Rave On

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Am Sonntagabend nach dem Festival trat Derrick May im White House in der nahegelegenen Shelby Street auf. Selbst in seinen frühen Fünfzigern noch so dynamisch wie eh und je, rackerte May am DJ-Pult hoch über dem Floor. Die Hi-Hats zischten wie gläserne Regentropfen, die von der Decke herabzuprasseln schienen, und Synthie-Wellen breiteten sich aus wie reinste MDMA-Dosierungen.

Das erste Detroit Electronic Music Festival, der Vorgänger vom Movement, fand im Jahr 2000 statt, nachdem die Polizei gegen illegale Raves vorgegangen war. Das von May initiierte und von Carl Craig gebuchte Festival war als großes Techno-Homecoming geplant. „Diese Musik hat die ganze Welt erobert. Nun erobern wir Detroit“, erklärte Craig im unveröffentlichten Dokumentarfilm The Drive Home über das Ereignis.

Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die Stadt ihren wichtigsten musikalischen Export seit Motown im großen Stil präsentieren musste, wie mir Craig erzählte: „Das Festival war als Statement gegenüber der Community gedacht, da Techno hier unterschätzt und zu wenig respektiert wurde. Wir fragten uns, warum das überall sonst möglich ist, aber nicht hier?“

Das liegt daran, dass Techno im Ausland stets angesagter war als in den USA. Trotz des Aufstiegs von EDM, Amerikas eigener verwässerter, aufgeplusterter und hetero-freundlicher Variante elektronischer Tanzmusik, die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts regen Zulauf verzeichnet, gelten Leute wie May, Atkins, Saunderson, Craig und all die anderen zwar in den Augen vieler Europäer als echte kulturelle Pioniere, werden in ihrem Heimatland aber immer noch eher als Randfiguren wahrgenommen. Frankreich etwa zeichnete Jeff Mills 2017 für seinen Beitrag zur Bereicherung der französischen Kultur mit dem prestigeträchtigen Orden der Kunst und der Literatur aus. Doch als er einmal gefragt wurde, ob er mit seinem neuesten Projekt durch die USA touren würde, antwortete er traurig: „Amerika interessiert sich einfach nicht für das, was ich tue – und das war eigentlich schon immer so.“20

Ich fragte Robert Hood, wie er die Sache sah. „Die Nordamerikaner haben doch keinen blassen Schimmer, woher diese Musik stammt. Hier glauben alle, sie kommt aus Europa“, winkte er ähnlich resigniert ab. „Rasse spielt dabei eine Rolle. Im Verlauf der Zeit hat sich die Tendenz herauskristallisiert, schwarze Kunst und die Errungenschaften schwarzer Innovatoren abzuqualifizieren und zu belächeln. Doch die Frage, die sich nun stellt, lautet: Was wollen wir dagegen unternehmen? Wollen wir uns auflehnen und weiterkämpfen – oder sollen wir uns zurücklehnen und die Situation, so wie sie ist, einfach zur Kenntnis nehmen? Ich denke, dass wir aufstehen und uns zu Wort melden müssen. Wir dürfen uns nicht länger mit dem Platz hinten im Bus zufriedengeben.“

Sogar Ghetto Tech – jener unflätig krakeelende ortsansässige Verwandte von Miami Bass und Chicagoer Juke, der sich auch von Cybotron und frühem Electro hatte beeinflussen lassen und für den DJ Aussaults Track „Ass N Titties“ von 1996 (Textauszug: „Ass. Titties. Ass and titties. Ass ass ass ass ass and titties“) als Paradebeispiel gilt – schien in der City nicht weniger populär zu sein als klassischer Old-School-Techno. Auf dem Weg zum Movement Festival vibrierte und schnarrte die Karosserie des Taxis zu tiefergelegten, mit dem Arsch zuckenden Ghetto-Tech-Bassläufen und vulgären Tiraden testosterongesteuerter MCs, die sich aus dem Autoradio in den Innenraum des Wagens ergossen. „Do you want to fuck?“, fragt einer von ihnen rüde – als ob er noch einen Termin hätte und rasch zur Sache kommen müsste, um nicht in Zeitnot zu geraten. „Dirty fucker“, knurrt ein anderer. „Jump on this dick!“

Außerhalb der USA wurden Detroiter Techno-DJs – von Veteranen der alten Schule wie dem über 50 Jahre alten Delano Smith bis hin zu neuen Talenten wie dem noch nicht 30-jährigen Kyle Hall – immer noch frenetisch abgefeiert, ganz egal, wo auf der Welt sie gerade auftraten. Und trotz seines „Ruhestands“ bezüglich neuer Studioaufnahmen hatte sich Derrick Mays Backkatalog auch weiterhin als reichhaltiger Quell großer Freude erwiesen, auf den er immer noch gerne zurückgriff. 2014 begab er sich zusammen mit den mazedonischen Philharmonikern auf eine Tournee, in deren Rahmen er orchestrale Versionen seiner Transmat-Klassiker zum Besten gab. Jeff Mills brachte ein ähnliches Projekt mit den Philharmonikern aus Montpellier an den Start. Obwohl dieser musikalische Transfer von den Clubs in die Konzerthallen so gewirkt haben mag, als ob der Detroiter Techno sein Dancefloor-Mojo gegen hochkulturelle Anerkennung eingetauscht hätte, brachte die Stadt nach wie vor bahnbrechende Akteure hervor, die fortlaufend neu definierten, was diese Musik alles sein konnte.

Randvoll beladen mit Detroiter Mythologie, schafften es der funkige Minimalismus und die pervertierten Disco-Schnitttechniken des in Chicago aufgewachsenen Theo Parrish, der spätabendliche, halbseidene Groove eines Moodymann, die ungezähmte Anrüchigkeit und die durchgeknallte Psychedelia eines Omar S sowie die schrägen Epen Stacey Pullens alle, dem Genre im Verlauf der Jahrzehnte neue faszinierende Formen zu verpassen. Hier handelte es sich außerdem um einen Haufen eigensinniger Nonkonformisten, die, ganz in der freiheitsliebenden Tradition der Stadt, ihre Musik in der Regel lieber auf ihren eigenen Labeln veröffentlichten, um jegliche Einmischung von außen zu vermeiden. Auch Interviews, in denen sie sich selbst erklärten, blieben Mangelware – doch sobald sie einmal sprachen, gaben sie sich oft so direkt wie etwa Mad Mike Banks. Die meisten von ihnen galten als resolute Verfechter ihrer Heimatstadt. „Detroit ist eine sterbende Stadt, aber ich werde mit diesem Motherfucker zusammen draufgehen“, insistierte Moodymann alias Kenny Dixon Jr. „Ohne Detroit wäre ich nämlich nicht der Motherfucker, der ich heute bin. Ich lasse mein Baby also nicht im Stich, sondern bleibe hier.“21

Einer der Jüngsten unter ihnen, Kyle Hall, erblickte 1991 – dem Jahr, in dem „Riot“ von UR erschien – das Licht der Welt. Seit seiner Pubertät bediente sich Hall schon bei Elementen von House und Techno, um ihnen neue, originelle Formen zu verleihen. Das war noch bevor er je einen Rave besucht hatte. Als er endlich alt genug war, um Einlass zu finden, lag die Detroiter Szene ihm bereits zu Füßen. „Der ganze ‚War on Drugs‘ hat die Clubkultur praktisch gekillt. Deshalb hatte meine Generation kaum Gelegenheit, diese Erfahrung zu machen“, erklärt er. „Die Regierung ging so rigoros vor, dass alles mehr oder weniger illegal war, als ich erst mal volljährig war.“ Sein erstes Album The Boat Party erschien 2013 und steckte in einem markant spöttischen Cover, das Hall zeigte, wie er auf einem Motorboot saß, das inmitten einer desolaten, verschneiten urbanen Wüste gestrandet schien. Das Foto wirkte wie eine beabsichtigte Umkehrung des Playboy-Images à la Duran Duran, das DJs vermittelten, die auf Eintagesausflügen im Mittelmeer und der Adria den Ton angaben – ein Seitenhieb auf den in seinen Augen so dekadenten Mainstream. „Damals gab es in Europa, in Kroatien und so, viele Partys auf Booten, wo DJs auftraten“, erzählt Hall. „Es war, als ob sich Dance-Music zu einem Luxusartikel entwickelte, zu einer elitären Aktivität, aber gleichzeitig wurden DJs engagiert, die mit Benachteiligung und Rassismus zu kämpfen hatten und aus entrechteten Städten stammten. Diese Typen wurden angeheuert, damit sie einer bestimmten Klientel dienten, von denen wiederum keiner wirklich mit diesen Problemen vertraut war. Sie befanden sich in einer privilegierten Position. Deshalb sah ich darin ein ironisches Statement: Hier habt ihr eure Bootsparty!“

Noch als Teenager fand Hall in Omar S einen Mentor, der seine frühen Tracks auf seinem Label FXHE herausbrachte. Außerdem kooperierte er mit dem Techno-Pionier Anthony Shakir, der einer Generation entstammte, die doppelt so alt wie er war. Doch betont er auch, dass er sich nicht durch die ästhetischen Parameter des Detroiter Erbes einschränken lassen möchte: „Jeder, der sich über seine Herkunft Gedanken macht, empfindet Stolz darüber, was er ist – ein Gefühl der Orientierung. Allerdings kann sich das nicht nur motivierend, sondern auch beschränkend auswirken.“

Eins der Ideale, das er sich voll und ganz aneignete, war Detroits Tradition der Autarkie. So wie viele andere Produzenten aus der Stadt – angefangen bei Atkins (Metroplex), May (Transmat) und Saunderson (KMS) in den späten Achtzigern – gründete er mit Wild Oats sein eigenes Label, auf dem er seine Musik auf die Art und Weise veröffentlichen wollte, die ihm richtig erschien. „In Detroit hat immer schon ein besonderer Unternehmergeist unter den Schwarzen geherrscht“, erklärt er. „Dass dort keine Leute für dich da sind, um Dinge zu erledigen, fördert eine andere Art von Mentalität. Wenn man will, dass etwas erledigt wird, muss man sich eben selbst darum kümmern.“

„Es gibt ein Detroit, das man nicht in den Nachrichten zu sehen bekommt.“

John Collins, Underground Resistance

Die Premiere des Detroit Electronic Music Festival im Jahr 2000 sollte dem Ziel dienen, dieser Art von Musik in ihrer Heimatstadt eine Plattform zu bieten, erinnert sich Rita Sayegh, die zu den Filmemachern zählt, die an jenem unveröffentlichten Dokumentarfilm über diese Veranstaltung, The Drive Home, arbeiteten. „Als das Festival anfing, Gestalt anzunehmen, begriffen wir, was dies für ein großer Augenblick für Detroit und Techno wäre“, erzählt Sayegh, die als Designerin auch schon Craig, Hawtin und Mills mit Artwork versorgt hat.

„Nachdem die Stadt den Lagerhallen-Partys einen Riegel vorschob, alle Leute dingfest machte und quasi einen Schlussstrich zog, gab es eine Zeitlang keinen Ort, an dem man etwas hätte unternehmen können“, wirft Timothy Aten ein, der ebenfalls als Filmemacher bei besagtem Projekt involviert war. „Das Festival ermöglichte ihnen daher, endlich wieder zusammenzukommen und die Musik zu feiern, draußen unter freiem Himmel.“

 

„Es war überwältigend“, sagt Sayegh. „Als das Festival stattfand, herrschte ein Gefühl der Verbundenheit und Nähe – ein so großes, positives Gefühl, basierend auf dieser total idealistischen Vorstellung und angetrieben von dieser kleinen, eingeschworenen Gruppe kreativer Menschen. Und Derrick May hatte einen bestimmten Ausdruck in den Augen – ich bin mir sicher, dass er schon überall auf der Welt aufgetreten ist, aber während seines Auftritts sah er auf und wirkte dabei, als könne er das alles gar nicht glauben. Als könnte er nicht fassen, dass das in Detroit passierte.“

Doch die jährliche Veranstaltung bei freiem Eintritt, um deren Programm sich später May kümmerte, bevor ihn wiederum Saunderson beerbte, stand stets an der Kippe zum finanziellen Kollaps. Einmal musste May zehntausende Dollar aus seiner eigenen Tasche investieren, um den finanziellen Engpass zu kompensieren, der dadurch entstanden war, dass die Stadtverwaltung dem Festival ihre Unterstützung entzog. Daraufhin mussten einige Kreditgeber mehrere Monate lang auf ihr Geld warten und drohten zornig damit, ihn zu verklagen. Er wandte sich sogar an die Festivalbesucher, damit sie ihm zusätzlich ein wenig Kohle spendierten, um die Party am Laufen zu halten.

„Die Stadt hat mir kein Geld gegeben und ich durfte keinen Eintritt verlangen“, erinnert sich May. „Das Festival war in vollem Gange, als ich realisierte, dass ich nicht genug Geld hatte, um die Rechnungen zu bezahlen. Also stieg ich mit einem anderen Typen und einer großen Abfalltonne in einen Golfwagen. Wir schrien: ‚Gebt uns euer Geld! Das Festival muss abgebrochen werden, wenn ihr uns kein Geld gebt!‘ Wir sammelten ungefähr 20.000 Dollar. Das reichte zwar nicht aus, aber zumindest spendeten die Leute etwas.“

Letztendlich wurde der dreitägige Event, der fortan Movement heißen sollte, 2006 von einer Gruppe lokaler Veranstalter namens Paxahau übernommen, die schon in den Neunzigern mitgeholfen hatten, Raves in der Packard Plant zu organisieren. Paxahau stellte die Organisation auf professionelle Füße und fing an, Eintritt zu verlangen, womit das Überleben der Veranstaltung als großes US-Festival gesichert wurde. Doch als echte Techno-Jünger gaben sie sich auch Mühe, sicherzustellen, dass das Programm seine Underground-Credibility beibehielt.

„Wir sind aufrichtig überzeugt davon, dass wir als historische Fackelträger dieser Musik an jenem Ort agieren, wo sie ursprünglich entstanden ist“, klärte mich Sam Fotias, der operative Leiter von Paxahau, vor dem Festival im Jahr 2014 auf. „Es führt kein Weg daran vorbei, dass diese Stadt auch weiterhin ein Aushängeschild für diese Musik bleibt. Da ich ein Teil des echten Undergrounds und in der Lage war, mich mit dieser Gegenkultur zu identifizieren, sind uns diese Ideale und Prinzipien auch heute noch ein Anliegen. Tatsächlich haben sie für uns eine größere Bedeutung als alles Geld der Welt.“

Als Kraftwerk 2016 als Headliner bei Movement auftraten, war es wie eine Heimkehr, was auch der in Detroit aufgewachsenen Journalistin Tamara Warren, die schon beim ersten Festival auf der Hart Plaza 16 Jahre zuvor dabei gewesen war, nicht entging. „Als der Beat zu ‚Trans-Europe Express‘ einsetzte, zitterte ich“, schrieb sie. „Auf dem Bildschirm konnte man sehen, wie eine Projektion einer fliegenden Untertasse auf unserem Techno-Boulevard landete. Für Detroit – und jeden, der sich für die Geschichte authentischer elektronischer Musik interessiert – schloss sich in diesem Moment ein Kreis.“22

Doch wie Warren ebenfalls notierte, spiegelte das vorwiegend weiße Publikum unweigerlich die zunehmend größer werdenden ethnischen und wirtschaftlichen Klüfte der Stadt wieder, in der 40 Prozent der großteils schwarzen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten. Für diejenigen, die der Ansicht waren, dass das Festival etwas von seinem Geist eingebüßt hatte, als letztlich doch Eintritt verlangt wurde und neugierige Mitbürger aller Alters- und Einkommensklassen nicht länger einfach so vorbeischneien konnten, um sich selbst ein Bild von Techno zu machen, gab es nach wie vor billigere Alternativen wie das preisgünstige Charivari Festival oder das völlig kostenlose, für Einheimische konzipierte TecTroit, das fünf Jahre lang existierte, bevor es schließlich ebenfalls finanziell ins Trudeln geriet.

Außerdem gab es noch das Backpack Festival, das John Collins von Underground Resistance zu veranstalten half. Bei diesem Dance-Music-Benefiz spendeten die Besucher Rucksäcke gefüllt mit Schulsachen, die im Anschluss daran an bedürftige Kinder verteilt wurden. „Das passt zur Philosophie von Underground Resistance“, erklärt Collins. „Die Initiatorin heißt Judy Shelton, die zu unserer Szene hier gehört. Sie hat gesehen, wie Kids zur Schule gingen und ihre Bücher in Papiertüten trugen. Mitten im Winter. Sie hatten nicht einmal Schultaschen. Die Underground-Techno-Szene unterstützte uns und Derrick May war unser erster Sponsor. Alle sind sie hier aufgetreten – Juan, Kevin, Eddie Fowlkes. Und sie alle haben es umsonst getan. Wenn man aus den Problemvierteln stammt und später erfolgreich wird, muss man der Stadt auch etwas zurückgeben und die Leute inspirieren, damit sie wissen: Hier kommen wir her. Ich habe früher nichts gehabt und ich habe es so weit geschafft – und ihr könnt das auch.“

Idealistischer Aktivismus ist ein wenig bekannter, aber dennoch signifikanter Aspekt der Detroiter Techno-Szene. In dem kleinen Zirkel von Produzenten und DJs, die es vorgezogen hatten, in der Stadt wohnen zu bleiben, schien sich ein aufrichtiges Gemeinschaftsgefühl entwickelt zu haben. Trotz all der bitteren und entzweienden Dispute persönlicher Natur, die sich einer kleinen Szene nun einmal unweigerlich abspielen, herrschte immer noch tiefempfundene Empathie gegenüber jenen vor, die inmitten dieser sehr amerikanischen urbanen Kernschmelze am meisten leiden mussten. Ihr Mitgefühl inspirierte sie, etwas dazu beizutragen, die Stadt zu einem besseren Ort zu machen – oder zumindest das kulturelle Leben dort zu erhalten, damit man mit Stolz von sich behaupten konnte: Ich stamme aus Detroit. Die Stadt ist bankrott? Na und! Wir werden unsere Schwierigkeiten nicht nur überleben, wir werden sie auch bravourös bewältigen! „Die Dinge mussten sich ändern, und das passiert jetzt auch. Man kann es spüren, man kann es sehen“, behauptet Collins. „Nachdem Detroit ganz unten angekommen war, gab es nur noch einen Weg – nach oben!“ Und er stand nicht allein da, an diesem Wochenende in Detroit.

In einem downtown gelegenen Café, das sie für einen Abend in Beschlag genommen hatten, um dort ihre wöchentlich im Internet übertragene Radioshow aufzuzeichnen, erklären mir Tom Linder (alias T. Linder) und Bill Stay (DJ Seoul) von Detroit Techno Militia, dass sich ihre Stadt zwar zu einem sozialen Experiment in Bezug auf postindustrielles Überleben entwickelt hätte, aber dass sie auch an ein mögliches Revival der Metropole glaubten. Musik – vielleicht sogar Techno – könnte dabei eine Rolle spielen, sie wiederzubeleben. Vielleicht, nur vielleicht …

„Es gibt eine Geisteshaltung, die Menschen das Beste aus dem Mist machen lässt, der ihnen gerade zur Verfügung steht. Wir hoffen, dass wir uns so wie Berlin nach dem Mauerfall auch wieder erholen können“, erklärte mir Linder, während nahezu geräuschlos Land Cruiser auf der halb verlassenen Straße vor dem Café vorbeifuhren.

„Man sagt uns, dass es vorbei ist. Es heißt, Detroit hätte keine Zukunft – also müssen wir diese Zukunft selbst gestalten“, betonte Stacy, während Schatten sein Gesicht einrahmten, geworfen von sich ringsum auftürmenden Blocks, erbaut von Firmenmagnaten einer florierenden Metropole, die so nicht mehr existiert. „So oder so ist das hier meine Stadt – und ich bleibe hier. Ich werde mich nirgendwohin verziehen und ich werde zum Wachstum dieser Stadt beitragen. Die Seele, die es hier gibt, wird niemals sterben.“ Daraufhin verwies er auf Detroits lateinisches Stadtmotto: Speramus meliora, resurget cineribus. In etwa: „Wir hoffen auf eine bessere Zukunft, die sich aus der Asche erhebt.“



Die riesige Turbinenhalle beginnt zu grollen und zu brummen, als ob sich in ihr ein elektrischer Sturm zusammenbraut. Lärmimpulse zucken quer über die Gerüste hoch über uns, schwellen unablässig an, bis sie endlich in einen gebieterischen, motorischen Basslauf münden, die mächtigen Lautsprechertürme die einzelnen 808-Snare-Schläge ausspucken und sie durch den Raum jagen wie einen Hagelsturm im Wind. Das Soundsystem bläst Sub-Bass-Frequenzen durch unsere Mägen und Percussion-Salven detonieren wie Mörsergranaten, während uns Diskanttöne um die Ohren pfeifen und sich die nächste Klangwelle zusammenbraut, um erneut über unseren Köpfen zu brechen.

Viele Stunden sind bereits vergangen und die Musik wirkt nun wilder und unkontrollierter – sie rast irre wie eine Abordnung von Derwischen dahin und die Nacht wird an diesem Ort ewiger Dunkelheit zum Tag. Zeit hat hier ihre Bedeutung verloren und die Realität hat sich schon vor langer Zeit in eine Welt aus Schatten zurückgezogen. Hagere, kantige Mädchen und Jungs flippen inmitten des Geschehens aus – dort, wo der Sound am allerbesten ist. Haarknoten sprießen in ausgefallenen Winkeln auf ansonsten rasierten Schädeln, während ihre Besitzer abstrakte Muster in den tiefstehenden Trockeneis-Nebel schneiden. Sie lächeln nur für einander, sind aber ansonsten völlig vertieft in die Magie dieses kollektiven Rituals, das uns – zumindest in diesem Moment – alle verbindet.

Als das Morgengrauen in Tageslicht übergeht, scheinen sich die Tänzer um uns in ihrer Hingabe zielstrebiger zu bewegen, mehr hardcore … Als ob sie aus dem Nichts aufgetaucht wären, haben sich nun mehrere bärenartige Männer in Lederharnischen unter uns gemischt. Sie sind aus den Darkrooms im Untergeschoss hereingeströmt und haben sich bis auf ihre Suspensorien entkleidet, um ihre muskulöse Haarigkeit und robuste Männlichkeit zur Schau zu stellen. Nun drängeln sie sich zwischen schlanke Jünglinge in Adidas-Shorts und Fußballstutzen, die an verschollene Spielmacher einer Meisterfeier erinnern, halsstarrige Diven, bis auf ihre transparenten Dessous entblättert, sowie androgyne Charaktere in schrillen Outfits, die keine weiteren Rückschlüsse auf ihr Geschlecht zulassen. Alle sind sie Freaks, alle sind sie wunderschön … Ein schlaksiger Transvestit kühlt den DJ mit seinem Ventilator, während malende Rhythmus-Loops ineinanderfließen, um sich dann emporzuheben, zunächst betulich, dann aber immer forscher werdend, bis sie einen weiteren Höhepunkt erreichen und der DJ einen verheißungsvoll-lasziven Beat hineinpumpt, bevor er sich dem nächsten schrittweisen Aufbau ekstatischer Erlösung widmet.

Es scheint, als wären inzwischen Tage vergangen, seitdem wir die enorme Eingangshalle betreten und uns über all diese todernsten Tänzer gewundert haben, die sich in ihre Aerobic-Disco-Klamotten zwängten, als würden sie sich auf das schweißtreibendste aller Workouts vorbereiten. Anschließend strebten sie in freudiger Erwartung auf den Turbinenraum zu, während der gedämpfte Puls des Rhythmus immer klarer erklang. Vor uns, oben auf der Treppe, erschienen zwei elegante Silhouetten, wie aus gleißend weißem Licht herausgeschnitten. Waren sie männlich, weiblich oder etwas ganz anderes? Wen interessierte das hier drinnen wirklich? Als nächstes blickten wir staunend auf die wabernde Masse von adrenalingesteuertem Fleisch hinab, die sich über den Dancefloor unter uns erstreckte, angetrieben durch unwiderstehliche Kraft menschlicher Lebensfreude.

Die Wände zwischen dem Betonboden und der Decke des alten Kraftwerks erstreckten sich ganze 18 Meter in die Höhe. Tatsächlich erinnerte das Berghain mehr an eine Kulisse aus Fritz Langs Epos Metropolis als an einen Nachtclub. Seine monumental-brutalistische Architektur schien dem Zweck zu dienen, einem Individuum zu vermitteln, im Angesicht einer allmächtigen, rätselhaften Gewalt verschwindend klein, ja, fast unsichtbar zu sein. Die Tänzer unter uns erweckten den Eindruck, als ob sie erstklassige Statisten in diesem grandiosen Drama aus Sound, Chemie und Lust abgeben würden – perfekt kostümiert in strenges Schwarz und strahlendes Weiß, ihre Arme verziert mit kryptischen Hieroglyphen und runischen Phrasen, ihre Haare kompromisslos kurz.

 

Über eine weitere Metalltreppe gelangte man in die Panoramabar. Dort sickerte wie durch ein farbenfrohes, wenn auch weltlich geprägtes Kirchenfenster ein wenig Licht in diese Basilika fleischlicher Begierden, wobei es eine sanfte Wärme auf die darunter versammelten Menschen warf, die gegenseitig ihre entblößten Hautpartien liebkosten. Zwischenzeitlich erholten sie sich hier von ihren Strapazen und luden ihre Batterien mithilfe von allerhand Pillen, Pülverchen und Zaubertränken wieder auf.

Während die Stunden verfließen, fühlt es sich an, als wäre eine Art psychologischer Mauer durchbrochen worden und sämtliche unterdrückten Fantasien quellen hervor. Als ob alle Anwesenden mit der Menschenmenge sowie der Musik verschmolzen wären. In den verdunkelten Wandnischen und separierten Schlupfwinkeln sniefen und saugen die Boys unersättlich, quasseln und philosophieren, gestehen sich ihre Liebe, schwören sich ewige Freundschaft und offenbaren all die Dinge, die sie einander noch unbedingt mitteilen müssen, bevor die Nacht endgültig in den nächsten Tag übergeht und ihre lange Reise ihr Ziel erreicht hat.

„Berlin war schon immer hardcore.“

Tanith

Das Berghain galt als Inbegriff und Symbol des Berliner Nachtlebens in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts. Kein Nachtclub konnte sich je damit rühmen, gleichzeitig so imposant und mysteriös, gefürchtet und verehrt wie das ehemalige ostdeutsche Heiz- und Elektrizitätswerk zu sein – ein grauer Gigant, zum Mythos erhoben, sowie das prächtigste Aushängeschild der Techno-Kapitale Europas. Hier lebten all die verschwommenen Erinnerungen an jene für immer verloren geglaubten, makellosen Nächte wieder auf, die wir in Lagerhallen, Flugzeughangars und Fabriken erlebt hatten – ebenjene gewaltigen Räume, in denen wir uns so wunderbar verlaufen konnten und in transzendenter Trance verloren. Aber dies hier war keine dieser finsteren, für einen One-Night-Stand beschlagnahmten Locations. Vielmehr handelte es sich bei diesem gestrengen, scheinbar unerschütterlichen Gebäude nahe des Alten Ostbahnhofs um eine Institution: eine, die nur durch unbändigen Willen existieren konnte. Nicht nur die Mühen ein paar fähiger und passionierter Weniger hatten sie ermöglicht, auch historischer Zufall hatte hier Regie geführt.

Dieser Club existierte aufgrund von politischen wie kulturellen Mächten, die über einen bestimmten Zeitraum an einem spezifischen Epizentrum historischen Umbruchs aufeinander eingewirkt hatten – in Berlin, am Ende des Kalten Kriegs und rund um die deutsche Wiedervereinigung.

Während gedämpftes Techno-Wummern durch die Wände eines unaufgeräumten Büros dringt, das sich ebenfalls in einem ehemaligen Heizkraftwerk befindet und in das wir ebenfalls über eine Metalltreppe klettern müssen, versucht uns Dimitri Hegemann, Gründer des auf der anderen Seite der Spree gelegenen Tresor, zu erklären, wie wir hierher gelangt sind bzw. warum wir genau zur rechten Zeit gekommen sind, um daran teilhaben zu können.

„Ich komme aus einem kleinen Dorf und bin 1978 wegen der Dinge, die ich machen wollte, nach Berlin gezogen. Ich wollte ja die Welt verändern – aber das ließ sich vom Dorf aus nicht bewerkstelligen. Meine Eltern entstammen der Kriegsgeneration. Alles war sehr katholisch. Niemand wollte über Sexualität sprechen“, erinnert sich Hegemann und fährt sich dabei durch seine weißen Haare. „Mich inspirierte Woodstock und dass ich Pink Floyd gesehen hatte – diese Hippie-Vorstellung von Gemeinschaft. Also verschlug es mich auf der Suche nach Gemeinschaft nach Berlin, wo ich auf viele andere Leute traf, die wie ich Veränderungen herbeiführen wollten.“

Zu diesem Zeitpunkt war Berlin in den kommunistischen Osten und den kapitalistischen Westen aufgespalten. Die Mauer – oder „antifaschistischer Schutzwall“, wie sie die ostdeutschen Behörden nannten – war 1961 erbaut worden, nachdem die Stadt zunächst in vier Zonen unterteilt worden war, die von den USA, Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion verwaltet wurden. In der Mitte lag ein Niemandsland mit Stacheldraht und bewaffneten Posten auf Wachtürmen. Man wurde permanent daran erinnert, dass sich die Stadt zwischen den Fronten eines frostigen Konflikts befand, des Kalten Kriegs.

Berlin war zwar schon in den Jahren der Weimarer Republik eine freigeistige Metropole gewesen, doch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete sich allgemein düsterer und bedrohlicher. Heutzutage kann man sich nur schwer vorstellen, dass diese florierende Kulturhochburg in den Siebziger- und Achtzigerjahren als einer der unwirtlichsten Orte der westlichen Welt galt. Da junge deutsche Männer jedoch dem obligatorischen Dienst an der Waffe entgehen konnten, indem sie nach Westberlin zogen, und aufgrund der niedrigen Mieten und höheren Förderungen auf diesem tief im Osten verankerten Fleckchen Erde, entwickelte sich die Stadt zu einem Magneten für Nonkonformisten und Freidenker, die aus all dem düsterem Trübsinn sowie der bizarren Isolation kreativen Antrieb bezogen. Dazu zählten Squatter, Anarchisten, Linksaktivisten, Punks, Homosexuelle, Künstler, Musiker à la David Bowie und Iggy Pop sowie der konservativen Beschaulichkeit der deutschen Provinz entflohene Individuen wie Dimitri Hegemann.

„Berlin war wie eine Insel. Hier sammelten sich viele Leute, die anders dachten und andere Vorstellungen hatten, wie die Dinge laufen könnten. Aufgeschlossene Leute. Im Deutschen nennen wir solche Abtrünnigen auch ‚Querdenker‘“, erklärt Hegemann.

Ein paar dieser Querdenker trafen sich 1981 beim Festival Genialer Dilletanten, einer Zusammenkunft der urbanen Post-Punk-Clans. Hegemann initiierte daraufhin das jährlich stattfindende Festival Berlin Atonal, das Helden der Industrial-Musik wie Psychic TV, Test Department und lokalen Mitstreitern wie den Einstürzenden Neubauten eine Plattform bot. Westdeutschland konnte bereits auf eine lange Tradition musikalischer Innovatoren zurückblicken, in die sich etwa Kraftwerk, Tangerine Dream, Can, Faust, Amon Düül sowie andere Vertreter jenes Sounds einreihten, der in Großbritannien als Krautrock kategorisiert wurde. Dann war da noch die Neue Deutsche Welle – Deutschlands Antwort auf Postpunk –, die unkonventionelle Electro-Punk-Formationen wie DAF aus Düsseldorf oder auch die in Berlin beheimateten Malaria! hervorbrachte. Außerdem bastelte zur Mitte der Achtzigerjahre ein junger Mann, der sich zu Berlins erstem DJ-Popstar aufschwingen sollte, bereits an seinen frühesten elektronischen Tracks.

WestBam, bürgerlich Maximilian Lenz, hatte zunächst als Hommage an den New Yorker Hip-Hop-Pionier Afrika Bambaataa sowie sein Heimatbundesland Nordrhein-Westfalen unter dem Künstlernamen Westfalia Bambaataa firmiert. Beim Festival Genialer Dilletanten war WestBam noch als Frank Zerox aufgetreten, hatte dann 1983 seinen Novelty-Hit „17 (This is Not a Boris Becker Song)“ veröffentlicht, und war zwischenzeitlich auch nach Berlin gezogen. Dort legte er schon bald im Metropol Hi-NRG, Hip-Hop und Electro-Pop auf. 1984 verfasste er außerdem das bahnbrechende Essay „Was ist Record Art?“, in dem er seine Thesen aufstellte, denen zufolge „Cutten“ und „Scratchen“ einen Aufbruch zu neuen musikalischen Ufern darstellten. Tatsächlich sah er darin nicht nur eine „neue Art der Musikproduktion“, sondern „eine neue Produktions­methode für eine neuartige Musik“.1

Auf Hip-Hop folgten die Sounds aus Chicago, Detroit und New York – Klänge, die für Berlin einen kompletten Neuanfang bedeuteten. Matthias Roeingh, ein idealistischer junger Träumer, der zuvor bei der Punkband DPA gespielt hatte, die ebenfalls beim Festival Genialer Dilletanten aufgetreten war, und sich ab den späten Achtzigerjahren als DJ unter dem Pseudonym Dr. Motte einen Namen machte, beschreibt die frühen House- und Techno-Importe, die in diesen Tagen nach Berlin gelangten, als geradezu heilbringende Objekte.