seine Camouflage-Crew erinnerten optisch an eine Gang Abtrünniger, direkt aus Mad Max entsprungen, auf einer psychotropischen Mission hinter den Linien der Zivilisation. „Wir hatten Hooligans und Studenten und Ex-Punks und Ex-Disco-Leute – wir alle trafen uns in diesem Schmelztiegel und begriffen, dass wir alle zusammen hier waren. Wir sind alle Menschen“, erzählt Tanith, bevor er mit einem verschwörerischen Lächeln ergänzt: „Ich glaube, dass Ecstasy dabei geholfen hat.“

So wie in der frühen britischen Acid-House-Szene herrschte auch hier ein Gefühl, als würde man Teil einer Geheimgesellschaft sein. Eingeweihte erkundeten die Höhen der menschlichen Erfahrung und waren miteinander durch den Sound und die Chemie auf dieser großen Abenteuerfahrt ins Ungewisse verbunden. „Es war ganz sicher nicht normal“, erinnert sich Robert Henke. „Man spürte ganz klar, dass man einer kleinen, aber sehr starken Gemeinschaft von Leuten angehörte, die andere Vorstellungen verfolgte. Der Reiz bestand für mich zum Teil auch darin, dass ich das Gefühl hatte, plötzlich Leute gefunden zu haben, die auf derselben Wellenlänge lagen. Das war unglaublich schön.“

In seinem Büro im Tresor springt Dimitri Hegemann aus seinem Sessel und kramt ein paar alte Vinyl-Alben hervor. Dabei handelt es sich um Veröffentlichungen seines Labels Interfisch, die vor der Gründung des Tresors 1991 erschienen waren: Buried Dreams von der britischen Industrial-Band Clock DVA sowie Deep into the Cut von Final Cut. Letztere waren ein von Front 242, Nitzer Ebb und Ministry beeinflusstes Electronic-Duo aus Detroit: „Harte Beats, handgemachte Edits, sehr modern und wegweisend für ihre Zeit“, sagt Hegemann. Ein Mitglied von Final Cut war der junge Jeff Mills, der nach seinem Ausstieg mit Mike Banks Underground Resistance gründete. Hegemann holte Final Cut nach Berlin, um bei Berlin Atonal aufzutreten, was den Anfang einer leidenschaftlichen kulturellen Beziehung zwischen Berlin und Detroit markierte, die noch jahrzehntelang anhalten sollte.

Die erste Veröffentlichung auf Hegemanns neuem Tresor-Label war „Sonic Destroyer“ von X-101, ein Aliasname, hinter dem sich Underground Resistance verbargen. Mit seinem Slasher-Riff und sinistren, anschwellenden Drones stellte der Track den perfekten Soundtrack für den Tresor-Keller dar. Hegemann ließ 1991 Mike Banks, Jeff Mills, Blake Baxter und Robert Hood von UR einfliegen, um in seinem Club aufzutreten, was ein weiterer Schlüsselmoment war. Unten im Tresor entfesselten die schwarz maskierten Marodeure aus Detroit eine Ehrfurcht gebietende Sound-Attacke, die die Vergangenheit auslöschte und den Weg in die Zukunft beleuchtete. „Eine Bombe aus Sound und Rauch explodierte und blies alles weg“, erinnerte sich Hegemann einst. „Es war schon etwas Besonderes. Eine unglaubliche Intensität. Für mich war der Weg vorwärts danach völlig klar.“9

Berlin sollte für die Detroiter zu einem zweiten Wohnzimmer werden. Tatsächlich zogen Mills und Baxter in den Neunzigern für mehrere Jahre dorthin. Hier fanden sie ein Umfeld vor, das ihnen sowohl finanziell als auch kreativ als fruchtbarer Nährboden diente, zu einer Zeit, als in ihrem Heimatland kaum jemand von der Existenz ihrer Musik wusste. Robert Hood sagte, dass sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelte, weil sie alle auf die alchemistischen Energien des Techno zurückgriffen, um sich selbst aus einer zertrümmerten Umwelt zu befreien, die ihnen eine brutale Vergangenheit hinterlassen hatte. Der gebürtige Detroiter war bis dahin nicht viel gereist, aber verspürte eine unmittelbare emotionale Verbindung, als er in Berlin eintraf. „Ich hatte den Eindruck, es mit einer Stadt zu tun zu haben, die immer noch dabei war, sich mithilfe von progressiver Underground-Kunst aus der Finsternis zu befreien. So wie in Detroit gab es auch hier eine progressive Szene, die sich aus den Kellern und Bunkern erhob“, erinnert sich Hood. „Die Musik, die wir machten, war ‚harte Musik aus einer harten Stadt‘ – das war unser Schlachtruf – und ich glaube, dass Berlin sich damit identifizieren konnte, da es selbst ja auch über seine Vergangenheit hinwegkommen wollte. In beiden Städten versuchte man, sich selbst auszudrücken, um das Elend zu überwinden.“

Das zweite große Compilation-Album von Tresor trug den Titel Berlin Detroit: A Techno Alliance und enthielt Tracks von UR und Mills sowie eine Kollaboration zwischen Juan Atkins und zwei in Berlin ansässigen Produzenten, Thomas Fehlmann und Moritz von Oswald, die unter dem Namen 3MB („Three Men in Berlin“) fungierten. Auf den Regalen in Fehlmanns Studio im eleganten Charlottenburg befinden sich neben anderen Andenken an seine lange und illustre Karriere in der elektronischen Musik auch alte Mastertapes, die mit den Vornamen einiger Detroiter Innovatoren beschriftet sind: „Juan“, „Eddie“, „Blake“. Der in der Schweiz geborene Fehlmann, der sich Jahre später The Orb anschloss, war ein weiterer Veteran der Neuen Deutschen Welle und hatte gemeinsam mit Moritz von Oswald bei der Postpunk-Formation Palais Schaumburg gespielt. Sowohl Fehlmann als auch von Oswald avancierten zu Schlüsselfiguren der neuen Berliner Techno-Szene und verliehen ihr eine gegenkulturelle Tiefe und Historizität.

„Ich verliebte mich Hals über Kopf in diese Musik aus Detroit“, berichtet Fehlmann. Nachdem seine neuen Helden begannen, Berlin Besuche abzustatten, fing er an, mit ihnen Musik aufzunehmen: „Als sie hierherkamen, öffneten sich die Detroiter Jungs auch menschlich, weil sie sich in diesem Umfeld wohlfühlten. Sie verfügten über den Freiraum, sich auszudrücken und ihre Musik regelmäßig Leuten in den Clubs vorzuspielen, und ihre Musik war regelmäßig in den Clubs zu hören. Sie sahen, wie die Leute sich damit identifizierten.“

Gemeinsam mit den feurigen Rave-Tracks aus Großbritannien, den Niederlanden und Belgien wurden die afrofuturistischen Visionen zu einem spirituellen Katalysator für jene Bewegung, die die kulturelle Landschaft Berlins neu definieren sollte, sein Achtzigerjahre-Image als düstere, vom Kalten Krieg geprägte Enklave überwinden half und es als eine der vitalsten und kreativsten Städte Europas etablierte. Im wohlhabenderen, gesellschaftlich konventionelleren Frankfurt entwickelten ungefähr zur gleichen Zeit DJs und Produzenten wie Sven Väth, Marc Spoon (Markus Löffel), Jam El Mar (Rolf Ellmer) und DJ Dag (Dag Lerner) in Clubs wie dem Dorian Gray und dem Omen opulent-melodische Trance-Texturen, doch es war der Detroiter Techno, der als Berlins Spiritus Rector fungierte.

 

Die Bewunderung der Detroiter für elektronische Musik aus Deutschland gab den Berlinern ausreichend Selbstvertrauen, ihre eigene Interpretation dessen zu wagen, was Techno sein konnte, zu einer Zeit, als Dance-Music immer noch von Amerikanern und Briten geprägt war. Damals wurde elektronische Musik aus Europa – von Kraftwerk, DAF und Yello mal abgesehen – oft belächelt, wie Fehlmann zu berichten weiß: „Als wir sie trafen, wurde deutsche elektronische Musik – und eigentlich galt das für elektronische Musik vom europäischen Festland im Allgemeinen – nicht als besonders hip angesehen. Somit war unser Selbstwertgefühl damals eher gering. Doch als ich mit den Jungs aus Detroit in Verbindung trat und sie uns erzählten, dass Deutschland einen großen Einfluss auf sie hatte, begannen sich die Dinge zu ändern.“

Fehlmanns Freund Mark Ernestus hatte bereits seinen Plattenladen Hard Wax in Kreuzberg eröffnet, der sich rasch als soziale Anlaufstelle und Treffpunkt der Berliner Techno-DJs etablierte. Rund um den Laden und Clubs wie dem Tresor bildete sich ein Nexus an kreativem Talent, dem die Welt ein paar der allerschönsten elektronischen Musikstücke verdanken würde, etwa der erhaben-mesmerische Dub-Techno auf Ernestus und Moritz von Oswalds Label Basic Channel sowie dessen Nachfolger Chain Reaction, die beide jahrelang immensen Einfluss haben sollten. Deutsche elektronische Dance-Music sollte nie wieder als minderwertig gelten.

Ein paar Monate vor dem Fall der Mauer 1989 stand Dr. Motte in den frühen Morgenstunden vor einem Club, als ihn eine Vision ereilte. Er sah, wie er und seine Freunde, die Pioniere des Acid House, sich aus der Finsternis erhoben und ins Licht vordrangen, in einer glorreichen Eruption aus Farbe und Sound, die das Stadtzentrum erhellen würde – ein Protestmarsch, nicht gezielt gegen irgendetwas, sondern vielmehr für die Werte der Raver, gute Vibes und ein ekstatisches Einheitsgefühl: „Ich sagte, lasst uns eine Demonstration mit unserer Musik veranstalten – und wir nennen sie Loveparade.“10

„Freunde von mir erzählten mir von Underground-Partys, die sie in London, Manchester und Sheffield besuchten, bei denen die Polizei aufkreuzte und das Soundsystem konfiszierten. Die Leute tanzten aber draußen auf der Straße immer noch weiter, weil sie Ghettoblaster hatten. Sie feierten ein Straßenfest. Ah, ein Straßenfest! Sofort dachte ich mir: Wie können wir hier auch so etwas abziehen? Ein spontanes Straßenfest – wie?“

Dr. Motte

Doch anders als die meisten Visionäre, die zur vorgerückten Stunde Erleuchtung erlangen, hatte Motte seine Epiphanie am nächsten Tag nicht wieder vergessen. Er meldete die Veranstaltung als politische Demonstration an, was bedeutete, dass er weder für das Polizeiaufkommen noch für die anschließende Säuberung bezahlen musste. Als Motto wählte er „Friede, Freude, Eierkuchen“. Im gleichen Jahr, als die britische Polizei ihr Bestes gab, möglichst viele Freiluft-Raves zu unterbinden, genehmigten die Berliner Behörden Mottes Unterfangen und gaben ihm grünes Licht. Die erste Loveparade im Juli 1989 zog circa 150 Leute an – den Nukleus der aufstrebenden Berliner Acid-House-Szene. „Es regnete ganz leicht, wir hatten britisches Wetter. Es regnete, obwohl man nicht wirklich von Regen sprechen konnte“, erinnert sich Motte. „Wir standen da und wussten nicht, wann wir anfangen sollten. Dann kam die Polizei zu uns und fragte: ‚Sollen wir loslegen?‘“ Motte muss angesichts der Absurdität dieser Situation lachen. „Wir hatten ja keine Ahnung! Niemand hatte so etwas zuvor gemacht.“11

Sie spielten Mixtapes mit Club-Hymnen, vorab aufgenommen von WestBam, Jonzon und Kid Paul, über Lautsprecher auf drei kleinen Vans, während dieser zerlumpte Haufen Abtrünniger – ein paar von ihnen trugen für den Anlass T-Shirts mit Smiley-Motiven – den Kurfürstendamm, Westberlins bekannteste Einkaufsstraße, entlang tanzte, Peace-Zeichen machte und die samstäglichen Shopper in Aufruhr versetzte. „Auch wenn es nur eine Handvoll Leute waren, fühlten wir uns auf eine verrückte Weise so, als würden wir Geschichte schreiben“, sagt WestBam. „Aber hätte irgendjemand an diesem Tag ahnen können, dass es in ein paar Jahren eine Million Menschen sein würden? Oder dass ein paar Monate später die Mauer fallen würde? Nein, nein!“12

Während die Berliner Techno-Szene Fahrt aufnahm, mauserte sich die Loveparade zu ihrem sichtbarsten Aushängeschild. 1992 gab es schon ein paar Dutzend mit Soundsystems ausgestattete Festwagen, die Clubs wie den Tresor und das Planet repräsentierten, und es nahmen mittlerweile bis zu 15.000 Menschen daran teil. Sie kamen nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Frankfurt, Köln, München, Dresden und Leipzig. Damals erschien mir dies ein unglaublicher Menschenauflauf zu sein, als ich von meinem von i-D, dem Magazin, für das ich damals arbeitete, und NovaMute, einem neuen Techno-Label, gegründet von Mute Records, dem Label von Depeche Mode, an den Start gebrachten Festwagen über die pulsierende Raver-Schar hinwegblickte. Während ich die unbändige Energie der Parade bewunderte, erschallte immer und immer wieder die Hymne dieses Jahres, „Der Klang der Familie“ von 3Phase und Dr. Motte.

Taniths Truck erinnerte in diesem Jahr an ein militärisches Einsatzfahrzeug. Es war mit Tarnfarben überzogen und Netzen behängt und rollte mitsamt seinen irren, in Camouflage gehüllten Gefolgsleuten, die fleißig mit orange brennenden Leuchtfackeln hantierten, die Straße hinunter. Im Jahr darauf erschien Tanith mit einem ausrangierten sowjetischen Panzer und präsentierte vom Geschützturm aus einen Totenkopf, als wäre er ein Techno-Schamane, der das Chaos heraufbeschwören wollte.

Als die Parade ihrem Ende zuging und die mit Soundsystems beladenen Trucks am Wittenbergplatz ankamen, öffnete der Himmel seine Schleusen und der Regen prasselte auf sie herab. Die Blitze zuckten wie ein Stroboskop und der Donner lieferte einen ehrfurchtgebietenden Gegenpunkt zu den hämmernden Beats. Nebelmaschinen pumpten weiße Wolken in die Abendluft und durchnässte Raver hoben ihre Arme gen Himmel, um den Niederschlag willkommen zu heißen, während sie über die glänzenden Gehsteige hüpften. Was großartige Techno-Partys betraf, schien die Loveparade das nächste Level erreicht zu haben.

„Die Loveparade symbolisierte diesen neuen Optimismus und eine anarchische Energie“, sagt Sven von Thülen, Koautor einer unverzichtbaren Chronik des Berliner Techno, die ebenfalls den Titel Der Klang der Familie trägt. „In den ersten paar Jahren war es ein jährlicher Treffpunkt für unsere Kultur, um zu zeigen, wie kraftvoll sie doch war.“ Es war eine symbolische Rückeroberung des öffentlichen Raumes und zeigte, dass die Straßen der Stadt nicht nur dem Handel und dem Verkehr zur Verfügung standen, sondern eben auch Orte des gemeinsamen Feierns sein konnten.