Der goldene Kürbis

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KAPITEL 4

So selbstbewusst wie möglich schlenderte Katie aus dem Zimmer. Für einen kurzen Moment überlegte sie, dem Gang zu folgen und nachzusehen, wohin er führte. Eine innere Stimme drängte sie jedoch dazu, zuerst herauszufinden, ob sie sich tatsächlich noch in der Gruselvilla befand und woher plötzlich die vielen Leute kamen.

Möglichst anmutig versuchte Katie die Stufen der großen Treppe hinunter zu schreiten, was sich mit dem langen, schweren Kleid aber alles andere als einfach gestaltete. Nach ein paar unsicheren Schritten und einem zum Glück in letzter Sekunde verhinderten Sturz, beließ sie es dabei, den Blick stur geradeaus zu richten und zu versuchen, überhaupt unten anzukommen. Egal wie elegant.

Die Eingangshalle war groß und mit einem prunkvollen, goldenen Kronleuchter geschmückt, der in der Deckenmitte an einer goldenen Kette nach unten hing. Buntgekleidete Menschen wandelten umher und verschwanden in einem Durchgang, der sich zwischen den beiden Treppenaufstiegen befand und weiter ins Innere der Villa führte. Gegenüber lag die hölzerne Eingangstür, durch die Katie schon einmal an diesem Abend nach draußen befördert worden war. Ein besonderes Augenmerk bildete eine große Standuhr auf der rechten Seite des Foyers. Ihr Gehäuse war aufwendig geschnitzt und übersät von Ranken und geometrischen Verzierungen, die sich neben zahlreichen Fabelwesen um das schlichte Ziffernblatt wanden.

20:22 Uhr.

Auf beiden Seiten der Eingangshalle befanden sich jeweils zwei Türen. Während sie auf der rechten Seite verschlossen waren, standen sie auf der linken Raumseite weit offen. Klassische Musik erklang und Katie erkannte das bunte Treiben im Ballsaal. Dutzende farbenfroh gekleidete Tanzpaare bewegten sich im Rhythmus der Musik über das Parkett oder standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich.

Einige Frauen trugen weit ausgeschnittene Kleider und wedelten mit Fächern. Andere protzten mit einer pudelähnlichen, riesigen Perücke und weißen Spitzentaschentüchern.

Die Gewänder der Herren glichen im Wesentlichen dem des blonden Jungen, der Katie noch allzu gut in Erinnerung war.

Der Saal versprühte eine Energie, die die Luft zu elektrisieren schien. Immer wieder eilten Männer in schwarzen Fracks durch die Menge und verteilten Gläser mit gelblicher Flüssigkeit an die Gäste.

An der gegenüberliegenden Wand standen Tische und Stühle, die Katie bekannt vorkamen. Sogar eine Art Minibuffet war daneben aufgebaut. Und egal wo das Auge hinschaute, die Wände waren mit roten, gelben und braunen Blättern, saftig grünen Efeuranken und anderer herbstlicher Deko versehen. Offenbar fand hier eine Motto-Party statt. Thema: Herbst und Halloween. Und es gab keinen Zweifel: Dieser Raum war der gleiche, in den Katie noch vor kurzem durchs Fenster eingestiegen war.

»Verzeiht.« Eine Hand legte sich auf ihren Arm. Katie fuhr herum und befürchtete sofort, dass etwas mit ihrer Verkleidung nicht geklappt hatte. Ganz offensichtlich hatte sie doch noch ein paar wichtige Schnüre am Kleid vergessen und stand jetzt halb nackt da. Schamesröte schoss ihr in die Wangen. Aus dem Augenwinkel heraus beeilte sie sich, die Nahtstellen des Stoffes auf Löcher zu überprüfen.

Ein Räuspern ließ sie aufschrecken. Das freundliche Lächeln eines jungen Mannes strahlte ihr entgegen. Wie der blonde Junge zuvor, trug auch er einen hüftlangen Mantel und Knickerbockerhosen. Allerdings in einem rot schimmernden Stoff, der dem ihres Kleides sehr ähnelte. An seinen Schultern waren kleine goldbestickte Epauletten angebracht und unter seiner schlichten Weste blitzte ein weißes mit Rüschen verziertes Hemd hervor. Der Junge war einen Kopf größer als Katie und schien etwa neunzehn Jahre alt zu sein. Seine braunen Haare trug er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein paar Strähnen hatten sich daraus gelöst und hingen ihm lässig ins Gesicht. Das Auffälligste waren jedoch seine nussbraunen Augen, die Katie gespannt musterten.

»Verzeiht. Ich wollte Euch nicht erschrecken.« Ein entschuldigendes Schmunzeln huschte über seine Lippen. Er nahm ihre Hand und gab dieser einen flüchtigen Kuss. Katie wurde rot.

»Sagt, ich habe Euch hier noch nie zuvor gesehen und dabei sollte ich jeden auf diesem Ball kennen. Erlaubt mir zu fragen, wer Ihr seid.«

Katie riss die Augen auf. Der Junge lächelte erneut. Ein 100Watt-Lächeln, das nur Rockstars vorbehalten war. Ein kribbelndes Gefühl breitete sich in ihrer Hand aus, dort, wo er eben den Kuss platziert hatte. Katies Kiefer verkrampfte sich zu einem einzigen verspannten Muskel. Sie war unfähig ihren Mund zu öffnen und etwas zu erwidern. Selbst wenn sie eine Notlüge parat gehabt hätte, Prince Charming machte es ihr schier unmöglich zu reagieren.

»Ihr seid eine verschwiegene Frau, das macht Euch noch geheimnisvoller.« Wieder dieses Rockstar-Lächeln. »Dürfte ich um diesen Tanz bitten?« Er deutete mit dem Oberkörper eine Verbeugung an und ergriff Katies Hand, was sie noch mehr erröten ließ.

Immer noch unfähig zu sprechen, schaffte sie es zumindest, anmutig wie eine Prinzessin zu knicksen. Das genügte dem Jungen als Antwort. Sachte zog er sie hinter sich her zur Tanzfläche.

Bunte Farben und süßliche Gerüche strömten auf Katie ein. Der Pulk tanzender Menschen war so dicht, dass sie für einen Moment die Orientierung verlor. Zum Glück hielt der Junge sie immer noch an der Hand. Sein Daumen streifte über ihre Finger. Er legte die andere Hand hinter seinen Rücken und führte Katie in einer ihr völlig fremden Schrittfolge im Kreis um sich herum.

Erst jetzt schaffte es Katie, sich von seinem Blick zu lösen. Wieso hatte sie seine Tanzaufforderung angenommen? Tanzen war eines der Dinge, die sie zwar liebte, aber in Anwesenheit anderer Personen tunlichst vermied. Ganz besonders, wenn ein gutaussehender Junge unmittelbar in der Nähe war und es sich auch noch um einen historischen Tanz handelte, von dem sie überhaupt keine Ahnung hatte.

Der Junge wechselte die Schrittfolge und bewegte sich nun wie ihr Spiegelbild. Katie versuchte sich an den Tanzkurs zu erinnern, zu dem ihre Eltern sie vor einigen Jahren gezwungen hatten. Laut deren Meinung sollte jeder Jugendliche ein paar Standardtänze beherrschen, da eines Tages der Moment kommen würde, in dem man diese Kenntnisse brauchte. Wenn jetzt dieser Moment war, dann hatten ihre Eltern sowas von Unrecht gehabt. Keine der gelernten Walzeroder Cha Cha Cha-Schrittkombinationen schien hier auch nur ansatzweise brauchbar zu sein.

Katie bemerkte, dass die anderen Paare zwar immer zu zweit tanzten, die Bewegungen aber eher an einen Tanz mit dem eigenen Spiegelbild erinnerten. Dabei hielten sie stets einen gebührenden Abstand zueinander ein und vermieden, bis auf das Berühren der Hände beim Herumführen im Kreis, jeglichen Körperkontakt.

Das Ganze war eine Mischung aus Gleiten und Gehen, das durch Neigen des Kopfes vervollständigt wurde. Katie versuchte sich an den Schritten des Jungen zu orientieren und dabei nicht allzu unwissend auszusehen.

»Ihr tanzt gut.«

Das bezweifelte sie.

»Ich muss mich erneut bei Euch entschuldigen. Wie konnte ich nur vergessen, mich Euch vorzustellen: Ich bin Friedrich de Ribera.« Ein stolzes Lächeln trat in sein Gesicht, was Katie schmunzeln ließ. Er trat näher an sie heran und vollführte eine elegante Drehung. »Da Ihr nun meinen Namen kennt, verratet mir den Euren.«

Wieder verschlug es ihr die Sprache. Katie fragte sich ernsthaft, was mit ihr los war. Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Aber Friedrich verströmte eine Vertrautheit und Selbstsicherheit, in der sie sich verrückterweise sowohl geborgen als auch ungewohnt eingeschüchtert fühlte. Sein Lächeln ließ sie rot werden und seine Nähe Schmetterlinge in ihrem Bauch fliegen. Und egal wie schlecht sie tanzte, er machte ihr Komplimente, während sie das komische Gefühl hatte, völlig allein mit ihm auf der Tanzfläche zu stehen. Alles in allem: Friedrich war ein Märchenprinz. Und das allein genügte, um aus ihrem Mund keine zwei Wörter hervorzubringen.

Schließlich schaffte sie es, halbwegs verständlich zu nuscheln:

»Katie. Katie Williams.«

»Was für ein reizender Name, Lady Katie. Aber ich behalte Recht, ich kenne Euch nicht. Zum Glück tragt Ihr keine Maske, so wie alle anderen auf diesem Ball. Sonst hätte ich Euch vielleicht nicht bemerkt. Aber bei Eurer Schönheit wärt Ihr mir auch MIT Maske aufgefallen.« Er lachte.

Masken? dachte Katie erschrocken und merkte sofort, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Ein dümmliches Lächeln ihrerseits folgte. Himmel Katie, reiß dich gefälligst mal zusammen!

Zu allem Überfluss trat genau in diesem Moment jemand von hinten auf ihre Schleppe. Der Reifrock verrutschte. Kein Wunder bei nur halb geschlossenen Ösen und Verschlüssen. Katie stolperte und fiel vorne über. Ihr zu großes Kleid verdrehte sich, sie verlor ihr Gleichgewicht und merkte bereits im Fallen, dass ihr Rock nach oben wanderte und die Stiefel darunter freigab. Sofort spürte sie verlegene Röte in ihr Gesicht steigen. Das stoppte den Fall allerdings auch nicht mehr.

Zum zweiten Mal an diesem Abend stürzte sie.

Millimeter über dem Parkett ergriffen zwei starke Hände ihre Arme und hielten sie fest. Erleichtert atmete Katie aus. So viel zu anpassen und unauffällig sein.

»Habt vielen Dank, Friedrich.«

Als sie zu ihrem Retter aufsah, blickte sie in das Gesicht des hochgeschossenen, blonden Jungen, der sie den Wachen übergeben hatte. Mist! Sie schluckte schwer und versuchte ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen. Er konnte sie wohl kaum wiedererkennen. Schließlich trug sie jetzt ganz andere Kleidung und vorhin im Flur hatte er ihr ja nicht einmal richtig ins Gesicht gesehen. Ganz zu schweigen davon, dass das Licht hier ja auch nicht das Beste war. Der Junge erwiderte ihr Lächeln, doch es wirkte kühl.

 

»Geht es Euch gut? Ihr solltet besser auf Euch aufpassen.« Katie nickte zögerlich, stand auf und drehte sich eilig zu Friedrich um, der ihr hilfsbereit eine Hand entgegenstreckte. »Nicht, dass noch etwas aus Eurem Stiefel fällt und Euch ernsthaft verletzt.«

Der Dolch! schoss es Katie durch den Kopf. Er hatte ihn gesehen. Binnen Sekunden brach ihr der Schweiß aus und ihre Augen suchten hektisch den Raum nach Fluchtmöglichkeiten ab. Es gab keine. Der Saal war überfüllt mit Menschen, was ein Entkommen unmöglich machte. Die Wahrheit zu sagen oder eine Geschichte zusammenzulügen war ebenfalls zwecklos. Selbst wenn der Junge ihr ihre Lüge abkaufte, so musste er nur nach ihrer – nicht vorhandenen – Einladung fragen. Spätestens dann war sie geliefert.

Der Junge hatte sein Lächeln gegen eine ernste Miene ausgetauscht. »Ich denke, wir sollten uns unterhalten.«

»Cousin, das ist nicht rechtens.« Friedrich trat einen Schritt vor Katie. »ICH habe sie bereits um diesen Tanz gebeten.«

Der Junge warf ihm einen finsteren Blick zu und schaute dann über dessen Schulter zu Katie hinüber. »Folgt mir!« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte voraus.

Katie überlegte, einfach bei Friedrich zu bleiben. Märchenprinzähnlich wie er war, würde er Edelfrauen in Not bestimmt verteidigen und beschützen. Und genau das war sie ja in gewisser Weise.

Der Gesichtsausdruck, den der Junge ihm entgegengebracht hatte, verdeutlichte aber, dass er keinen Widerstand duldete. Früher oder später würde er sie festnehmen. Vielleicht war es besser, gleich zu kooperieren und auf Strafmilderung zu hoffen. Katie seufzte. Friedrich begann erneut zu protestieren und sie am Gehen zu hindern.

Der blonde Junge wartete mit wachsamer Haltung ein paar Schritte entfernt und beobachtete sie beide genau. Katie murmelte etwas Entschuldigendes in Friedrichs Richtung und folgte dann dem blonden Jungen. Immer wieder warf er im Laufen einen misstrauischen Blick nach hinten, um sich zu vergewissern, dass Katie weiterlief. An Flucht war nicht zu denken. Zu viele Tanzpaare standen vor den Fenstern und Türen. Selbst wenn sie es bis dorthin schaffte, gab es da immer noch die Wachen, die der Junge in kürzester Zeit alarmieren konnte.

Wie um ihre Überlegung zu bestätigen, wurde Katie plötzlich von zwei Männern umzingelt, die sich rechts und links von ihr aufbauten. Es mussten die gleichen Wachen sein, die sie schon einmal aus der Villa geworfen hatten, denn für ihren Geschmack fassten die beiden sie ungewöhnlich fest an den Armen. Gezwungenermaßen musste sie nun zum zweiten Mal an diesem Abend dem Jungen in die Eingangshalle folgen.


KAPITEL 5

Das Ziel war dieses Mal zum Glück nicht wieder die große Eingangstür, sondern ein Raum auf der gegenüberliegenden Wandseite des Foyers. Als die Wachen sie über die Schwelle stießen, schlug ihr ein Schwall heißer Luft entgegen. Katie wusste nicht, woher diese Wärme kam, bis sie stolpernd vor einem großen Kaminfeuer zum Stehen kam. Für einen Moment waren ihre Augen wie hypnotisiert auf das faszinierende, fremde Lichtspiel der Flammen gerichtet, die im Kamin auf und ab züngelten und sich gespenstisch in den zwei hohen Fenstern des Raums widerspiegelten. Das Feuer tauchte alles in ein warmes, freundliches Licht. Welch trügerischer Eindruck. Aber immerhin war sie nicht in einem Verließ, sondern in einem Studierzimmer gelandet.

An den Wänden standen mehrere Bücherregale und davor ein großer Schreibtisch mit einem gemütlich aussehenden Ohrensessel. Der Junge nahm jedoch nicht darin Platz, sondern lehnte sich an die Tischkante und bedeutete Katie sich auf einen der weniger einladenden Stühle vor dem Schreibtisch zu setzen. Ein Anflug von Angst stieg in ihr auf. War das eine Falle? Ein mechanischer Stuhl, der sie fesseln würde?

Einer der Wachen stieß sie von hinten in die Rippen. Widerwillig nahm sie Platz. Die Wachen machten kehrt und bezogen grimmig Posten an der Tür. Erneut musterte Katie ihre Umgebung.

Fluchtmöglichkeiten: keine, außer den zwei großen Fenstern Erfolgswahrscheinlichkeit: sehr gering Risiko: definitiv einen Versuch wert »Hatte ich Euch nicht verboten, noch einmal hierher zu kommen?« Der blonde Junge hatte einen finsteren Blick aufgesetzt und starrte sie in Grund und Boden. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt und seine Haare glänzten im Licht des Feuers wie ein Heiligenschein. Er musterte sie eingehend von oben bis unten und bearbeitete dabei seinen Kiefer. Katie rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. »Ich dachte, ich bin an diesem feierlichen Tag einmal großzügig und werfe Euch nicht gleich in den Kerker. Doch wie es mir scheint, legt Ihr großen Wert darauf, Bekanntschaft mit den Ratten zu machen.« Sein Ausdruck hatte etwas Bedrohliches angenommen. Katie schluckte. »Bevor ich Euch aber diesen Wunsch erfülle, würde ich gerne noch wissen, warum Ihr hier seid.«

Das würde mich auch interessieren!

Auf dem Gesicht des Jungen breitete sich Überraschung aus. Sofort erkannte Katie ihren Fehler. Sie war sich nicht bewusst gewesen, ihre Worte laut ausgesprochen zu haben.

Ein kaltes Lachen durchschnitt die Stille und ließ sie schaudern. Der Junge schüttelte amüsiert den Kopf, doch in seinem Gesicht lag keine Freude.

»Ich denke nicht, dass Ihr in der Position seid, meine Fragen nicht zu beantworten.«

Katie war klar: Wenn Blicke töten könnten …

Im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung an diesem Abend strahlten die Augen des Jungen nicht mehr in einem kristallklaren Blau, sondern wirkten jetzt eiskalt wie ein tödlicher Schneesturm. Sein Blick brannte auf ihr.

»Ich höre!«

Ihr Mund wurde trocken. »Wenn ich dir antworten soll, dann musst du mir Fragen stellen, die ich auch beantworten kann.« Die Selbstsicherheit in ihrer Stimme überraschte sie. Eigentlich war ihr mehr als unwohl zumute und ihr Herz vollführte reinste Saltos in der Brust. Nur mit Mühe schaffte sie es, ihre zitternden Hände im Schoß unter Kontrolle zu halten.

Der Junge schien in keiner Weise beeindruckt. Mit einem leichten Ruck löste er sich vom Tisch und steuerte auf sie zu. Seine Schritte waren langsam und bedrohlich, die blauen Augen unentwegt auf Katie gerichtet und ein undurchschaubares Schmunzeln umspielte seine Lippen. Katie wollte ihren Blick von ihm abwenden und ihm möglichst wenig Angriffsfläche bieten, aber seine Präsenz zog ihren Blick unwillkürlich an. Die verschränkten Arme vor der Brust ließen seine Muskeln unter dem eng anliegenden Jackett hervortreten und zeigten sein durchtrainiertes Profil. Einen Schritt von ihrem Stuhl entfernt blieb er stehen.

»Ihr wollt also Spielchen spielen. Von mir aus gerne, aber im Moment habe ich keine Zeit. Also gebe ich Euch noch eine letzte Chance, mir zu antworten: Wer seid Ihr? Wie kommt Ihr hier herein und wer hat Euch geschickt?«

Obwohl ihr Mund mittlerweile mehr als ausgetrocknet war, musste Katie schlucken. Ihre Gedanken drehten sich wie wild im Kreis. Seine plötzliche Nähe machte sie nervös. Wenn er noch einen Schritt vortrat, würde er an ihr Bein stoßen.

Sollte sie ihm jetzt etwa ihre Lebensgeschichte erzählen? Was wollte er denn hören?

»Mein Name ist Katie Williams. Und zuerst würde ich gerne wissen, wer du bist?«

Der Junge grinste. Ein Pokerface-Grinsen. Langsam beugte er seinen Oberkörper zu ihr herunter und griff mit der linken Hand an ihre Stuhllehne. Katies Atem stockte. Sie war gezwungen ihren Blick zu senken. Als er weitersprach, waren seine Worte direkt neben ihrem rechten Ohr. Sein warmer Atem streifte ihren Hals und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie rang nach Luft.

Der Junge hatte es ebenfalls bemerkt. Er stieß ein leises Lachen aus und sorgte damit für weitere Gänsehaut bei ihr. Katies Hände verkrampften sich und ihr Magen fing an zu kribbeln. Er war ihr nun so nah, dass kaum noch eine Hand zwischen ihre Köpfe passte. Die ideale Chance, ihn zu überwältigen, doch ihr Gehirn setzte aus und ihr Körper verweigerte jeglichen Dienst.

»Ich denke, Ihr wisst sehr genau, wer ich bin und falls nicht, dann werde ich es Euch auch nicht sagen.«

Fassungslos schielte Katie zu ihm hinüber. Meinte er das ernst? Bevor sie jedoch ihre Gedanken auch nur im Geringsten wieder sortieren und etwas erwidern konnte, erklangen von draußen schnelle Schritte. Im nächsten Moment wurde die Tür zum Studierzimmer aufgerissen.

»Nicolas, Euer Vater fragt nach Euch. Er …« Ein dunkelhaariges Mädchen in einem goldgrünen Kleid stürmte ins Zimmer und hielt abrupt inne, als sie die scheinbar innige Situation entdeckte. Der blonde Junge blickte überrascht zur Tür hinüber, verharrte aber wie versteinert in seiner gebeugten Position.

Katie würdigte das Mädchen keines weiteren Blickes, sondern lehnte sich noch ein Stück weiter vor, bis sie das zerzauste blonde Haar des Jungen auf ihrer eigenen Wange spürte. Geradezu zärtlich flüsterte sie ihre Worte in sein Ohr. »Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, NICOLAS. Ich sehe, unser Gespräch macht Fortschritte.«

Sofort richtete er sich wieder auf, wich mehrere Schritte nach hinten zurück, um eine gesunde Distanz zwischen sie beide zu bringen. Seine Augen funkelten Katie böse an. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, gab er den Wachen ein Zeichen und Schritte ertönten. Kurz darauf schloss sich die Tür und sie blieben allein zurück. Katie grinste. Nicolas wandte sich von ihr ab und ging ein paar Schritte auf den Kamin zu.

»Touché, nun wisst Ihr also meinen Namen und ich den Euren.« Katie glaubte ein Schmunzeln in seiner Stimme zu hören, doch als er sich umdrehte, war sein Gesicht ohne jeglichen Ausdruck. »Wie ich bereits erwähnt habe, bin ich heute sehr beschäftigt. So anregend diese Unterhaltung auch sein mag, ich muss Euch nun in den Kerker bringen lassen.«

»Was?!« Entsetzt sprang Katie vom Stuhl auf. Gerade glaubte sie noch, in diesem Gespräch zu dominieren und schon war sie zurück in der Opferrolle. Nicolas schaute sie mit einem fast mitleidigen Blick an, was Katie noch rasender machte. Er wandte sich Richtung Tür und öffnete den Mund, bereit den Wachen einen Befehl zu erteilen.

»Wowowoh. Du kannst mich doch nicht einfach so in den Kerker werfen!« Demonstrativ trat sie einen Schritt zwischen ihn und die Tür. »Ich meine, hallo?! Ich habe ja wohl das Recht auf einen Anwalt, auf eine Anhörung und heißt es nicht immer: Innocent until proven guilty?«

Desinteressiert warf er einen flüchtigen Blick auf sie. »Ich verstehe nicht«, war seine einzige Aussage. Erneut setzte er zu einem Befehl an.

»Eben. Ich verstehe es auch nicht. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich hier bin. Vermutlich immer noch in der Gruselvilla, aber die sah vor ein paar Minuten noch völlig anders aus. Und jetzt willst du mich auch noch in den Kerker werfen?!« Katie riss die Arme nach oben und wedelte hektisch mit der Hand durch die Luft, so als könnte sie diesen Albtraum dadurch einfach vertreiben. Mehr zu sich selbst fuhr sie fort. »Vielleicht wurde ich überfallen und verschleppt oder man hat mich unter Drogen gesetzt. Ja, das habe ich jetzt davon. Hätte ich mich bloß nicht auf diese blöde Wette eingelassen.«

Nicolas schaute nun ganz zu ihr hinüber. Er wirkte irritiert, beobachtete aber zugleich aufmerksam jede ihrer Bewegungen. »Von welcher Wette sprecht Ihr?«

Katie atmete tief durch. Im Prinzip war es egal, was sie ihm erzählte. Er wollte sie in den Kerker werfen, ob sie nun log oder nicht. Anscheinend hatte er noch wichtigere Dinge zu erledigen. Wenn sie also gefangen genommen werden sollte, dann konnte sie ihm auch alles erzählen, was sie wusste. Vielleicht gab es ja irgendeinen Zusammenhang, den sie bisher übersehen hatte und der ihr verständlich machte, was hier eigentlich vor sich ging. Denn real war das hier nicht.

»Hör zu, alles begann mit der Versetzung meines Dads vor einem Monat. Seine Firma bot ihm hier in der Kleinstadt einen neuen Arbeitsplatz an und dann hieß es sofort Koffer packen. Ich war natürlich dagegen, aber wen interessiert das schon. In der neuen Schule behandelte man mich anfangs wie eine totale Außenseiterin. Ich sei eine ›Großstadttussi‹!« Katie spuckte das Wort förmlich aus und spürte eine plötzliche Wut in sich aufsteigen. War das die Angst oder der aufgestaute Ärger wegen des Umzugs? Sie wusste es nicht. »Mittlerweile habe ich zwar neue Freunde gefunden, aber die blöde Mutprobe mit Gina blieb bestehen. Und genau diese findet heute statt. Ich kann mich nicht davor drücken, sonst wird Gina mir künftig das Leben an der Schule zur Hölle machen. Obwohl ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher bin, ob sie das nicht sowieso tun wird.«

 

Sie blickte zu Nicolas hinüber. Dieser verharrte einen Moment zögernd, fasste sich mit der Hand an den Nasenrücken, seufzte und ging zum Schreibtisch hinüber, wo er sich wieder in seine lässig-am-Tisch-anlehn-Position begab. Katie betrachtete ihn verstohlen. Sein Gesicht wirkte angespannt und ließ ihn um Jahre älter aussehen. Leicht dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, die auf Schlaflosigkeit und Erschöpfung hindeuteten.

Als er aufsah, beeilte sie sich, aus dem Fenster zu schauen. Er wies auf den Gästestuhl und sie setzte sich. In ruhigem Ton begann er zu sprechen. »Lassen wir den Umzug einmal weg. Was ist mit dieser Wette? Seid Ihr durch sie hier hergekommen oder gibt es doch einen anderen Grund für Eure Anwesenheit?«

»War ja klar, dass du mir nicht glaubst. Ich hätte dir sonst was erzählen können und du denkst immer noch, ich sei eine Spionin der dunklen Seite.«

»Seid Ihr es denn?«

»NEIN!«

Er machte eine besänftigende Handbewegung und bedeutete ihr mit einem auffordernden Blick, seine vorherige Frage zu beantworten.

Katie schnaubte geräuschvoll aus. »Wie bereits gesagt: Ich bin vor zwei Wochen auf eine neue Schule gekommen. Dort gibt es die üblichen Cliquen, Grüppchen und Hierarchien; wie überall. Natürlich auch eine klassische Anführerin, die die Schule dominiert und aufgrund des Wohlstandes ihrer Eltern glaubt, einer besseren Schicht anzugehören. Diese Person ist Gina.«

»Ihr meint, sie ist eine Art Stellvertreterin oder Repräsentantin der Schülerschaft?«

»Nicht wirklich. Sie ist ein wasserstoffblondes, verwöhntes Püppchen, wenn du mich fragst. Als ich vor zwei Wochen meinen ersten Schultag hatte, war sie allerdings die Erste, die mich super freundlich aufgenommen hat. Sie zeigte mir alles, stellte mich den Mitschülern vor und ich war sofort ein Mitglied ihres Freundeskreises. Wir haben zusammen was unternommen und so. Irgendwie kamen wir dann mal auf das Thema ›Angst‹ zu sprechen. Nachdem mir die anderen ihre – wahrscheinlich erfundenen – Ängste erzählt hatten, wollten sie meine wissen. Aber ich habe vor nichts Speziellem Angst. Natürlich glaubt dir das niemand.« Katie zuckte genervt mit den Schultern. »Zum Schluss haben Gina und ihre Clique mir unterstellt, ich sei in Wirklichkeit ein totaler Feigling. Ich habe widersprochen und sie wollten Beweise. Ich weiß überhaupt nicht mehr, warum ich dieser Mutprobe zugestimmt habe. Sie haben mich provoziert und das wollte ich eben nicht auf mir sitzen lassen. Also habe ich eingewilligt, in der Halloween-Nacht in die Gruselvilla einzusteigen. Ich meine in diese Villa hier – denke ich … Deshalb auch mein bewaffnetes Outfit. Das ist nur ein Halloweenkostüm mit unechten Waffen. Eine Verkleidung. Wie die Leute sie hier auch auf dem Maskenball tragen.« Es war ein komisches Gefühl, die ganzen Ereignisse des letzten Monats zu erzählen. Und das auch noch einem völlig fremden Jungen. Es hieß immer, dass man sich besser fühlt, wenn man sich erst einmal all seinen Frust und die Sorgen von der Seele geredet hatte. Auf Katie traf das jedenfalls nicht zu. Ein komisches Gefühl von ungewohnter Verletzlichkeit breitete sich in ihr aus und nagte an ihren Nerven.

Es folgte ein langes Schweigen im Raum, was ihr ein noch unbehaglicheres Gefühl gab. Sie wusste nicht, wo sie hinschauen sollte: Fenster, Kamin oder Nicolas? Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und rutschte ungeduldig auf dem Stuhl herum. »Naja, das war meine Geschichte. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich hier eingestiegen bin und jetzt nicht mehr rauskomme.«

»Ihr meint, weil ich Euch gefangen halte.« Auf seinem Gesicht breitete sich ein süffisantes Schmunzeln aus.

»Neeeeiiiin.« Am liebsten hätte sie ihm die Zunge rausgestreckt. Um ihre Situation nicht noch weiter zu verschlechtern, beließ sie es bei einem vernichtenden Blick. »Du wirst es mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben. Aber bitte, ich zeige es dir.«

Sie stand auf und ging zum Fenster hinüber. Nicolas verfolgte misstrauisch jeden ihrer Schritte. Als sie nach dem Fenstergriff fasste, sprang er ruckartig vom Tisch auf.

»Ruhig Brauner! Du brauchst gar nicht so nervös zu schauen. Ich komme hier sowieso nicht raus.« Sie griff durch das geöffnete Fenster in die Dunkelheit. Weit kam sie mit der ausgestreckten Hand allerdings nicht, da blieb sie bereits an der unsichtbaren Barriere hängen. Nicolas sah sie skeptisch an und setzte wieder sein überhebliches Grinsen auf.

»Verzeiht, wenn ich das sage, aber das beweist gar nichts. Auch ich könnte so tun, als ob meine Hand nicht weiter aus dem Fenster reicht.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte spöttisch den Kopf. Katie fühlte sich endgültig beleidigt. Glaubte er etwa, sie machte sich hier einen Spaß? Sein Ego ging ihr langsam gewaltig auf die Nerven.

Entschlossen ging sie in die Hocke, holte Schwung und sprang mit voller Kraft aufs Fensterbrett. Sofort fuhr ein Ruck durch Nicolas Körper und er versuchte sie an ihrem Kleid festzuhalten. Zu langsam.

Mit einem Hechtsprung warf sich Katie in die kühle Abendluft hinaus. Für einen Moment glaubte sie an eine gelungene Flucht und spürte den Sog der Erdanziehung. Doch dann kam ein weiteres Gefühl hinzu: der Widerstand der unsichtbaren Barriere.

Katie wurde ruckartig abgebremst, kam zum Stillstand und wurde dann mit voller Wucht zurück ins Zimmer katapultiert. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen, um sich irgendwo festhalten zu können. Aber ihre Finger bekamen nichts zu fassen. Sie stürzte zurück ins Zimmer und kam schmerzlich mit dem Rücken auf dem Boden auf. Nur ihr Kopf landete auf etwas Weichem, das dafür sorgte, dass sie sich nicht ernsthaft verletzte. Das stoppte allerdings nicht den Lungenschock, der Katie für einen Moment sämtliche Luft nahm. Sterne tanzten vor ihren Augen und hinterließen grelle Lichtspuren. Der Raum drehte sich.

Als sie wieder ein halbwegs klares Sichtfeld bekam, entdeckte sie Nicolas halb unter sich liegend. Ein Stöhnen erklang und sein Körper zuckte. Langsam wühlte er sich unter ihrem Kopf hervor, stand auf und streckte ihr hilfsbereit eine Hand entgegen.

»Alles in Ordnung bei Euch, Katie?« Hatte sie gerade richtig gehört? Er hatte sie Katie genannt. Trotz ihres schmerzenden Rückens musste sie grinsen.

»Ja danke, alles bestens. Bis auf die Tatsache, dass ich hier gefangen bin und dank dir jetzt einen angeknacksten Rücken habe.« Als ob sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, knackte ihr Rücken beim Aufstehen laut. Nicolas lachte und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen eigenen Hinterkopf. Katie stellte fest, dass sein Lachen dieses Mal echt und … unbeschwert klang. Er setzte zum Sprechen an, schwieg dann aber. Katie schaute zu ihm hinüber. Für einen Moment hatte sie ihre Angst völlig vergessen und verspürte ein ausgelassenes Gefühl, das sie seit einem Monat vermisst hatte. Nicolas schaute ebenfalls überrascht, räusperte sich dann aber, als er merkte, dass einer der Wachen in der Tür stand und mit besorgtem Blick auf einen Befehl wartete. Er winkte den Wachmann beschwichtigend hinaus und half Katie zurück in den Gästestuhl.

Nicolas nahm dieses Mal auf dem großen Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz. Nachdenklich fuhr er mit seinen Händen durch das zerzauste Haar und verstrubbelte es vollkommen. Katie musste neidisch feststellen, dass es dennoch gut aussah. Ihr eigenes dagegen musste mittlerweile einem Vogelnest ähneln, denn spätestens nach ihrem letzten Sturz hatte sich der Knoten ihres Zopfes deutlich gelockert und einige Strähnen freigegeben.