Der goldene Kürbis

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»Wie ich bereits mehrmals sagte, habe ich leider nicht viel Zeit. Aber wahrscheinlich hängt Euer Schicksal genauso von diesem Abend ab wie das meine.«

Katie rollte mit den Augen. Schon wieder diese geschwollene Ausdrucksweise. Unterbewusst hatte sie sich schon die ganze Zeit gewundert, warum Nicolas sie ständig mit »Euch« ansprach. Das klang fast so wie in den historischen Romanen, die man im Literaturunterricht las. »Sorry, aber das klingt ein bisschen melodramatisch. Wieso hängt unser Schicksal von diesem Abend ab? Also meins schon, aber mir droht man ja auch mit dem Kerker.«

Nicolas ging nicht auf die Anspielung ein. Sein Gesicht hatte wieder einen ernsten Ausdruck angenommen. »Passt auf. Wir schreiben das Jahr 1670.«

»1670? Du meinst wohl eher 2020.«

»Nein, Ihr habt mich richtig verstanden.«

»Bin ich etwa in der Vergangenheit?«

Schockiert richtete sich Katie im Stuhl auf. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Wirbelsäule. Hoffentlich hatte sie sich bei dem Sturz nicht das Steißbein gebrochen oder etwas anderes Schlimmes zugezogen. Wie war überhaupt die medizinische Versorgung im 17. Jahrhundert? Quatsch, jetzt fing sie auch schon damit an. Sie befand sich im 21. Jahrhundert!

»Scheinbar stammt Ihr aus einer anderen Zeit. Das erklärt auch Eure mir ungewohnte Ausdrucksweise. Und die Tatsache, dass Ihr mich nicht meines Standes gemäß mit ›Prinz‹ ansprecht.«

»Du bist ein Prinz?!«, Katie wäre fast vom Stuhl gefallen, hätte sie sich nicht vor Überraschung an der Lehne festgekrallt. Nicolas lachte herzhaft.

»Eigentlich der Sohn des Großherzog von Agravain. Damit bin ich Erbgroßherzog. Aber man spricht mich mit ›Prinz‹ an.«

Sie konnte nicht anders, als Nicolas mit offenem Mund anzustarren.

»Bitte Katie, holt wieder Luft. Ich habe schon seit längerem den Verdacht, dass wir hier in einer Zeitschleife feststecken, während außerhalb der Villa die Zeit weiterläuft. Das hat wahrscheinlich etwas mit dem Verschwinden des goldenen Kürbis zu tun.«

»Moment, was?« Ein völlig verständnisloser Blick ihrerseits reichte diesmal aus, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen.

»Na schön. Am besten erzähle ich Euch jetzt meine Geschichte. Wir schreiben das Jahr 1670. Das große Halloween-Jahr, wie alle fünfzig Jahre. Immer dann stehen die Sterne und Planeten am Himmel in einer seltenen Konstellation zueinander. Da Ihr etwas von einem Halloween-Ball an Eurer Schule erzählt habt, könnte das zeitlich passen. Ich gehe davon aus, dass Ihr die Geschichte um Jack O‘Latern kennt?«

Sie wischte sich eine Strähne aus den Augen und rückte sich wieder auf dem Stuhl zurecht. »Na klar. Es wird behauptet, dass ein Mann namens Jack zu seinen Lebzeiten den Teufel überlistet hätte. Jack hat einen Handel mit dem Teufel geschlossen, sodass er nie wieder Angst vor ihm haben musste. Als er dann starb, ist er deswegen weder im Himmel noch in der Hölle aufgenommen worden. Der Teufel schenkte ihm ein Stück glühende Kohle, das Jack dann in einer ausgehöhlten Rübe mit sich trug, um den Weg zwischen den Welten zu beleuchten.«

»Genau. Und es wird auch gesagt, dass nur in dieser Nacht die Toten die Möglichkeit haben, von einem Lebenden Besitz zu ergreifen – ihre einzige Chance auf ein Leben nach dem Tod. Deswegen verkleiden sich an Halloween die Menschen, um von den Toten nicht erkannt zu werden.«

»Ja, aber das glaubt doch keiner.«

»Ihr vielleicht nicht. Doch die Tatsache, dass Ihr unsere Villa nicht verlassen könnt, sollte Euch vielleicht stutzig machen.« Er warf ihr einen belehrenden Blick zu. »Es ist Tradition, dass alle fünfzig Jahre der goldene Kürbis, eine Art vergoldete Laterne, mit einer Kerze erleuchtet wird, um an Jack O‘Latern zu erinnern. Anstelle von Kostümfesten, wie es das einfache Volk tut, veranstalten wir einen Maskenball. Jedes halbe Jahrhundert wird dazu eine andere Adelsfamilie vom Rat der Zwölf auserwählt, der die große Ehre zuteilwird, diesen Ball auszutragen und den Kürbis gemäß der Tradition zu erleuchten. Im Jahre 1670 wurde meine Familie ernannt. Die Legende besagt: Wenn der goldene Kürbis in der Halloweennacht nicht aufleuchtet, werden uns die Toten finden und ein Unheil geschieht. Diese Verantwortung lag also dieses Mal in unseren Händen. Als wir den goldenen Kürbis um Mitternacht vor unseren Gästen präsentieren wollten, war er jedoch verschwunden. Unsere Wachen, mein Vater und ich haben nach ihm gesucht, ihn aber nirgendwo gefunden. Der Dieb musste ihn versteckt haben. Was dann passierte, kann ich nur vermuten. Ich schätze, dass der Fluch am nächsten Morgen seinen Lauf genommen hat und wir seitdem in einer Zeitschleife feststecken. Eure Anwesenheit ist der Beweis dafür, dass meine Theorie stimmt. Ich denke, dass wir seit jener Nacht alle fünfzig Jahre erneut diesen Abend durchleben müssen. Vermutlich solange, bis es uns gelingt, den Dieb zu finden und den goldenen Kürbis zu erleuchten.«

»Okay, zum Verständnis: Ihr durchlebt diese Nacht alle fünfzig Jahre?«

»Korrekt.«

»Das heißt, wenn wir jetzt 2020 haben und du angeblich aus dem Jahr 1670 stammst, dann hast du schon … warte … SECHS Mal versucht, den Dieb zu finden?«

»Ja«, sagte Nicolas, »und jedes Mal versagt.« Er senkte seinen Blick und starrte ausdruckslos auf seine Hände.

Eine bedrückende Stille breitete sich im Raum aus. Das Knacken des Kaminfeuers schien auf einmal unnatürlich laut.

»Soll das bedeuten, du bist schon über 350 Jahre alt?! Aber, du siehst noch so jung aus … so durchtrainiert und … gutaussehend … na, du weißt schon …« Katie biss sich auf die Zunge. Was redete sie da für einen Unsinn!

Nicolas grinste sie verschmitzt an und genoss sichtlich ihr plötzliches Unbehagen wegen seines scheinbar attraktiven Äußeren. Katie zwang sich, ihn direkt anzuschauen, die Situation irgendwie zu überspielen und dabei nicht völlig peinlich berührt rot anzulaufen. »Ah, ich verstehe. Das war ein Scherz, richtig? Sehr witzig. Hahaha, ich lache jetzt noch.«

»Definitiv nicht. Aber danke für dieses reizende Kompliment.« Seine Augen funkelten sie intensiv an und er machte eine kleine Kunstpause, um sie noch einen Moment länger zappeln zu lassen.

»Doch ich muss Euch enttäuschen. Ich bin nach wie vor siebzehn Jahre alt.«

»Das verstehe ich nicht.« Katie war nun mehr als verwirrt.

»Passt auf. Alle fünfzig Jahre stehen die Planeten am Himmel in einer bestimmten Konstellation zueinander. Genau dann erzeugen sie eine Art unsichtbares, magisches Kraftfeld. Deshalb wird traditionsgemäß in dieser Nacht der goldene Kürbis erleuchtet. Wird dies nicht getan, tritt der Fluch in Kraft. Und genau das ist im Jahr 1670 passiert. Der Fluch sorgt dafür, dass die Villa und alle Gäste darin zeitlich eingefroren wurden. Stellt Euch vor, wir seien Salzsäulen, die alle fünfzig Jahre für einen einzigen Abend erwachen, um erneut die Chance zu erhalten, den goldenen Kürbis zu erleuchten. Schaffen wir es nicht, wandern die Planeten weiter, das Kraftfeld schwindet und wir werden erneut für ein halbes Jahrhundert versteinert.«

»Heißt das etwa, dass ich jetzt mit euch hier in dieser Zeitschleife gefangen bin? Was passiert, wenn der Dieb in dieser Nacht nicht gefasst wird? Muss ich dann auch alle fünfzig Jahre wiederkommen und diesen Abend erneut durchleben? Moment mal. Kann ich in der Zwischenzeit überhaupt nach Hause?«

Katie schnappte entsetzt nach Luft. Ihr wurde schwindelig. Eilig sprang sie vom Stuhl auf und lief ein paar Schritte, um das Blut in ihrem Körper besser zirkulieren zu lassen. Das durfte nicht wahr sein. Ihr Kopf begann zu schmerzen und sie presste die Hände gegen ihre Schläfen. Bestimmt war das Ganze ein Witz von Gina. Eine Falle mit versteckter Kamera. Wie hatte sie das bloß mit der unsichtbaren Barriere hinbekommen?

»Leider ist das kein Witz.«

Katie lachte bitter auf. Wieso sollte sie Nicolas glauben? Andererseits klang die Vorstellung, dass Gina hier eine versteckte Kamerashow abzog, noch bescheuerter. Warum sollte sie so einen Aufwand betreiben, während gleichzeitig in der Schule die Party des Jahres stieg? Irgendetwas passte nicht.

»Also gut. Solange ich nicht weiß, was mit meinem Verstand passiert ist, spiele ich einfach mal mit. Gehen wir also einen Moment lang davon aus, dass ich nicht völlig verrückt geworden bin oder mir in der alten Villa meinen Kopf gestoßen habe und als Folge einer Gehirnerschütterung an Wahnvorstellungen leide. Dann sollten wir versuchen, den Dieb zu finden, und zwar, bevor es zu spät ist. Hast du denn irgendeine Vermutung, wer der Täter sein könnte? Was hast du denn überhaupt die letzten Male angestellt, um ihn NICHT zu fassen?« Sie erntete einen strafenden Blick von Nicolas. Den leichten Spott im Tonfall konnte sich Katie einfach nicht verkneifen. Die Vorstellung, 350 Jahre lang einem Dieb hinterher zu rennen und ihn nicht zu fangen, war nicht gerade eine Glanzleistung.

»Wie ich bereits sagte, kann ich mich nicht daran erinnern. Ich weiß lediglich, dass der goldene Kürbis in dieser Nacht gestohlen wird.«

»Na gut, und was hast du heute Nacht schon unternommen, damit wir ihn dieses Mal schnappen?«

»Wir?«, skeptisch wanderte seine linke Augenbraue nach oben.

»Wir?«, äffte Katie ihn nach. »Jetzt fang bitte nicht mit der ›das ist nichts für Frauen – ihr-seid-doch-viel-zu-schwach-und-hilflos‹Masche an. Falls du es nicht mitbekommen hast, ich komme aus dem weniger frauenfeindlichen 21. Jahrhundert und es geht hier auch um MEIN Leben und MEINE Zukunft. Oder hast du vorhin nicht selbst gesagt, dass unser BEIDER Schicksal davon abhängt. Ich werde dir natürlich helfen, den Dieb zu enttarnen. Also, womit fangen wir an?«

Nicolas musterte sie ausdrucklos. Dieses Mal jedoch hielt sie seinem Blick stand. Er schien mit sich zu ringen, denn erst nach einer gefühlten Ewigkeit nickte er zögerlich. Katie vermutete, dass er sich unsicher war, wie er sie einschätzen sollte. Schließlich war sie eine völlig Fremde, die ohne Einladung auf den Ball geplatzt war. Das machte sie nicht gerade weniger verdächtig.

 

Vertraute er ihr? Sofort stellte sie sich die Gegenfrage: Vertraute sie ihm denn?

»Schön. Ich vermute, der Dieb ist jemand aus meiner Familie oder unserem engsten Bekanntenkreis. Alle anderen Gäste haben keine Möglichkeit, an den goldenen Kürbis heranzukommen. Der Raum ist mit Wachen gesichert und nur durch eine einzige Tür erreichbar.«

»Bist du dir sicher, dass es keine Möglichkeit gibt, dort auf einem anderen Weg einzusteigen?«

Entschieden schüttelte er den Kopf. »Definitiv.«

»Und warum bleibst du nicht einfach im Raum und bewachst den Kürbis bis Mitternacht? Dann könntest du doch den Dieb beim Eintreffen auf frischer Tat ertappen und dingfest machen.«

Nicolas grummelte unwirsch. »Das habe ich bereits versucht. Da bin ich mir sicher. Aber offensichtlich hat es nicht geklappt. Wir müssen es auf einem anderen Weg probieren. Zumal im Raum bereits die besten Wachen aufgestellt sind. Es hat keinen Sinn, wenn wir uns dazustellen. Statt auf den Dieb zu warten, sollten wir lieber aktiv nach dem Täter suchen und ihn am besten noch vor dem Diebstahl ausfindig machen.«

Katie blickte ihn nachdenklich an. »Wie wäre es, wenn wir den Kürbis an einem anderen Ort verstecken.«

»Das würde mein Vater niemals zulassen. Außer mir glaubt niemand, dass wir uns in einer Zeitschleife befinden. Auch mein Vater nicht. Deshalb weigert er sich den Kürbis an einen anderen Ort zu bringen. Und die Wachen würden niemals zulassen, dass ich den Kürbis ohne seine Erlaubnis aus dem Raum entferne.«

»Warum kann sich außer dir eigentlich niemand an die vorherigen Halloweennächte erinnern?«

»Ich weiß es nicht. Auch meine Erinnerungen sind nur vage. Vielleicht …«

Seine Worte wurden durch das plötzliche Öffnen der Zimmertür unterbrochen. Ein Wachmann kam herein. Schwer atmend erfasste er mit seinem Blick den Raum in Sekunden und wandte sich an Nicolas. Er salutierte flüchtig und sprach mit rauer Stimme: »Prinz Nicolas, im Dienstbotengang gab es ein Handgemenge. Offenbar versucht ein Eindringling sich Zugang zu den oberen Räumen zu verschaffen.«

Sofort war Nicolas hinter dem Schreibtisch aufgesprungen. Seine Kiefermuskeln spannten sich an und sein Blick verfinsterte sich. »Wo?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er hinter dem Wachmann her. Bevor er endgültig durch die Tür verschwand, blickte er noch einmal zu Katie zurück. Seine Augen hatten ein tiefes, undurchdringliches Blau angenommen und seine Stimme eine Härte, die keinen Widerstand duldete. »Bleibt wo Ihr seid. Ich werde in Kürze zurück sein und erwarte, Euch hier vorzufinden.«

Katie zuckte erschrocken zurück. Die Bedrohlichkeit in seiner Stimme kam so überraschend, dass sie das Gefühl hatte, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Für einen kurzen Moment war sie wie gelähmt und starrte auf die nun leere Türschwelle.

Ganz klar: Nicolas traute ihr keinesfalls und wollte sie auch definitiv nicht dabei haben.


KAPITEL 6

Klassische Musik drang aus dem Ballsaal ins Studierzimmer und riss Katie aus ihrer Starre.

Was sollte sie tun: Warten – Nicht warten – Warten – Nicht warten. Ihr eigenes Schicksal hing von Nicolas Geschicklichkeit ab. Wenn er es wie die letzten Male nicht schaffte, den Täter zu überführen und den Kürbis bis Mitternacht zu schützen, dann …

Es gab nur EINE Antwort: Nicht warten.

Eilig raffte Katie ihr Kleid samt Reifrock ein Stück nach oben und eilte den anderen hinterher.

Es war nicht leicht, sich im Getümmel des Foyers einen Überblick zu verschaffen. Die Wachen waren offenbar schnell unterwegs, denn weit und breit war keine Spur von ihnen oder Nicolas zu sehen. Dabei waren sie gerade erst aus dem Raum gegangen.

Fieberhaft suchte Katie die Umgebung ab. Pärchen schlenderten durch die Halle, hielten an, redeten miteinander oder begutachteten irgendwelche Gegenstände und Gemälde. Andere bahnten sich einen Weg zum Flur unter der Treppe. Ihre Bewegungen waren zu gemütlich. Nicolas Trupp konnte dort niemals vorbeigekommen sein. Ansonsten hätte unter den Leuten deutliche Unruhe geherrscht. Also mussten sie direkt aus dem Foyer durch eine der angrenzenden Türen verschwunden sein.

Katie schaute nach links. Die benachbarte Tür des Studierzimmers fiel gerade mit einem leisen »Klick« ins Schloss. Konnte es sein …

Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, huschte Katie darauf zu, schlüpfte hindurch und landete in einem kleinen Zimmer, das mit wenigen Stühlen, zwei schmalen Bänken und zwei Tischchen ausgestattet war. Geblendet hielt Katie inne. Das Zimmer war grün. Grasgrün. Die Wände strahlten in einem solch saftigen Ton, dass der Anblick Katie auf den ersten Blick überwältigte. Im Gegensatz zu den anderen Räumen waren Decke und Tapete prunkvoll in einem auffälligen Gold und Grün geschmückt und mit Fresken verziert. Jagdbilder und Wandteppiche mit Waldmotiven durchzogen das komplette Zimmer. Katie erkannte Kraniche und Hasen, die ihr von überall entgegenstarrten und sie glauben ließen, auf einer weiten Lichtung zu stehen. Es war schwer, den Blick von den Tierstatuen loszureißen. Dieser Raum hatte eine faszinierende und gleichzeitig einschüchternde Wirkung und das, obwohl nicht einmal jemand anderes anwesend war.

»Das ist bestimmt der Empfangsraum für Geschäftspartner … Unheimlich«, murmelte Katie und rannte auf die nächste Tür zu, die ebenfalls gerade ins Schloss fiel. Eilige Schritte waren dahinter auszumachen. Sie lief hinterher, doch wirklich schnell kam sie mit ihrem überdimensionalen Kleid nicht voran. Der Reifrock schlug gegen ihre Beine und machte ein stolperfreies Rennen fast unmöglich. Auch die Schleppe glich in keiner Weise einem Superman-Cape, sondern verursachte einen solchen Luftwiderstand, dass Katie das Gefühl hatte, einen Heißluftballon hinter sich herzuziehen.

»Himmel! So wunderschön du auch bist, ich könnte dich verfluchen. Warum hat man im 17. Jahrhundert noch keine Jeans getragen?«

Wieder ein menschenleerer Raum. Das gleiche saftige Grün, nur die Einrichtung bestand hier aus unterschiedlich großen Stühlen und einem prunkvollen Tisch. Katie brauchte einige Sekunden, um die nächste Tür in diesem »Wald« zu entdecken. Diese bewegte sich nicht. Entweder waren Nicolas und seine Wachen nicht dort hindurchgegangen oder Katie war, wie vermutet, deutlich langsamer durch ihr schweres Kleid und hatte nun den Anschluss verloren. Eine weitere Tür gab es in diesem Raum nicht. Also war sie einfach zu langsam mit diesem Monstrum von Kleid. Fluchend und schnaufend rannte Katie in den nächsten Raum und befand sich nun in einem Schlafzimmer.

»Wie viele Räume haben die denn?«

Zum Glück war das Zimmer ungenutzt. Wieder war weit und breit nichts von Nicolas zu sehen.

»Echt jetzt?! Elender Reifrock.«

Fest entschlossen zog sie am Unterrock. Erneut schlug er gegen ihre Beine und wehrte sich gegen den groben Angriff. Katies Fuß verhedderte sich im Gestänge. Wenn das Ding nicht kooperierte, dann würde es eben zurückbleiben müssen. Sie zog an dem noch vor kurzem so sorgfältig verschnürten Korsett, um sich daraus zu befreien, aber nichts rührte sich. Das Kleid schien regelrecht an ihrem Körper zu kleben und machte keine Anstalten, sie freizugeben. Vergebens zerrte Katie mit aller Kraft an dem Unterrock, als sie auch schon über die nächste Schwelle taumelte und nach oben blickte. Wie angewurzelt blieb sie stehen.

»Wahnsinn!«

Eine riesige Bibliothek mit unzähligen Bücherregalen tat sich vor ihr auf. Zwei alte Ohrensessel mit kleinen Fußschemeln und Tischchen zierten die Längsseite, durch die sie hereingekommen war. Der restliche Raum war kaum auszumachen, da sich ein Bücherregal an das nächste reihte. Dutzende gebundene Rücken säumten die dunklen Regalbretter. Goldene Schriften glänzten im flackernden Kerzenschein und strahlten wie kleine Edelsteine.

Katie blieb der Mund offen stehen. Das Studierzimmer besaß bereits eine Unmenge an Büchern, aber es war kein Vergleich hierzu.

»Was hier wohl alles stehen mag?«

Nur zu gerne hätte sie sich ein paar Schinken aus den Regalen geholt und es sich in einem der Sessel gemütlich gemacht. Die Bücher riefen förmlich nach ihr und wollten sämtliches Wissen der Menschheit preisgeben. Aber das ging beim besten Willen nicht. Bereits jetzt hatte sie den Anschluss an die anderen verloren. Wenn sie überhaupt noch etwas von dem Täter mitbekommen wollte, dann musste sie sich beeilen. Das Schlimmste war jedoch, dass sie weit und breit keine weitere Tür erkennen konnte. Vermutlich befand sie sich am anderen Ende des Raums.

So schnell es ihr Kleid zuließ, eilte Katie in das Labyrinth aus Regalen. Fein säuberlich aufgereiht, ragten sie Reihe für Reihe aus dem Boden. Ein Maislabyrinth war ein Witz dagegen. Wie massive Wände türmten sie sich im Raum auf und boten keine Chance auf Abkürzungen. Jegliche Beschriftungen, die es normalerweise in einer Bibliothek gab, fehlten. Offenbar waren die Bände nicht nach Buchstaben, sondern nach Themen sortiert. Die genaue Position und die Themengebiete kannte aber scheinbar nur der Eigentümer. Ein Hinauskommen aus dem endlos wirkenden Wirrwarr an Regalen war für das ungeübte Auge alles andere als ersichtlich. Ein Regal glich dem anderen und zu allem Überfluss waren einzelne Raumecken noch mit Kunstgegenständen und Ritterrüstungen geschmückt, die wohl zur Auflockerung dienen sollten.

Katie hatte nach kurzer Zeit das Gefühl, den Raum bereits zweimal durchquert zu haben. Aber keins der Regale kam ihr bekannt vor. Sie hielt einen Moment inne. Irgendein System musste es doch geben. Dann erkannte sie es.

Die inneren Bauten waren so angeordnet, dass immer abwechselnd ein durchgängig langes Regal auf zwei kleinere folgte, was die Möglichkeit bot, auf die andere Seite zu wechseln. Also achtete Katie darauf, möglichst viel Strecke in kürzester Zeit zurückzulegen, anstatt wahllos an Kreuzungen abzubiegen. Nach kaum einer Minute erblickte sie das Ende der Bibliothek. Eine weitere Tür fehlte jedoch.

»Habe ich sie übersehen?«

Katie war irritiert. Es musste eine zweite Tür geben. Wohin sollten Nicolas und die Wachen sonst verschwunden sein? Vielleicht hatte sie sie im Durcheinander nicht bemerkt.

Sie war alles andere als begeistert, noch einmal durch das Bücherchaos zu rennen, doch die Zeit drängte. Die nächste Tür musste her.

Erneut machte sich Katie auf den Weg ins Innere des Labyrinths und verfranzte sich sofort.

Hatte die Vase eben schon hier gestanden? War das Buch über alte griechische Mythen nicht gerade noch da vorne gewesen? Und sollte sie jetzt links oder rechts abbiegen? Wo war plötzlich das System von eben hin?

Auf dieser Seite wirkten die Regale völlig anders. Selbst die Holzfarbe kam Katie viel heller vor. Dann eben nach links.

Keine zwei Meter weiter war wieder eine Kreuzung. Dieses Mal versuchte sie es rechts, dann wieder links. Sackgasse. Eine silbrig glänzende Ritterrüstung versperrte ihr den Weg und schien sie mit ihrem geschwungenen Visier regelrecht hämisch anzugrinsen. Katie biss die Zähne zusammen. Der hatte gut lachen, stand nur dumm in der Ecke rum und musste nicht den Ausgang finden.

Ein Laut ertönte: das Geräusch einer Türklinke, dann eilige Schritte, die durch den Raum hallten. Katie horchte auf. Es mussten mindestens zwei Schuhpaare sein. Erleichtert ließ sie die Luft aus ihrer Lunge entweichen. Nicolas und die Wachen betraten die Bibliothek. Katie kam nicht umhin, sich über sich selbst zu ärgern. Wie doof musste man sein, nicht aus diesem dämlichen Labyrinth herauszufinden. Es war ihr peinlich, um Hilfe zu rufen. Aber sie konnte ja nicht ewig weiter hier herumirren. So schaffte sie es weder rechtzeitig zum Tatort noch unbemerkt zurück ins Studierzimmer. Und wenn Nicolas zurückkam und sie verschwunden war, würde er sie sofort in den Kerker werfen lassen. Es nützte nichts, sie musste ihn um Hilfe bitten. Das war außerdem die passende Gelegenheit, sich für ihr »widersetzliches Handeln« gegen seinen »Befehl« zu entschuldigen.

»Nicolas?!«

Die Schritte hielten inne.

»Ich bin‘s, Katie. Ich brauche Hilfe.«

 

Keine Reaktion. War ja klar. Wahrscheinlich verfluchte er sich auf der anderen Seite, dass er sie nicht gleich in den Kerker geworfen oder zumindest am Stuhl festgekettet hatte. Jetzt tat er so, als ob sie gar nicht da wäre, um sie zappeln zu lassen. Katie konnte vor ihrem inneren Auge sehen, wie er sich überschwänglich freute, dass sie offensichtlich nicht mehr allein aus dem Bücherlabyrinth fand. Schon verfluchte sie sich selbst, dass sie nicht besser auf den Weg geachtet hatte. Wenn er ihr nicht raushelfen wollte, dann musste sie ihn eben dazu bewegen, es unfreiwillig zu tun.

»Hey, ich habe den Einbrecher gesehen. Ich kenne jetzt sein Gesicht. Könntest du mir kurz hier raushelfen, dann kann ich dir alles erzählen … Nicolas?!«

Noch immer regte sich nichts auf der anderen Seite. War er etwa einfach still und heimlich aus dem Raum geschlichen?

»Du bist schon noch da, oder?«

Schritte ertönten. Langsam schleichende Schritte. Katie lauschte angestrengt. Sie näherten sich ihr.

Offenbar war Nicolas immer noch beleidigt und versuchte sie jetzt zu erschrecken. Ts, dass könnte ihm so passen.

Leise trat sie hinter eins der Regale und machte sich zum Sprung bereit. Wenn er vorhatte, sie zu überraschen, dann würde sie ihm zuvorkommen. Sie wartete, während sich die Schritte näherten.

Nicolas hat kein einziges Wort gesprochen, wunderte sie sich. Sie hätte eher vermutet, dass er laut lachen oder sie beschimpfen würde? Das hätte besser zu seiner selbstgefälligen Art gepasst. Aber sich anschleichen und Verstecken spielen?

Ein komisches Gefühl beschlich sie. Irgendetwas stimmte nicht.

Sie horchte genauer.

Welche Schuhe hatte er getragen? Sie meinte sich an schwarze Lackschuhe zu erinnern.

Der Hall der sich nähernden Schritte klang aber viel schwerer und fester. Eher wie Reitstiefel. Wie in einem Westernfilm. Nur das Klingen der Sporen fehlte. Und auch sonst waren die Schritte zu schwerfällig für Nicolas. Niemals würde er sich so behäbig bewegen. Aber wer befand sich dann im Labyrinth?

Katie erschauderte.

Ohne einen Laut zu machen, huschte sie so schnell es ging zurück in die Sackgasse. Da war sie wieder – die grinsende Ritterrüstung.

Katies Hände griffen nach dem Schwert des Ritters, das er eisern zwischen seinen Handschuhen nach unten zu Boden gerichtet hielt. Mühsam öffnete sie die verrosteten Finger so weit, wie es die Scharniere zuließen. Mit einem kräftigen Ruck entriss sie ihm das Schwert. Ein lautes metallisches Quietschen erklang und Katie taumelte unter dem ungewohnten Gewicht ein paar Schritte rückwärts. Obwohl die Rüstung und das Schwert nicht gerade groß waren, brachte die Waffe einige Kilogramm auf die Waage.

Die Schritte des Fremden verstummten für einen Moment. Wäre auch ein Wunder gewesen, wenn er den Lärm überhört hätte. Dann ertönten sie erneut und kamen stetig näher. Katies Herz raste. Egal wer hier war – solange er sich nicht zu erkennen gab, war das kein gutes Zeichen.

Vorsichtig wog sie das Schwert in ihrer Hand, balancierte es so gut es ging aus und umfasste es dann mit beiden Händen. Leise reckte sie es nach oben und machte sich angriffsbereit. Keine Sekunde zu spät.

Schon schoss ein dunkler Schatten um die Ecke, direkt auf sie zu. Sofort ließ sie das Schwert nach unten schnellen, traf etwas Hartes und ein Stöhnen erklang. Katie war klar, dass der Mann definitiv nicht Nicolas war. Seine Stimme war viel tiefer und seine Silhouette war zu groß. Der Schwung des Schwertes riss ihre Arme nach unten. Einige Haarsträhnen flogen ihr ins Gesicht. Als sie plötzlich einen heftigen Ruck an ihrem Hinterkopf spürte und das Haargummi riss, versperrte ihr ihr Haarschopf komplett die Sicht. Katie versuchte erneut zum Schlag anzusetzen und erntete einen kräftigen Tritt in den Rücken. Das Schwert fiel nach vorne und sie stolperte hinterher. Trotzdem schaffte sie es, im Flug mit dem rechten Bein nach dem Unbekannten zu treten. Ihre Hand bekam ein Stück Stoff zu fassen, das ihr der Mann aber sofort wieder aus der Hand schlug. Stolpernd kam sie zum Stehen und wirbelte herum. Ihre offenen Haare versperrten ihr vollkommen die Sicht. Nur um Millimeter konnte sie einem Faustschlag in ihr Gesicht ausweichen. Ihr Schwert war immer noch zu tief, um es sinnvoll zum Schlag anzusetzen. Also schwang sie die Klinge flach in der Waagrechten über den Boden auf den Unbekannten zu. Der sprang gekonnt darüber hinweg und verpasste ihr gleichzeitig einen kräftigen Stoß in den Magen. Katie keuchte und taumelte gegen ein Regal. Bücher stürzten hinab. Schützend riss sie den freien Arm nach oben, um nicht am Kopf getroffen zu werden. Für einen Moment verlor sie jegliche Orientierung. Dann ließ der Schauer nach und sie wirbelte erneut herum, riss das Schwert nach oben und konnte es gerade noch vor der Brust eines Mannes mit braunem, schulterlangem Haar stoppen.

Zwei Wachen stürmten um die Regalecke und bauten sich neben ihm auf. Ihre blitzenden Degen zeigten direkt auf Katie. Automatisch trat sie einen Schritt zurück und stieß erneut einen Bücherregen los. Katie schützte sich nur oberflächlich mit der linken Hand. Den Schwertarm ließ sie unverwandt auf den Mann gerichtet.

»Verhaften sie ihn. ER ist der Dieb!«

Die Wachen traten einen Schritt auf sie zu, stellten sich in Angriffsposition und gaben dem Mann mit ihren Körpern Schutz. Ihre Degen rückten immer näher auf Katie zu, die das blanke Entsetzen packte.

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