Petrus Canisius

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Der Tiroler Landesfürst Ferdinand II. wünschte sich eine Belebung der eingeschlafenen Seefelder Wallfahrt. Zu diesem Zweck brachte Petrus Canisius 1580 ein Buch heraus, in dem er das Sakramentswunder von 1384 und die damit verbundenen Gebetserhörungen bewarb.

Nun beherrschte Petrus Canisius zwar ganz nach dem damaligen Zeitgeschmack das Format der kleinen frommen Erbauungsschrift, aber auch im Alter dachte er noch immer in monumentalen Kategorien. Seine umfassende Erklärung bzw. Anleitung zur Lektüre und Meditation der Evangelien aller Sonntage und aller Feiertage des Kirchenjahres, die man als sein eigentliches Alterswerk bezeichnen kann, entsprach diesen monumentalen Kategorien.73 Sie wurde 1591 und 1593 unter dem Titel Notae in Evangelicas Lectiones in zwei Bänden im Umfang von sage und schreibe 1172 und 864 Seiten gedruckt. Dieses Büchergebirge schlug voll ein. Besonders begeistert war der Bischof von Lausanne, der seinem ganzen Klerus vorschrieb, sich diese beiden Bände anzuschaffen und der eigenen Predigttätigkeit zu Grunde zu legen. Wie viele Landpfarrer sich wirklich durch diese über zweitausend Seiten lateinischer Bibelauslegung mit ihrem umfassenden biblischen (und z. T. patristischen) Anmerkungsapparat durchgearbeitet haben, ist zwar fraglich. Viele, die sich ihres Lateins nicht wirklich sicher waren, werden froh gewesen sein, dass immer wieder Ausgaben mit deutschen Übersetzungen auf den Markt kamen. So oder so: Dass Petrus Canisius auf dem Umweg dieser beiden Bände auf vielen Kanzeln in der Schweiz und darüber hinaus direkt oder indirekt zu Wort gekommen ist, ist jedenfalls sicher.

Und doch: Bei all seinen zahlreichen Aktivitäten war der alte Mann in Freiburg, der vom Kupferstich aus den 1590ern herabblickt, genau das: ein alter Mann. Aufgrund eines Schlaganfalls im Jahr 1591 und wegen zunehmender körperlicher Schwäche hatte er schon mit kaum siebzig Jahren das Predigen und damit seine wahrscheinlich größte Leidenschaft aufgeben müssen. Bei seiner letzten öffentlichen Ansprache 1596 anlässlich der feierlichen Eröffnung des neuen Kollegiengebäudes der Jesuiten, zu der die Freiburger Jesuiten ihren großen alten Mitbruder noch einmal hervorgeholt hatten, hatte er sich nur noch mit einem kaum hörbaren Flüstern äußern können. Die Publikation seiner beiden dickleibigen Evangelienerklärungen war in gewisser Weise auch so etwas wie eine Verlegenheitslösung dieses leidenschaftlichen Predigers gewesen, der etwas produzieren wollte, das wenigstens „andern zum Predigen nützlich sein kann“74, wenn er schon selber nicht mehr predigen konnte.


Die zweibändigen Notae in Evangelicas Lectiones (Hinweise zu den Lesungen aus den Evangelien) von 1591/93 sind das Alterswerk von Petrus Canisius. Geschrieben hat er es für die katholischen Prediger, die sich oft schwer damit taten, über die biblischen Texte in den Gottesdiensten zu predigen.


Dieses Kästchen von Petrus Canisius zur Aufbewahrung von Schreibutensilien wird im Münchener Jesuitenarchiv bis heute als besonderer Schatz gehütet. Zu Recht: In ihm verkörpert sich der Vielschreiber Petrus Canisius, der zigtausende Seiten geschrieben hat – als Buchautor, als Briefschreiber und als Prediger.

Petrus Canisius hatte sich in seinem Leben verbraucht und man sah es ihm offenbar auch an. Als ein französischer Gelehrter 1594 auf einer Reise durch die Schweiz in Freiburg Station machte, schätzte er ihn auf weit über 80. Tatsächlich war er gerade einmal 73 Jahre alt.75 Dass in dieser letzten Phase seines Lebens von einem unbekannten Maler ohne sein Wissen eine Porträtskizze angefertigt worden war, hatte zweifellos auch damit zu tun, dass man allgemein damit rechnete, dass er nicht mehr lange leben würde. Man wollte die Züge dieses berühmten Mannes noch rechtzeitig für die Nachwelt erhalten.

Aber nicht nur die anderen, auch der alte Petrus Canisius selbst war sich sehr bewusst, dass er vom Leben nicht mehr viel mehr als den Tod erwarten konnte. Das bedeutete für einen frommen Katholiken wie ihn natürlich in erster Linie, sich geistlich auf den Übergang ins Jenseits vorzubereiten. Das Einüben in einen guten Tod gehörte zum Standardrepertoire der frühneuzeitlichen katholischen Frömmigkeit, das man aus dem Spätmittelalter herübergerettet und sogar noch intensiviert hatte. Petrus Canisius dürfte mit diesem Einüben schon früh begonnen haben,76 besonders intensiv wahrscheinlich ab dem 50. Lebensjahr, denn ab da galt man gemeinhin als Greis. Und tatsächlich sinnierte er 1574 und damit im Alter von 53 in einem Brief darüber, dass er sich nunmehr „dem Tore des Todes“77 nähert. Er wollte nicht den Fehler seines Vaters machen, der „vom Tod ereilt wurde, ehe er die Kunst gut zu sterben verstand“78. In den 1590er Jahren, mit über 70, war die Vorbereitung auf den Tod noch dringlicher geworden. Es war ja, wie er einen Mitbruder wissen ließ, „das besondere Kennzeichen der wahren Diener Gottes, seine Todesstunde immer vor Augen zu haben und sein Leben in Ordnung zu bringen, um dann das Ende dieser Lebenszeit mit bereitem und frohem Herzen anzunehmen“79. Es war endgültig an der Zeit, sich „reisefertig zu machen und vor dem Tode meinen letzten Willen aufzusetzen“80, damit „ich in dieser gegenwärtigen Sterblichkeit ein heilsames Lebensende erreiche“81. Ende 1596 oder Anfang 1597 wurde dementsprechend ein jüngerer Mitbruder abkommandiert, dem er sein geistliches Testament diktierte. In diesem Testament spricht Petrus Canisius am Ende seines Lebens und damit quasi direkt von seinem Altersbildnis herab.

Ähnlich wie schon etwas mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor in seinen etwas umfangreicheren Bekenntnissen82 wollte er damit nach dem „Beispiel des großen Bischofs von Hippo und berühmten Kirchenlehrers Augustinus“83 sein Leben in Form eines geistlichbiographischen Rechenschaftsberichts Revue passieren lassen. Er war nicht zuletzt auch darin ein guter Schüler des Augustinus, dass er seine von außen betrachtet unbedeutend kleinen Jugendsünden besonders grell hervorhob und überhaupt immer wieder darauf hinwies, dass er das Leben eines „Unwürdigen“84 gelebt habe und er bei aller seiner Arbeit ein „unnützer Knecht“85 gewesen sei. Wenn ihm in seinem Leben etwas gelang, dann war das immer der göttlichen Barmherzigkeit zuzuschreiben; bei „jedem Unternehmen verdankte ich den glücklichen Ausgang ausschließlich der Gnade Gottes“86.

Aber das Testament ist nicht nur ein eindrucksvolles Zeugnis der tiefen Demut des altgewordenen Petrus Canisius, sondern auch ein Zeugnis seines bemerkenswerten Selbstbewusstseins. Er war sich am Vorabend seines Todes sehr bewusst, dass er in seinem Leben für die Gesellschaft Jesu in Deutschland und darüber hinaus von ganz entscheidender Bedeutung gewesen war, und er wollte dafür sorgen, dass das auch der Nachwelt überliefert wurde. Denen, die „einmal die Geschichte unserer Gesellschaft Jesu erforschen oder darstellen werden“, wollte er „über mich und mein bisheriges Leben einen zuverlässigen Bericht“ hinterlassen.87 Seine eigene Lebensgeschichte wollte er nicht einfach den späteren Historikern überlassen; er wollte vorab dafür sorgen, dass diese Lebensgeschichte auch in seinem Sinne geschrieben würde. Immerhin hatte er „in dem von Christus übernommenen Beruf einiges geleistet“88 und hatte dafür „viel Dank und Anerkennung“89 gewonnen. Das durfte man der Nachwelt durchaus überliefern. Es war nicht die Karriere geworden, die sich sein ehrgeiziger Vater Jacob Kanis etwa 70 Jahre früher für seinen Erstgeborenen ausgemalt hatte. Es war viel mehr.

Petrus Canisius überlebte die Niederschrift seines geistlichen Testaments nicht lange. Am Nachmittag des 21. Dezember 1597 und damit nicht einmal ein Jahr später starb er in einem Zustand völliger Entkräftung. Dass dieser große Marienverehrer mit dem Ave Maria auf den Lippen gestorben ist, ist zwar eine fromme Erfindung seines ersten Biographen Jakob Keller90; dass er so fromm gestorben ist, wie er gelebt hat, ist jedoch bestens belegt. Er hat auf seinem Sterbebett bis kurz vor seinem Tod aus einem Notizbuch selbstaufgezeichnete Gebete gelesen. Als ihm das nicht mehr möglich war, hat er sich nach dem Empfang der Sterbesakramente ein Kruzifix und eine geweihte Kerze geben lassen. Unter den unermüdlichen Gebeten seiner anwesenden Mitbrüder gab er dann ohne sichtbaren Todeskampf den Geist auf. Er war 76 Jahre alt geworden.

Wie es sich für einen heiligen Mann gehörte, war sein Tod nicht sein Ende – im Jenseits nicht, aber auch nicht im Diesseits und da vor allem nicht an seiner letzten Wirkungsstätte Freiburg. Die Freiburger, die ihn im Leben geliebt hatten, liebten ihn mindestens so sehr auch im Tod. Er wurde sofort wie ein Heiliger verehrt, dem im Laufe der kommenden Jahre viele Heilungswunder zugeschrieben wurden, vor allem an Müttern und Kindern. Als im Jahr 1625 sein Grab in der städtischen Nikolauskirche – die heutige Kathedralkirche der Diözese – geöffnet wurde, um seine Überreste in die neu errichtete Michaelskirche der Jesuiten zu übertragen, drängten sich die Menschen, um seine Gebeine mit ihren mitgebrachten Rosenkränzen zu berühren.91 Es war immerhin die letzte Chance, mit ihrem „Patriarchen der schweizerischen Kirche“92 mehr oder weniger leibhaftig in Kontakt zu kommen. Diese Chance wollten viele nützen, darunter zweifellos viele, die ihn nicht mehr persönlich gekannt hatten. Petrus Canisius hätte das bei aller Demut wahrscheinlich gefreut: Er hatte zu Lebzeiten den Freiburgern den von ihm persönlich äußerst eifrig betriebenen Reliquienkult ja mit Nachdruck ans Herz gelegt. Jetzt war der große Reliquienverehrer selbst zur verehrten Reliquie geworden. Der Traum der Freiburger, endlich einen eigenen Heiligenleib in ihrer Stadt zu haben, hatte sich erfüllt.

 

Die Jesuiten des Freiburger Kollegs beteiligten sich eifrig an diesem aufkommenden lokalen Kult. Unter anderem gestalteten sie einige Zeit später sein Sterbezimmer in eine Kapelle um. Man erinnerte sich aber nicht nur an den berühmten Mitbruder Petrus Canisius, man wollte auch, dass er sich im Himmel an die erinnerte, die er zurückgelassen hatte. Und man war sich sicher, dass man beweisen konnte, dass er das tatsächlich tat: Wie die Freiburger griffen nämlich auch die Jesuiten auf die spektakuläre Wunderkraft des Petrus Canisius zurück, die er vom Jenseits aus offensichtlich fleißig anwendete und die zahlreich dokumentiert ist. Es ist unter anderem belegt, dass der Rektor des Kollegs einen der Löffel des Verstorbenen per Post verschickte, damit ein Mädchen, das mit einem verkrüppelten Daumen geboren worden war, geheilt würde. Erwartungsgemäß konnte man sich auf ihn verlassen. Nachdem alle Familienmitglieder des Mädchens den Löffel geküsst hatten, wurde der Daumen wieder völlig hergestellt.93 Die Freiburger Jesuiten zeichneten dieses und viele weitere Wunder auf die Fürsprache von Petrus Canisius in ihren Jahresberichten fleißig auf. Das ging so weit, dass diese Jahresberichte über weite Strecken den „Charakter eigentlicher Mirakelbücher“94 bekamen. Die Botschaft lautete: So eifrig wie er in seinem Leben für die Kirche gearbeitet hatte, so eifrig arbeitete er auch nach seinem Tod für die Kirche und die Gläubigen, die mit ihr verbunden waren. Petrus Canisius, der zu Lebzeiten auf die verzweifelte schriftliche Bitte einer von Besessenheit geplagten Frau um Heilung mit dem erschrockenen Ausruf „Ich Unglücklicher, für wen hält man mich?“95 reagiert hatte, war nach seinem Tod zum Wundermann geworden.

Aber nicht nur die Freiburger und die Jesuiten waren daran interessiert, das Vermächtnis dieses großen Mannes zu bewahren und ihn sich so als Fürbitter im Himmel warmzuhalten. Das überlieferte Altersbildnis selbst ist nichts anderes als der Versuch eines finanzkräftigen Verehrers und Freundes, den Ruhm von Petrus Canisius über seinen Tod hinaus am Leben zu halten. Octavian Secundus Fugger hatte sich trotz des mehr oder weniger sanften Drucks seiner von Petrus Canisius höchstpersönlich zum Katholizismus bekehrten Mutter in mehreren Anläufen nicht dazu durchringen können, selbst Jesuit zu werden. Aber er wollte doch das Andenken an den großen Jesuiten ehren, der seine Familie, die berühmten Fugger, während seiner Zeit in Augsburg (und darüber hinaus) als religiöser Ratgeber und Seelenführer so stark beeinflusst hatte. Er entschloss sich dazu, Dominikus Custos, den besten Kupferstecher, den man damals für Geld kriegen konnte, damit zu beauftragen, einen Kupferstich mit einer lebensnahen Darstellung von Petrus Canisius anzufertigen. Dafür gab es glücklicherweise eine verlässliche Vorlage: Am Grab des Petrus Canisius war als Zeichen der Verehrung ein Bild nach der bereits erwähnten Porträtskizze angebracht, die noch zu seinen Lebzeiten irgendwann in den 1590er Jahren ohne sein Wissen hergestellt worden war. Dieses Bild ist im Laufe der Zeit leider verlorengegangen. Es dürfte entfernt worden sein, weil derartige Darstellungen von Verstorbenen an ihren Gräbern nach kirchlichen Regeln eigentlich verboten waren, zumindest solange es noch nicht zu einer offiziellen Selig- oder Heiligsprechung gekommen war. Diese kirchenamtlichen Akte ließen bei Petrus Canisius ja tatsächlich noch überraschend lange – bis 1864 bzw. 1925 – auf sich warten. Octavian Fugger hat das Bild vom Grab aber glücklicherweise früh genug, nämlich im Jahr 1599, in den sehr schön ausgeführten Kupferstich umarbeiten lassen, der sich in zahlreichen Drucken erhalten hat. Ihm verdanken wir, dass nicht nur die Dutzenden Bücher und die knapp 1500 Briefe aus dem Leben des Petrus Canisius überliefert sind und auch nicht nur die vielen Wunder, die er gemäß den Jahresberichten der Jesuitengemeinschaft von Freiburg nach seinem Tod gewirkt hat, sondern auch dieses eindrucksvolle lebensnahe Porträt. Dieses Bild „von einer außergewöhnlichen Wahrhaftigkeit“96 ist zur Grundlage sämtlicher späterer Bilder von Petrus Canisius geworden.97


Trotz eines früh eingeleiteten Seligsprechungsverfahrens wurde Petrus Canisius erst 1864 seliggesprochen, die Heiligsprechung erfolgte 1925. Das hielt die Freiburger Jesuiten nicht davon ab, sein Sterbezimmer bereits 1636 in eine Kapelle umzugestalten.

Es ist ein sehr schöner Zufall, dass man die Umrisse des Lebens von Petrus Canisius von seinem Geburtsort Nimwegen bis in seine letzte Lebensphase im schweizerischen Freiburg (und mehr als Umrisse waren es bisher nicht) anhand der beiden von ihm überlieferten Porträts entwerfen kann. Man kann dieses Leben mit ihrer Hilfe quasi aus seinem eigenen Blickwinkel ins Auge fassen, und zwar sogar zweimal. Einmal vom Blick nach vorn auf dem Jugendbildnis des Nimwegener Familienaltars aus den späten 1520ern: ein Blick, den der versonnene, noch nicht zehnjährige Peter Kanis mit seiner schon damals kaum zu bändigenden spirituellen Neugier in eine noch weitgehend ungewisse Zukunft wirft. Und dann vom Blick zurück auf dem Freiburger Altersbildnis des Kupferstichs aus den späten 1590ern: ein Blick, den der inzwischen berühmt gewordene alte Petrus Canisius auf ein intensiv gelebtes geistliches Leben auf der Bühne der frühneuzeitlichen Weltgeschichte wirft. Zwischen diesem erwartungsvollen Blick nach vorn und diesem resümierenden Blick zurück hat sich mehr abgespielt, als eigentlich in ein einzelnes Leben hineinpasst. Auf jeden Fall mehr, als man in ein möglichst kurz gefasstes biographisches Porträt über diesen Wanderer zwischen den Welten hineinschreiben kann. Versuchen wir es trotzdem.

2. Kapitel

Ein Beinahe-Kartäuser: Petrus Canisius und der mystische Drang nach innen

Aus Petrus Canisius wäre ein ganz ausgezeichneter Kartäusermönch geworden. Sein spiritueller Mentor Nikolaus van Essche, der ihn 1536 unter seine Fittiche genommen hatte, als er als kaum Fünfzehnjähriger zum Studium nach Köln gekommen war, dürfte schon sehr früh erkannt haben, dass er es mit einem jungen Mann zu tun hatte, dem es mit seinem Entschluss zu einem religiösen Leben blutig ernst war. Und wo hätte so jemand ernsthafter religiös leben können als in einem Kartäuserkloster!

Da war einmal die kompromisslose spirituelle Disziplin der Kartäuser, die der religiösen Leistungsbereitschaft des jungen Peter Kanis sehr entgegenkam. Peter Kanis war zutiefst davon überzeugt, dass zu einem echt religiösen Leben nicht nur das gläubige Vertrauen in die Gnade Gottes gehörte. Ein religiöses Leben umfasste auch und sogar in erster Linie die mühsame praktische Vorbereitungsarbeit auf diese Gnade Gottes. Martin Luthers vehement vertretene Option, dass man ganz von der „Leistungsfrömmigkeit“ weg- und „zur Glaubens- und Gnadenfrömmigkeit“98 hinkommen müsse, hat er dementsprechend für eine grundlegende Verirrung gehalten. Religion bedeutete nach seinem Verständnis vor allem unermüdliche harte Arbeit an sich selbst – eine Arbeit, die man nicht einfach durch den Verweis auf die alleinwirksame göttliche Gnade aushebeln durfte. Noch nicht zwanzigjährig hat er im Jänner 1541 in diesem Sinne an seine Schwester Wendelina geschrieben, „daß Gebete Deine vollkommene Besserung nicht bewirken werden, wenn Du nicht Dein träges Herz auf die Gnade vorbereitest, um die Du Gott bittest“. Es waren, wie er sie ermahnte, ernsthafte „geistliche Übungen“ notwendig, um „zu verkosten, wie süß und liebenswürdig Gott ist“99.

Das war nicht nur ein frommer (und etwas altkluger) Ratschlag an seine Schwester, das war auch der Grundsatz seiner eigenen religiösen Praxis. Während seiner Kölner Studienzeit hielt er sich in einem Merksatz dementsprechend immer und immer wieder selbst vor, dass rastloses „Streben und Mühen“ notwendig waren, wenn man wie er den Ehrgeiz hatte, „Gott gefallen zu wollen“100. Dieses Streben und Mühen beinhaltete dem katholischen Zeitgeschmack entsprechend auch körperliche Selbstdisziplinierung. Peter Kanis war hier ganz ein Kind seiner Zeit: Er griff ganz selbstverständlich auch auf Techniken der körperlichen Selbstdisziplinierung zurück, um in sich Neigungen abzutöten, von denen er vermutete, dass sie ihn von seinen geistlichen Ambitionen ablenken könnten. Sein teilweise exzessives Fasten ist vielfach belegt; schon als Kind hat er freiwillig ein härenes Büßerhemd getragen. Den postmodernen Kult um körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit als Inbegriff eines gelungenen Lebens hätte er dementsprechend nicht verstanden. Ein gelungenes Leben war nach seiner Überzeugung vielmehr ein unermüdliches geistliches Leben auf der Suche nach Gott – und wenn einen körperliche Bedürfnisse von dieser Suche ablenkten, musste man selbstverständlich mit allen möglichen Mitteln gegen sie ankämpfen. Man konnte dabei eigentlich nicht streng genug sein. Was er 1586 im Alter von 65 Jahren an die adligen Stiftsdamen in Hall in Tirol schrieb, war auch schon in seiner Jugend seine tiefste Überzeugung gewesen: „Je strenger aber der mensch gegen jm selber ist […], souil mer thailt jme der gütig Got sein barmhertzigkhait, vnd verzeicht jme desto volkhumenlicher seine sind“101. Wirklich religiös zu leben, war harte Arbeit.

Die Kartäuser als die religiösen Spitzenathleten ihrer Zeit waren geradezu der Inbegriff dieser religiösen Leistungsbereitschaft des jungen Peter Kanis. Die üblichen Mönchsgelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam allein waren ihnen in ihrer religiösen Praxis seit jeher zu wenig gewesen: Das Leben eines Kartäusermönchs sollte grundsätzlich nichts anderes sein als eine große und unermüdliche geistliche Übung. Er musste sich zu diesem Zweck durch eiserne Selbstdisziplin ganz von der Welt abwenden und in immer neuen Anläufen bereitmachen für das eine große Ziel: die Begegnung mit Gott. Dabei durfte er sich von nichts und niemandem ablenken lassen – nicht von der sündigen und verdorbenen Welt, noch nicht einmal von seinen Mitbrüdern im Orden. Darum lebten, aßen, arbeiteten und beteten die Kartäuser im Wesentlichen allein. Sie waren keine Kirchenfürsten, keine Grundherren und auch keine Hofkapläne; sie waren keine Prediger, keine Seelsorger und auch keine Lehrer. Sie waren einsame Gottsucher, die bereit waren, sich rund um die Uhr nichts anderem zu widmen als einer rigorosen religiösen Praxis in Gebet, Meditation und geistlicher Lektüre. Diesem Programm war der Kartäuserorden, dieser „durch strenge Askese und Schweigegebot strengste Orden überhaupt“102, seit seiner Gründung am Ende des 11. Jahrhunderts und damit beinahe ein halbes Jahrtausend lang beharrlich treu geblieben, als Peter Kanis ihm in den 1530er Jahren begegnete. Andere Orden mochten regelmäßige und oft sehr schmerzhafte Reformen nötig haben, um immer wieder zu sich selbst und ihrer spirituellen Berufung zurückzukehren, weil sie sich zu sehr auf die Welt und zu wenig auf Gott eingelassen hatten; die Kartäuser nicht. Das wurde sogar sprichwörtlich: „Der Kartäuserorden wurde niemals reformiert, weil er niemals deformiert wurde.“103

Die Kartäuser waren für Peter Kanis aber nicht nur wegen ihrer außerordentlichen asketischen und spirituellen Disziplin und Leistungsbereitschaft attraktiv. Sie hatten sich in den 1520er und 1530er Jahren unter den Katholiken auch einen ausgezeichneten Ruf wegen ihrer unerschütterlichen Rechtgläubigkeit und Standfestigkeit in ihren katholischen Überzeugungen erworben. Während in anderen Orden ganze Massen von Mönchen und Nonnen unter dem Eindruck des Mönch-Reformators Martin Luther und seiner Mitstreiter ihre Klöster verlassen hatten, waren die Kartäuser der katholischen Sache im Wesentlichen vorbehaltlos treu geblieben. Besonders berühmt waren in diesem Zusammenhang die Londoner Kartäuser geworden. Sie hatten die Errichtung einer vom Papst getrennten englischen Staatskirche durch König Heinrich VIII. abgelehnt und waren dafür zwischen 1535 und 1537 nach mehreren politischen Schauprozessen hingerichtet worden.

 

Es war genau die Zeit, in der sich auch der Teenager Peter Kanis immer klarer wurde, dass ihm seine religiösen Überzeugungen ähnlich wichtig waren. Das hatte in seinem Fall zwar nicht das Martyrium bedeutet. Aber er war am Ende der 1530er Jahre doch im Begriff, sein bisheriges Leben als wohlhabender Nimwegener Patriziersohn mit glänzenden Aussichten auf eine erfolgreiche großbürgerliche Zukunft wegen seiner religiösen Überzeugungen aufzugeben. Wie bei den Londoner Kartäusern waren das nicht irgendwelche religiösen Überzeugungen; es war keine jugendliche Aussteigerspiritualität, die ihn zu diesem Schritt motivierte. Er war vielmehr zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, dass nur der Glaube der römischen Kirche der wahre christliche Glaube war. Genau für diesen Glauben war er bereit, sein bisheriges Leben vorbehaltlos aufzugeben. Als etliche Jahre später das Gerücht gestreut worden war, dass der katholische Vorkämpfer Petrus Canisius nun doch zur Reformation übergelaufen sei, goss er diese feurige Überzeugung von der Heilsnotwendigkeit der katholischen Kirche, für die sogar der Einsatz des eigenen Lebens kein zu hoher Preis war, in ein entsprechend feuriges Bekenntnis, das er erstmals 1571 und dann immer wieder als Anhang seiner Bücher abdrucken ließ: „Der römischen Kirche, die alle diese Lästerer verachten, […] gehörte ich an und von ihrer Autorität entferne ich mich nicht eine Hand breit: um für sie Zeugnis abzulegen, bin ich bereit, mein Leben hinzugeben und mein Blut zu vergießen“, denn „ich habe die völlige Gewißheit, daß nur in der Einheit mit ihr die Verdienste Christi, des Herrn, und die Heilsgaben des Heiligen Geistes sich auf mich und die anderen Menschen verströmen.“104 Dass der unerschütterliche katholische Bekennermut der Kartäuser einen Katholiken von dieser Machart sehr beeindruckt haben dürfte, ist naheliegend.


In Köln hat Petrus Canisius nicht nur studiert und entscheidende spirituelle Impulse aus dem Umfeld der dortigen Kartause erhalten. Er hat dort mit seinem Erbe auch die erste Jesuitenniederlassung im römisch-deutschen Reich errichtet.

Ausschnitt aus der Großen Ansicht von Köln von Anton Woensam, 1531.

Die Kartäuser waren für den jungen Peter Kanis aber nicht nur wegen ihrer beinharten asketischen Disziplin und ihrer unerschütterlichen katholischen Rechtgläubigkeit eine naheliegende Option für das vorbehaltlos religiöse Leben, nach dem er sich sehnte. Mehr als von all dem fühlte er sich von der tiefen Innerlichkeit ihrer Ordensspiritualität angezogen. Der Kartäuserorden bestand nämlich keineswegs nur aus Mönchen, die „härter als Stein“ waren und „weder mit sich selbst noch mit denen, die mit ihnen leben, Mitleid“ hatten.105 Tatsächlich war das spirituelle Profil der Kartäuser auch und vielleicht sogar in erster Linie geprägt von einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit für die Intimität der persönlichen Gotteserfahrung.106 Schon im Spätmittelalter hatten sich dementsprechend Kartäusergemeinschaften intensiv mit mystischen Strömungen im Umfeld der Devotio moderna verbunden.107 Im Fokus dieser in erster Linie im niederrheinisch-flämischen Raum verbreiteten Frömmigkeitsbewegung standen spirituelle Praktiken, die vor allem auf die unmittelbare Begegnung des einzelnen Gläubigen mit Gott abzielten und ursprünglich besonders intensiv von Laien kultiviert worden waren. Das war zwar keine religiöse Biedermeierei, die Religion aus dem öffentlichen Raum herauslösen und auf den privaten Raum beschränken wollte; die Ordens- und Kirchenreform war ganz im Gegenteil ein großes Anliegen der Devotio moderna. Aber es ging doch um eine bewusst ich-zentrierte Religiosität. Die individuelle Begegnung mit dem geheimnisvollen Gott im Inneren der eigenen Erfahrungswelt ohne gesellschaftliche, ja in gewisser Weise sogar ohne kirchliche Hilfsmittel war das eigentliche Ziel.

Diese individuelle Begegnung wurde naheliegenderweise in erster Linie durch religiöse Übungen gesucht, die den Einzelnen zu einer eigenverantwortlichen und höchstpersönlichen Frömmigkeitspraxis herausforderten: Andachtsübungen im Umfeld der Passionsfrömmigkeit sollten das innerliche Mitgefühl für den leidenden Christus anregen; die Praxis des inneren Gebets sollte über auswendig gelernte Gebetsformeln hinausführen und dabei helfen, einen persönlichen spirituellen Stil zu entwickeln; die oft eifrig gepflegte fromme Lektüre sollte dabei unterstützen, sich in einsamer Zurückgezogenheit mit nichts anderem zu beschäftigen als der Bedeutung der christlichen Botschaft für das eigene Leben. Diese stark auf die individuelle Glaubenspraxis bezogenen spirituellen Techniken passten perfekt zum traditionellen kartäusischen Ordensideal der einsamen Gottsuche.108 Sie wurden dementsprechend in vielen Kartausen mit Begeisterung aufgenommen und weiterentwickelt. Die Kartäuser wurden so innerhalb der katholischen Kirche zu den wahrscheinlich wichtigsten Trägern eines selbstbewussten mystischen Christentums, das Kirche nicht vor allem als hierarchische Institution oder als sakramentale Vermittlungsinstanz der göttlichen Gnade betrachtete, sondern in erster Linie als eine Gemeinschaft von engagierten Gottsuchern. Diesen Gottsuchern ging es darum, Gott nicht nur in gewissen abgezirkelten Lebensbereichen wie in der Liturgie oder in kirchlichen Ritualen zu begegnen,109 sondern ihr innerstes und intimstes Seelenleben zu einem Ort dieser Begegnung zu machen.

So ein Gottsucher wollte der junge Peter Kanis mit seinem „zur Mystik hinneigenden kontemplativen Naturell“110 auch sein – und er hatte Glück: Nicht nur war an seinem Studienort Köln eine Kartäusergemeinschaft angesiedelt, die das Zentrum der letzten großen Blüte der Devotio moderna am Niederrhein bildete und sich ganz auf eine solche mystische Form des Christentums eingelassen hatte. Vor allem war sein geistlicher Mentor Nikolaus van Essche dem „Herzen und der Freundschaft nach […] ein wahrer Kartäuser“111, der nur aus gesundheitlichen Gründen nicht in den Orden hatte eintreten können. Van Essche war bereits von entscheidender Bedeutung gewesen für die Anbindung der frommen Frauengemeinschaft um die berühmte Mystikerin Maria van Oisterwijk an die Kölner Kartause. Jetzt hatte er die Chance, auch ihren offensichtlich spirituell ebenso begabten Großneffen Peter Kanis, dem Maria noch im Kindesalter eine große Zukunft als religiöser Schriftsteller vorausgesagt hatte, ins kartäusische Leben der mystischen Gottsuche einzuführen. Und er war ein bemerkenswert hingebungsvoller spiritueller Begleiter. Er leitete Peter nicht nur durch ein striktes Programm aus täglicher Lektüre und Meditation der Bibel und durch regelmäßige geistliche Gespräche zu einem religiösen Leben an. Er warf sich selbst mit seiner ganzen Persönlichkeit in die Waagschale. Er „betete und weinte um mich, segnete und warnte mich, ermahnte mich in Wort und Schrift“112, erinnerte sich Petrus Canisius Jahrzehnte später an ihn zurück. Einmal nahm van Essche sogar die Mühe einer längeren Reise nach Nimwegen auf sich, um seinen Schützling auch in den Ferien mit Nachdruck daran zu erinnern, dass Schulferien nicht auch religiöse Ferien sein durften. Die Suche nach Gott duldete keine Pausen.

Dieses persönliche große Engagement verfehlte seinen Eindruck auf Peter nicht. Er war ja, wie er viele Jahre später im Rückblick feststellte, bereits mit der tiefen Sehnsucht nach Köln gekommen, endlich „eine bestimmte Lebensweise“ jenseits seiner großbürgerlichen Herkunft zu finden, „die mir zum Heil gereicht“113. Dass er sich in Köln bald immer stärker „zu dem frommen Leben der Ruhe und Beschauung, wie es die Kartäuser führen“114, hingezogen fühlte, war kein Zufall. Nikolaus van Essche, dieser Kartäuser ehrenhalber, hatte ganze Arbeit geleistet.

Als van Essche 1538 und damit nach nur etwa zwei Jahren als Peters spiritueller Ratgeber ins heute belgische Diest ging, um dort Pfarrer zu werden, war die Frage für ihn dementsprechend eigentlich nicht mehr, ob, sondern nur noch wann sein Protegé Peter den Schritt in den Kartäuserorden machen würde. Van Essche wusste ihn in Köln auch weiterhin in guten kartäusischen Händen, die das vollenden würden, was er begonnen hatte. Er hatte Peter mit den führenden Köpfen der Kölner Kartause bekanntgemacht. Hier fand dieser religiös hochbegabte Jugendliche Gesprächspartner, die ihn in persönlichen Begegnungen und besonders auch in ihren Schriften immer noch tiefer in die mystische Spiritualität der niederrheinischen Kartäuser einführten. Petrus Canisius bezeichnete sie später als „aufrichtige Freunde […], denen das Heil meiner Seele sehr am Herzen lag“115. Zu diesen Freunden gehörte der berühmte Prior Gerhard Kalckbrenner, der als Zentrum eines literarisch eifrig tätigen Zirkels von katholischen Widerständlern gegen die Reformation fungierte. Wohl noch bedeutender für die weitere spirituelle Entwicklung von Peter Kanis dürfte allerdings Kalckbrenners Vikar Johannes Justus von Landsberg gewesen sein. In seinen Schriften wurde vieles von dem vertieft, was Peter bei van Essche bereits gelernt hatte. Wie van Essche pflegte auch Landsberg eine mitunter geradezu grell anmutende Begeisterung für die Andacht zum leidenden und gekreuzigten Christus. Diese Begeisterung gehörte zum Grundbestand der kartäusischen Spiritualität in dieser Zeit. Versatzstücke dieser schon im Spätmittelalter äußerst beliebten Frömmigkeitsform haben Petrus Canisius wenig überraschend langfristig geprägt. Dass er im Oktober 1560 einem körperlich und geistig angeschlagenen Freund den Rat gab, er solle „sich eine Wohnung in den Wunden Christi“116 bauen, ist genauso auf diesem Hintergrund zu verstehen wie seine spätere Gewohnheit, jede seiner täglichen Gebetszeiten aus dem Brevier in Beziehung zu einer Dimension des Leidens Jesu zu bringen.117 Als seine leiblichen Brüder am Ende der 1570er Jahre wegen ihres katholischen Glaubens für eine kurze Zeit aus Nimwegen vertrieben worden waren, ermunterte er sie dazu,, „Trost in der Betrachtung des bittern Leidens Christi“ zu finden.118 Das war nach seiner Erfahrung der Königsweg, mit eigenem Leid umzugehen.

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