Rave On

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Für junge Schwarze, die in den Achtzigern in Detroit aufwuchsen, entsprach die Zukunft nicht jener optimistischen Fünfzigerjahre-Vision von alles erleichternder Haushaltstechnologie, Tagesausflügen zum Mars und frei verfügbaren Jetpacks. Vielmehr wirkte die Zukunft bedrohlich und bösartig – nicht unähnlich jener Welt, wie sie im dystopischen Sci-Fi-Film Robocop gezeigt wurde, der damals rund um Detroit gedreht wurde. „Wenn du einen Blick auf die Achtziger wirfst, die Zeit, in der Techno aufkam, dann waren sie geprägt von Aids und von Crack, das seinen Weg in die Viertel fand. Es herrschte Rezession und die Kriminalitätsrate war so hoch wie nie. Ich kann mich sogar an eine Nachrichtenreportage erinnern, in der es hieß, dass in der Zukunft der durchschnittliche schwarze Mann in der Stadt keine 24 Jahre alt werden würde“, erzählt Harris. Techno, so meint er, sei ein Versuch gewesen, sich ein anderes potenzielles Szenario herbeizuträumen. „Statt alles als gegeben hinzunehmen, malten sich diese Typen eine ganz andere Zukunft für sich aus. Statt erschossen, drogenabhängig oder zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden, machten sie diese großartige Musik und bereisten die Welt. Sie haben somit inmitten all dieser Negativität praktisch ihre eigene Zukunft ersonnen. Manchmal geschah das bewusst, manchmal unterbewusst, aber diese Jungs taten genau das Gegenteil von dem, was von ihnen erwartet worden war. Sie schufen sich ihre eigene Zukunft – und das in der angeblich übelsten Stadt des Landes.“

Sich einen Weg nach draußen träumen … Ich erinnerte mich an etwas, das Juan Atkins 1988 mir bei unserem Interview gesagt hatte. „Um das neue Detroit aufzubauen, müssen wir das alte Detroit niederreißen“, versicherte er mir. „Es ist so leicht, in dieser Stadt vom Weg abzukommen. Es ist so leicht, einen jungen schwarzen Mann zum Drogenkonsum und zu kriminellen Handlungen zu verführen. Hier gibt es ja sonst nichts zu tun. Man kann nirgendwo hingehen. Die Szene ist tot. Deshalb klingt unser Zeug auch so, wie es das nun einmal tut.“10

Atkins hat von Techno oft als eine Art alternativer Realität gesprochen – einem Portal eines imaginieren Reiches der Freiheit. Doch 1988 sagte er auch, er wäre der Ansicht, dass es notwendig sei, die Geschichte auszulöschen, um die Zukunft erschaffen zu können. „Wir beabsichtigen, alles zurückzuweisen, was uns an die Vergangenheit erinnert“, insistierte er. „Wir setzen uns nicht hin und sagen, dass wir möglichst schräge Musik machen wollen. Sie ist einfach ein Resultat der Umstände. Detroit ist eine postindustrielle Stadt. Die Industrie stellt den Betrieb ein und die Technologie rückt in den Vordergrund. Die Stadt ist ausgelaugt und unsere Musik erhebt sich wie ein Phönix aus der Asche der zerbröckelnden Industrienation.“11

Man kann es sich kaum mehr vorstellen, nun da Techno rund um den Erdball quasi allgegenwärtig ist und die Geräuschkulisse von Rolands 808- und 909-Modellen so vertraut geworden ist wie ein auf einer Gibson Les Paul angeschlagener Powerchord, wie schrecklich fremd und unglaublich radikal dieser Sound klang, als er auf den Labels von May, Atkins und Saunderson – Transmat, Metroplex und KMS respektive – zum ersten Mal unters Volk gebracht wurde. So wie die House- und Acid-Tracks, die ungefähr zur gleichen Zeit aus Chicago kamen, besaß er eine fesselnde Simplizität und transzendente Intensität, die einfach spannend war. Wie der Produzent Stacey Pullen, ein Vertreter der zweiten Detroiter Welle, vermutet, verfügten diese frühen Aufnahmen über die eigentümliche Fähigkeit, dem Verstand Räume zu eröffnen und den Hörer in esoterische Sphären zu entführen. „Sie ließen mich Dinge anders begreifen. Wie wir als Menschen sind und für welchen Weg wir uns entscheiden sollen.“12

Inspiriert oder direkt angezogen von den Belleville Three und Fowlkes betrat rasch eine zweite Generation die Bildfläche. Dazu zählten Leute wie Mays begnadeter Schützling Carl Craig, Mike Banks, Jeff Mills und Robert Hood von Underground Resistance sowie die Gebrüder Lenny und Lawrence Burden und deren Band Octave One. Von der anderen Seite des Flusses, aus Kanada, stießen Richie Hawtin und John Acquaviva dazu, die Plus 8 Records betrieben und Platten des Detroiter Newcomers Kenny Larkin veröffentlichten.

Das war schon eine beachtliche Ansammlung von Talent innerhalb einer so kurzen Zeitspanne, mit einem künstlerischen Elan ausgestattet, der sich oft im Design ihrer 12-Inch-Vinyl-Veröffentlichungen widerspiegelte. Ihre Anziehungskraft war faszinierend – als ob wir Übertragungen aus einem Paralleluniversum empfingen, wie ich einst, nachdem ich einen Stapel Platten in der Stadt erstanden hatte, staunend feststellte: „Oft verbergen sich in der Auslaufrille Botschaften der Künstler: ‚Gönn dir einen Trip zu einem höheren Bewusstseinszustand‘, ‚Die Bedürfnisse Vieler sind wichtiger als die Bedürfnisse Weniger oder eines Einzigen‘ oder ‚Glaubst du an Hexen?‘ Manche muss man verwirrenderweise von innen nach außen abspielen. Andere sind mit selbstgezeichneten Tiefseetauchern, Astronauten und abgefahrenen Grafiken übersät. Wiederum andere weisen überhaupt keine Informationen auf, nur ein schwarzes Label in einer schwarzen Tüte oder stahlblaues Vinyl in weißer Schrumpffolie.“13

Doch mit Anbruch der Neunziger hatten die Pioniere des Techno bereits die Entscheidungsgewalt über das Genre, das sie erschaffen hatten, verloren. Musiker auf der anderen Seite des Atlantiks ließen sich zwar gerne von ihnen inspirieren, schlugen aber ihre jeweils eigenen Richtungen ein. Dies führte zu einiger Unzufriedenheit in Detroit. Es fühlte sich an, als ob schon wieder schwarze Musik von weißen Europäern für deren Zwecke ausgebeutet würde. Angetrieben vom scheinbar unstillbaren Verlangen nach neuen Aufnahmen aus der rasch wachsenden Rave-Szene dieser Tage, entwickelten sich die Briten, Deutschen, Belgier und Niederländer zu fleißigen Techno-Produzenten. Ein paar von ihnen wie 808 State, A Guy Called Gerald, Baby Ford und LFO errangen den Respekt ihrer Detroiter Kollegen. Andere jedoch galten als käufliche Trittbrettfahrer, die außerdem, was noch viel schlimmer war, über keinerlei Soul oder Groove verfügten. „Es ist einfach nur verfälschte Musik“, beklagte etwa Derrick May. „Das ist einfach nicht funky.“

Der Umstand, dass die europäische Rave-Szene von Ecstasy befeuert wurde, verstörte ebenfalls so manchen Detroiter Musiker. Die meisten von ihnen ließen sich nicht auf Chemikalien ein und hatten kein Verständnis für Leute, die das taten, obwohl diese frühen E-Konsumenten jahrzehntelang ihre treuesten Fans werden sollten. Für die Detroiter waren Drogen gleichbedeutend mit Crack, jenem mörderischen Gift, das dazu beigetragen hatte, Armageddon über ihre Stadt zu bringen. „Es war richtig befremdlich, all diese Leute auf Drogen zu sehen“, berichtete Lawrence Burden von Octave One über seine Erfahrung bei einem riesigen Rave, der Anfang der Neunziger in Deutschland stattfand. „Mich sprach das weder an, noch konnte ich verstehen, was da vor sich ging. Es machte mich ganz irre. Die Nacht der lebenden Toten. Ich dachte mir nur: ‚Sieh dir bloß diese ganzen Zombies an!‘“14

Auch verunsicherten sie ein paar der kulturellen Interpretationen, die Techno in Europa durchlief. So vereinnahmten etwa ein paar weiße Neo-Hippies die Rave-Szene als Anbruch einer neuen psychedelischen Revolution. 1993 bildete eine Podiumsdiskussion zum Thema Techno im Londoner Institute of Contemporary Arts die Plattform für einen ideologischen Showdown zwischen Derrick May und Fraser Clark, dem Herausgeber des Magazins Evolution und Promoter des in London ansässigen Hippie-Rave-Clubs Megatripolis. May sträubte sich gegen jegliche Verbindung zwischen Techno und Rauschmitteln: „Ich habe noch nie Ecstasy geschluckt, noch nie einen Joint geraucht. Nie. Ich brauche keine Drogen, die mich abheben lassen.“ Clark hingegen war ein psychedelischer Evangelist, der glaubte, dass Techno den Soundtrack zu neuheidnischen Ritualen lieferte, die die Menschen wieder mit den Ur-Energien der Erde in Kontakt brachten. Auf Ecstasy zu elektronischer Musik zu tanzen, stellte in seinen Augen einen schamanischen Ritus dar, der seinen Ursprung in uralten afrikanischen Ritualen hatte. Als Clark seine Sicht der Dinge teilte, fuhr May ihn angewidert an: „Wenn das ein afrikanischer Tanz sein soll, dann hätte mal jemand meinen Vorfahren in den Arsch treten sollen.“ May hatte an diesem Tag zwar die Lacher auf seiner Seite, doch es ließ sich nicht leugnen, dass die Gründerväter des Techno nicht länger diktieren konnten, wie ihre Musik zu verstehen wäre.

May gab es schließlich für ganze zwei Jahrzehnte auf, seine eigenen Aufnahmen zu veröffentlichen, was er mit seiner Desillusionierung bezüglich des Musikbusiness begründete. Er stritt hingegen ab, sich mit frühen Tracks wie „Strings of Life“ und „Nude Photo“ die Latte so hoch gelegt zu haben, dass er fürchtete, sie nie übertreffen zu können. Laut ihm traf er die Entscheidung 1991, als Atkins, Sanderson und er den Beschluss fassten, als Trio unter dem Namen Intelex aufzunehmen. Sie sahen Intelex als ihre eigene Interpretation von Kraftwerk, doch Trevor Horn, jener Mann, dessen breitflächige elektronische Produktionen Frankie Goes to Hollywood zu Stars machten, und Boss von ZTT, jenem Label, bei dem sie unterschreiben sollten, wollte sie, so May, kommerzieller ausrichten, als ihnen lieb war.

May sollte schließlich noch Material mit Steve Hillages Projekt System 7 aufnehmen, doch der Fehlschlag von Intelex bestätigte ihn in seiner verbitterten Sichtweise, woraufhin er bis 2016 nichts mehr veröffentlichte, als er zusammen mit dem Pianisten Francesco Tristano an einem Album arbeitete. „Ich war es gewohnt, Musik auf mich gestellt und auf meine Weise zu machen. Ich hielt mich dabei an meinen eigenen Zeitplan, egal, wie lange es letztlich dauerte“, erklärt er. „Ich war es nicht gewohnt, gesagt zu bekommen, was ich tun sollte, mit wem ich zu arbeiten hätte, oder dass ich etwas ändern müsste, weil jemand der Meinung war, dass es dann besser klingen würde.“ May arbeitete weiterhin als DJ, doch es waren andere, die die Musik vorantrieben, indem sie Inspiration aus ihrer eigenen Interpretation dessen bezogen, was Detroit bedeuten konnte.

 

Cornelius Harris und ich ließen das Underground-Resistance-Headquarter hinter uns und fuhren zur nahegelegenen Packard Automotive Plant, einer stillgelegten Autofabrik, die schon in den Fünfzigerjahren geschlossen worden war und seitdem zu einem heruntergekommenen Symbol dieser ruinierten Boomtown geworden ist. Wir stiegen vorsichtig über den Schutt hinweg und kletterten die gebrochenen Treppen hoch. Auf unserem Weg hinauf aufs Dach passierten wir Graffiti von dämonischen Fratzen und Smileys. Oben angekommen überblickten wir 330.000 Quadratmeter toter Industrie, von Plünderern leergeräumt und dem Verfall preisgegeben – eine frühe Warnung davor, was noch auf einen großen Teil der restlichen Stadt zukommen sollte.

Das Packard-Gebäude kam als akkurat apokalyptischer Drehort für diverse Hollywood-Filme zum Einsatz und fand sogar Erwähnung im wehmütigen Weltuntergangsgedicht The Last Shift des US-Poeten Philip Levine. Der britische Straßenkünstler Banksy verzierte hier einst eine Mauer mit einem Schablonenbild, das einen traurig dreinblickenden Jungen und die Worte „Ich erinnere mich, als hier nur Bäume standen“ zeigte. Es wurde später entfernt und die Detroit Free Press schrieb, dass es, sollte es je verkauft werden, mehr Geld einbringen würde als die gesamte verlassene Anlage wert wäre.

Hier in diesem mit Graffiti überzogenen Skelett eines Gebäudes veranstalteten in den Neunzigerjahren Richie Hawtin und John Acquaviva ihre Raves. Die beiden weißen Technoheads stammten ursprünglich aus Großbritannien und Italien, waren aber in den kanadischen Städten Windsor und London, nicht allzu weit von Detroit entfernt, aufgewachsen. Sie besuchten die Stadt regelmäßig, um Derrick May zu lauschen, der von 1988 bis 1990 im Music Institute von Mitternacht bis zum Morgengrauen auflegte. Mays manische Kunstfertigkeit befand sich damals auf ihrem jugendlichen Zenit, wie es Alan Oldham in einem Abgesang auf den nicht besonders langlebigen Club formulierte: „Oftmals spielte er über sein Fostex-Zweispurgerät Tracks, die er erst ein paar Stunden zuvor in seinem Studio fertiggestellt hatte. Das war etwas, das ich nie fassen konnte. Er wechselte zwischen dem Tonbandgerät und den Technics 1200ern hin und her und verwendete den Tonhöhenregler für das Tonband. Er schnitt, editierte und zerstörte auch die Tracks anderer Leute, etwa bei seiner abgefuckten Psycho-Neubearbeitung der Music-Institute-Hymne ‚We Call It Aciiiieeed‘ von D-Mob.“15

Nachdem das Music Institute seine Pforten schließen musste, sahen sich Hawtin und Acquaviva nach anderen Orten um, an denen sie ihre eigenen Partys veranstalten konnten. So wie in Großbritannien in den späten Achtzigern, als aufgrund der Rezession leerstehende Lagerhallen und Industriegebäude das perfekte Ambiente für illegale Raves boten, gab es auch in Detroit keinen Mangel an infrage kommenden Optionen. „Detroit besaß den Vorteil, dass es nicht schwer war, verlassene Gebäude und Ecken in der Stadt ausfindig zu machen, die die Polizei nicht wirklich kontrollierte und wo wir tun und lassen konnten, wonach auch immer uns eben war“, erinnert sich Hawtin. Im Packard-Gebäude überzogen sie die Wände mit schwarzem PVC und beschallten sie anschließend mit jenen gestört-psychotronischen Sounds, die ihre frühen Tracks, die sie auf ihrem Label Plus 8 veröffentlichten, so aufregend machten. „Die Leute begaben sich auf diesen irren Trip innerhalb dieses düsteren, mit schwarzem Plastik ausgeschlagenen Raumes. Man hatte dabei stets das Gefühl, als hätte sie die Intensität dieses Sounds zusammengebracht“, sagt Hawtin.

Eine der Packard-Partys 1993 stand ganz im Zeichen der Veröffentlichung von Hawtins erstem Album als Plastikman, Sheet One, einer beachtlichen Sammlung von Acid-House-Tracks mitsamt eines Covers, das an einen perforierten LSD-Blotter erinnern sollte. (Tatsächlich mutete das Cover so realistisch an, dass in Texas jemand für dessen Besitz sogar verhaftet wurde – die Polizei konnte einfach nicht fassen, dass es sich hier nicht um echte Drogen handelte!) Der Vibe jener Tage besaß zweifellos eine utopische Note, betont Hawtin: „Vermutlich zielte das Ethos von Techno auf eine glücklichere Zukunft ab. Auch glaube ich, dass das der Grund dafür ist, warum Techno in Detroit entstanden ist. Es bot für viele Menschen die Gelegenheit, einer vorbestimmten Zukunft zu entkommen. Elektronische Musik ermöglichte es uns, von einer glücklicheren Zukunft zu träumen – und tatsächlich schuf sie für viele von uns eine glücklichere Zukunft.“

Raves wurden also in stillgelegten Fabriken, Lagerhallen und sogar in einer Autowerkstatt organisiert, wo der DJ in einer Kabine aus übriggebliebenen Autoteilen auflegte. In den späten Neunzigerjahren begann die Polizei jedoch, gegen die illegalen Partys vorzugehen. Im Jahr 2000 war die Techno-Szene der Stadt schließlich in der Versenkung verschwunden. Detroit hatte der Welt den Techno geschenkt und die europäische Rave-Explosion entfacht, doch zu Hause waren die Pioniere de facto Unbekannte, die nur mehr auf sehr wenige Locations für ihre Auftritte zurückgreifen konnten.

„Detroit war ein soziales Experiment im großen Stil. Die Zukunft Amerikas nahm hier ihren Ausgang.“

DJ Seoul, Detroit Techno Militia

Der Detroiter Autor Charlie LeDuff beschrieb seine Heimatstadt als „postindustriellen Sarkophag“.16 Derrick May hat seine eigene Bezeichnung auf Lager. „Detroit gleicht dem Wrack der Titanic – nur eben über der Wasseroberfläche“, erklärt er, als wir auf der Dachterrasse seines Studios in der Gratiot Street sitzen, während langsam die Dämmerung über die Stadt hereinbricht. Die warme Abendluft fühlt sich sanft an und trotz heulender Polizeisirenen unten auf der Straße kann man immer noch verspieltes Vogelgezwitscher hören. Auf der anderen Straßenseite sind die Fenster, die Mays Studio gegenüberliegen, zugemauert worden. Im Erdgeschoss befindet sich ein Shop namens Cheap Charlies, in dem man Arbeiterklamotten aus zweiter Hand und Krimskrams für einen Dollar erstehen kann. An der Ampel stehen ein paar Reklamewände, auf denen unter anderem Cheeseburger und Kredite angepriesen werden. Die Zielgruppe scheint offensichtlich. Obwohl Eastern Market sich langsam zu einem der angesagtesten Viertel der Stadt mauserte – mit neuen Boutiquen und Hipster-Restaurants, die entlang des Techno-Boulevards eröffneten –, richteten sich die Werbeslogans nicht an die Wohlhabenden. Wir befanden uns nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, wo Zehntausende sich für die größte Rave-Party des Jahres versammelt haben. Allerdings gab es hier nur wenig Anzeichen für Leben – abgesehen von ein paar Stadtstreichern, die an diesem Freitagabend vorbeiflanierten.

Als ich May 1988 zum ersten Mal interviewte, befand sich Detroit bereits seit Jahrzehnten in einer wirtschaftlichen Abwärtsspirale. Dennoch war es mit einer Bevölkerung von ungefähr einer Million Menschen immer noch die siebtgrößte Stadt der USA. „Seventh City Techno“ lautete sogar die Überschrift der ersten großen Reportage über Techno, einem bahnbrechenden Artikel von Stuart Cosgrove, erschienen in der britischen Jugendkultur-Zeitschrift The Face. „Zehn Jahre nachdem Motown in wärmere Gefilde weitergezogen ist, bewegt sich die Motor City zu einem Beat, der eher aus Henry Fords Fabriken denn aus Berry Gordys Träumen entsprungen zu sein scheint“, versprachen die einleitenden Worte. „Techno ist der Sound des jungen Detroits: maschinell und von Verzweiflung getrieben.“ May belieferte Cosgrove für seinen Artikel mit seinem berühmtesten Zitat und beschrieb Techno als Sound, der klang „wie Kraftwerk und George Clinton, die in einem Fahrstuhl feststeckten – und nur ein Sequenzer leistet ihnen dabei Gesellschaft“.17

Seit fast 25 Jahren konnte sich Detroit nicht mehr als Amerikas siebtgrößte Stadt bezeichnen. Vielmehr war es aus den Top-20 der größten US-Städte gepurzelt. Die Bevölkerung umfasste nicht einmal mehr 700.000 Menschen, was ungefähr jener Einwohnerzahl entsprach, die Anfang des 20. Jahrhunderts, zu Beginn des Automobil-Booms, die Stadt bevölkert hatte. Allein zwischen 2000 und 2010 war die Einwohnerzahl um unglaubliche 25 Prozent gesunken – ein wahrer Exodus. Mehr als 80.000 Gebäude standen leer. Es war nicht unbedingt verwunderlich, dass sich die Auswirkungen dieser Abwanderung im Straßenbild bemerkbar machten. Das Fehlen von Menschen vermittelte ein unheimliches Gefühl – als ob eine Epidemie oder ein gewaltsamer Konflikt die Menschen dahingerafft hatte. Der urbane Verfall hat eine bizarre Landschaft erschaffen, in der sich erblühende Enklaven bourgeoiser Beschaulichkeit an heruntergekommene Häuserblocks schmiegen, wo ausgebrannte Wohnungen ins Auge stechen und verfallende Fabrikgebäude inmitten eines Niemandslands thronen. „Detroit vermittelt einem das Gefühl eines Ground Zeros für … na, was denn eigentlich?“, fragte Autor Mark Binelli in seinem Buch über seine Heimatstadt. „Das Ende des amerikanischen Traums? Oder den Anfang von etwas anderem?“18

Detroit wurde 2013 tatsächlich für insolvent erklärt, der größte Bankrott einer Stadt in der Geschichte der USA. Der Titel eines ungefähr zur gleichen Zeit von Underground Resistance veröffentlichten Tracks stellte eine berechtigte Frage: „Has God Left This City?“

Die Unterhaltung, die wir an diesem Abend im Transmat führten, drehte sich um die aktuelle Einwohnerzahl und darüber, dass der Detroiter Polizeichef James Craig, ein Cousin Carl Craigs, den von Kriminalität heimgesuchten Bewohnern der Stadt gerade in der Verbandszeitschrift der National Rifle Association hatte ausrichten lassen, sich besser zu bewaffnen. „Die Leute können sich kaum vorstellen, dass ich immer noch hier wohne. Sie fragen mich, warum ich immer noch in Detroit bin“, erklärt May. „Aber ich bin glücklich. Ich habe alles, was ich brauche. Außerdem kann ich ja mit dem Flugzeug überall hin, wohin es mich gerade zieht. Warum sollte ich also abhauen?“

Zudem war rund um die Jahrtausendwende etwas Seltsames passiert. Nachdem ihre verhärmte Stadtlandschaft von Fotografen wie Camilo José Vergara und Websites wie The Fabulous Ruins of Detroit in all ihrer heruntergekommenen Pracht verewigt worden war, hatte sich die Stadt zu einer Touristenattraktion bei Fans von sogenanntem ruin porn entwickelt. „Die Besucher kommen, um eine Stadt zu erleben, die aussieht wie das Set eines Katastrophenfilms“, sagte May. „Sie besichtigen die Ruinen, in denen wir nach wie vor wohnen.“

Detroit war jener Ort, an dem sich die Flutwelle des Autokapitalismus im 20. Jahrhundert gebrochen und anschließend wieder zurückgezogen hatte. Hinterlassen hatte sie dabei eine urbane Schutthalde, die tatsächlich mitunter so aussah, als hätte hier ein Tsunami gewütet. Dies leistete unweigerlich einen Beitrag zur Mystik rund um Techno und verstärkte die pervertierte Romantik, die dessen europäische Bewunderer so in ihren Bann zog. „In Bezug auf Detroit gibt es in Europa diese Blade-Runner-Fantasie, bei der sich wunderbare Musik aus den Betonruinen erhebt“, sagt Alan Oldham. Eine Musik, die einem die Flucht in den Kosmos oder hinunter in die Tiefen des Meeres ermöglicht, erfüllt von apokalyptischen Visionen aus einer Welt, über die die ewige Nacht hereingebrochen war, voller zorniger Lärmausbrüche, mit denen ein Aufstand gegen einen brutalen Unterdrücker untermalt werden konnte.

Doch gab es nun noch etwas anderes, das in Detroit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermochte: städtisches Farmland und Gemeinschaftsgärten auf verlassenen Grundstücken, auf denen einst Häuser gestanden hatten. Neue Bewohner waren eingezogen. Bohemiens und unerschrockene Künstler, die die Landschaft für sich in Beschlag nahmen, als ob die Motor City das neue amerikanische Grenzland darstellte. Nicht nur die niedrigen Mieten und die Freiräume, die zum Experimentieren einluden, lockten die jungen Kreativen an, sondern auch die progressive Aura, die zum Entstehungsprozess von Techno beigetragen hatte. „Detroit ist ein Paradebeispiel für das, was die Propaganda bezüglich der Vereinigten Staaten gerne verkündet. Du hast die Freiheit zu tun, was du willst – und du kannst es zu deinen eigenen Bedingungen tun“, betonte Carl Craig. Ein Hochglanzmagazin, das ich am Flughafen kaufte, verkündete sogar, dass die Stadt „Amerikas großartigste Comeback-City“ wäre. „Tausende dieser neuen Siedler kommen hierher. Vielleicht, bloß vielleicht, bleiben ja ein paar von ihnen hier und tragen dazu bei, eine neue kreative Kaste zu bilden, die dabei behilflich ist, die Stadt wiederaufzubauen“, mutmaßte May.

 

Ein Symbol der erhofften kreativen Revitalisierung war das Heidelberg Project – eine Fläche, die ungefähr zwei Häuserblocks entsprach und vom Detroiter Künstler Tyree Guyton als surreales urbanes Stückwerk neu imaginiert wurde: Häuser, Bäume und alte Autos, die mit einem wilden Wirrwarr hausgemachter Holzuhren, abgelegter Kinderspielsachen, einzelner Schuhe und allerlei Haushaltsgegenständen verziert waren, die Guyton gesammelt hatte, um ihnen auf diese Weise einen neuen Sinn zu verleihen. Tatsächlich handelte es sich bei ihm um einen alten Freund Derrick Mays, der seine Kunst in mancherlei Hinsicht auf dieselbe Weise verstand, als alchemistischen Akt, bei dem Verfall in Schönheit umgewandelt wurde. „Es ist Magie – so wie das, was Derrick macht. Es geht darum, anzunehmen, was einem das Leben hat zukommen lassen, um dann etwas Besseres damit zu machen. Kunst funktioniert als Medizin, so wie auch Musik. Es hilft einem dabei, klar zu sehen“, erklärt Guyton. „Derrick hob die Musik auf eine neue Ebene. Ich mache das Gleiche mit Kunst und hebe sie auf eine neue Bewusstseinsebene. Ich verwende die Kunst, um Umgebungen zu transformieren – und auch Menschen.“

Unabhängige Kunstprojekte, städtische Farminitiativen auf verlassenen Grundstücken und hippe Restaurants wie das vielsagend benannte Craft Work erzeugten jede Menge Medieninteresse, obwohl sich einige Anwohner verständlicherweise skeptisch zeigten, wie viel ein paar enthusiastische weiße Bohemiens zu retten imstande wären. Immerhin war das mehrheitlich schwarze Detroit immer noch die ärmste Großstadt der USA und benötigte eine umfassende finanzielle Wiederbelebung. „Es heißt, Kunst und Kultur würden die Stadt retten können, doch ich sehe das sehr skeptisch“, sagte Mike Banks, während er seinen Blick von der hinteren Veranda des Underground-Resistance-Gebäudes aus über ein Grundstück schweifen ließ, das von postindustriellen Pilgern bestellt wird. „In den Problemvierteln hast du drei Möglichkeiten, wenn du ausbrechen willst. Du kannst dich dem Sport widmen, du kannst in der Fabrik arbeiten, wenn sie gerade ein paar Autos verkaufen, und du kannst dich dem Militär anschließen. Wir sind hier ja so was von gefickt. Der Kapitalismus frisst der Demokratie den Arsch ab.“

Und dennoch stellte sich immer noch die Frage, ob die Stadt – vielleicht, nur vielleicht – wieder von einem Aufschwung erfasst werden könnte. „Wer weiß das schon? In Detroit sind schon verrücktere Dinge passiert“, sinnierte Mark Binelli 2013. Es ist ein so durchgeknallter Ort, dass die wildesten Experimente, Ideen, die in keiner funktionierenden Stadt jemals ernst genommen würden, hier vielleicht eine Chance hätten.“19

Jeder, der während des Movement-Festivals im Mai 2014 rund um die Hart Plaza abhing, konnte sich eventuell weismachen, dass diese Art von Optimismus nicht fehl am Platze war. Vielleicht, ja nur vielleicht … Wenigstens ein Wochenende lang war Downtown Detroit zum Leben erwacht. Immerhin machten die Kinder des Transmat, des Metroplex, des KMS, von UR und Submerge sowie Carl Craigs Planet E und all die anderen ihre Aufwartung. Die Straßen der Innenstadt waren voller Technoheads: obsessive Electronic-Music-Fans in kultigen T-Shirts mit Plattenlabel-Motiven, jugendliche „Candy Raver“ in farbenprächtigen Cyber-Outfits, mit kindischen Rucksäcken und fluffigen Moonboots ausstaffiert, Hipster mit akribisch gestylten Bärten, aufgepumpte Sportskanonen in Shorts und geschmeidige Disco-Queens in Hotpants sowie gewöhnliche Männer und Frauen jeglicher Hautfarbe, die Techno schon immer geliebt hatten – und immer lieben werden. Ein paar Ausgeflippte waren sogar kostümiert erschienen. Da fanden sich etwa ein Captain America und ein Mann, der sich als Sternenbanner verkleidet hatte, sowie ein wunderlicher Kleinwüchsiger, der von Kopf bis Fuß in einem purpurnen Bodystocking steckte, was ihm die Optik eines Zeichentrick-Kobolds verlieh. Außerdem präsentierte sich ein Mädchen nur in Höschen und BH, dafür aber mit chirurgischen Bandagen, die ihr ganzes Gesicht verhüllten.

Techno war selbstverständlich omnipräsent an diesem Wochenende: überall in der Innenstadt und nicht nur auf dem Festival, sondern auch bei Afterpartys, Symposien, Vorträgen, spontanen Raves, die mithilfe tragbarer Soundsystem auf Gehwegen initiiert wurden, in Plattenläden, im Rahmen von Internet-Broadcasts und zufälligen Begegnungen von Gleichgesinnten aus allen Ecken der USA und auch darüber hinaus. Sogar ein ältlicher frommer Prediger hatte Lautsprecher auf dem Bürgersteig postiert und bolzte nun Hard Trance, während er dazu bizarre atonale Riffs auf seinem Keyboard improvisierte. Neben seinem Kommandostand ermahnte ein Plakat die Passanten: „Gebt euer Herz Jesus.“

In einer Reihe von Verkaufsständen wurde eine Auswahl von T-Shirts mit Slogans und Motiven feilgeboten, die die Loyalität der Partygäste zur Stadt, ihrem Stamm und den Drogen zum Ausdruck bringen sollten: „Detroit Hustles Harder“, ein Siebdruckporträt von Frankie Knuckles mitsamt dem Motto „Frankie Forever“, eine Karikatur eines Aliens, der sich gerade ein paar bunte Pillen gönnte.

Am Flussufer hypnotisierte der Berliner DJ Dixon (bürgerlich: Steffen Berkhahn) die Hörerschaft mit seinem brummend-dröhnenden Sound und Tönen, die sich wanden und dahinschlängelten und miteinander harmonierten wie die tiefen Register einer Kirchenorgel, während sie von einem voluminösen Dub-Bass untermalt wurden. Schwaden von Marihuana-Rauch stiegen von der nahegelegenen Jungle-Stage auf, während ein paar junge Tänzer mit hyperkinetischer Beinarbeit zu bestechen wussten, Crusties in Kampfstiefeln durch die Gegend hoppelten und Männer mittleren Alters um einen mit aufwendigen Schnitzarbeiten verzierten Holzstab zappelten.

Doch der harte Kern der Techno-Aficionados hatte sich vor der „Made in Detroit“-Stage versammelt. Dort hatten sich die urbanen Bohemiens in Tanzzirkeln arrangiert, um zu den Grooves lokaler Legenden wie Mike Huckaby, Delano Smith, Terrence Dixon, Kenny Larkin und Stacey Pullen ihre anmutigen Moves der Öffentlichkeit zu präsentieren. Allein schon die Energie und der Elan, den die jüngere Generation lokaler DJs im Verlauf des Wochenendes auf die Bühne brachte, ließ erahnen, dass Techno der Marke Detroit als Genre noch längst nicht zum alten Nostalgie-Eisen zählte und ausschließlich von seiner ruhmreichen Vergangenheit zehrte.

Dennoch war es ein Mann aus der Frühphase des Hi-Tech Soul, ein Produzent, der schon auf jener Techno-Compilation von 1988 vertreten war, der allen anderen die Show stahl. Anthony „Shake“ Shakir, der an multipler Sklerose litt und dem Publikum von seinem Rollstuhl aus einheizte. Er vermengte Old-School-Techno mit „Wheel Me Out“ von Was (Not Was) aus Detroit, bevor er Derrick Mays „Strings of Life“ droppte und damit Detroiter sämtlicher Ethnien, Teenager wie Menschen mittleren Alters, Jungs mit Afros ebenso wie Männer mit ergrauten Schläfen, in einem transzendentalen Augenblick gemeinschaftlicher Ekstase in die Höhe springen ließ. Shakir kratzte die Kurve mit einem erstaunlichen, überaus virtuos vorgetragenen Mix, bei dem er zehn Minuten lang hin und her switchte und malende Beats aufeinanderprallen ließ, bevor er wieder in den Groove zurückfand, bei dem der Rhythmus sich von avantgardistischer Percussion über pulsierenden Eurobeat bis hin zu Disco-Tollerei transformierte. Während er weiterhin sein Ding durchzog, schwang eine große Rothaarige in Cowgirl-Jeans einen Hula-Reifen um ihren Körper. Sie wand und drehte sich, von himmlischer Euphorie ergriffen.