Der goldene Kürbis

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KAPITEL 2

Bin ich tot?, war das erste, das Katie durch den Kopf schoss. Reglos verharrte sie in ihrer Position. Ihr Körper tat weh und fühlte sich gleichzeitig seltsam taub an. Was war passiert? Flashbackartig kamen die Erinnerungen an das bläuliche Licht, die Druckwelle und den Sturz zurück. Woher war diese Explosion gekommen? Eine defekte Gasleitung? Ein misslungenes Zündeln von Jugendlichen? Als sie den Kopf hob, durchfuhr ein stechender Schmerz ihre Schulter und wanderte unangenehm brennend in ihre rechte Hand. Wenn sie tot war, warum spürte sie dann Schmerzen?

Langsam ließ Katie die Hände von ihrem Kopf gleiten, darauf bedacht, ihre Schulter nicht zu sehr zu strapazieren, und nahm im nächsten Moment Klänge klassischer Musik wahr. Na wunderbar. Also war sie doch gestorben und die Musik kam von den Engeln im Himmel, die sie mit Harfen und Trompeten im Reich Gottes willkommen hießen. Am liebsten hätte sie sich geweigert, ihre Augen aufzumachen und damit der Realität entgegen zu treten. Falls man im Himmel überhaupt von Realität sprechen konnte. Doch ihre Neugier siegte. Sie MUSSTE einfach die Augen einen Spaltbreit öffnen.

Ein grelles Licht stach in ihre Pupillen. Schützend riss sie eine Hand vors Gesicht, als etwas ihren Arm ergriff. Erschrocken fuhr sie herum, öffnete erneut die brennenden Lider und blickte in zwei strahlend blaue Augen, die einer Welt aus glänzenden Eisbergen und Kristallen glichen. Katie blinzelte mehrfach, um wieder klare Sicht zu bekommen und erkannte schließlich einen Jungen in ihrem Alter, der über sie gebeugt stand und sie mit einer Mischung aus Überraschung und wachsamen Interesse musterte. Er war groß und hatte fast schulterlanges, dunkelblondes Haar, das er zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Zwei Strähnen fielen ihm widerspenstig ins Gesicht. Auf seiner Stirn breitete sich eine besorgte Falte aus. Mit festem Griff umschloss seine Hand Katies Arm.

»Ist Euch etwas passiert? Wartet, ich helfe Euch auf.«

Katie war zu überrumpelt, um zu antworten. Wo um alles in der Welt war sie? Den Himmel hatte sie sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Nicht, dass sie enttäuscht war. Der Junge, der ihr mittlerweile auch seine andere Hand anbot, sah wirklich gut aus und schien nett zu sein. Doch sie hatte eher engelsgleiche Kinder in weißen Seidenhemden erwartet, die Harfe spielend auf einer Wolke saßen. Stattdessen beugte sich nun ein potenzieller Quarterback in einem etwa knielangen Mantel aus schimmerndem, goldblauem Stoff über sie; einem Justaucorps, wenn sie sich richtig an die Betitelung dieses Kleidungsstückes erinnerte. Unter seiner Jacke blitzte eine eng anliegende Weste hervor, die farblich perfekt mit der Knickerbockerhose und den langen Strümpfen harmonierte. Seine schwarzen Lackschuhe glänzten im hellen Licht des Raums und ließen die goldenen Schnallen auf der Oberseite wie Sterne funkeln. Sein Outfit erinnerte Katie an historische Kleidung aus einem Museum oder ihren Geschichtsbüchern.

Sanft, aber bestimmt, zog er jetzt an ihrem Arm und holte sie ein Stück zu sich heran. Neugierig wanderten seine Augen über ihr Kostüm und stoppten bei den zwei Schwertern. Schlagartig verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. Ohne Vorwarnung ließ er Katies Hände los. Diese stürzte zurück auf den harten Boden.

Geht‘s noch? Will der mich etwa umbringen? Danke, ich bin bereits tot!

Der Junge winkte mit der rechten Hand.

Hat der mich etwa gerade wegen eines Insekts fallen lassen?

Katie hatte das Gefühl, etwas erwidern zu müssen. Etwas Unschönes. Doch da griffen plötzlich erneut Hände nach ihren Armen. Dieses Mal allerdings von hinten. Zwei Männer in dunkler Uniform und mit gefährlich glänzenden Degen zerrten sie unsanft auf die Beine.

»Ich weiß nicht, wer Ihr seid und wer Euch geschickt hat, doch Ihr werdet dieses Anwesen auf der Stelle verlassen. Und wagt es nicht, noch einmal hierher zurückzukommen, sonst lasse ich Euch in den Kerker sperren!«, blaffte der Junge und trat bedrohlich nahe an Katie heran, wobei er ihr mit dem Zeigefinger drohte. Sie schluckte. Wurde man im Himmel etwa so behandelt? Wenn ja, dann wollte sie doch lieber in die Hölle.

»Das ist ein Missverständnis! Ich …«

Weiter kam sie nicht. Unsanft rissen die beiden Soldaten sie nach hinten, von dem Jungen weg, und beendeten damit das Gespräch. Katie wollte protestieren, hielt aber inne, als ihr Blick in den Raum fiel. Wenn sie sich nicht täuschte, dann war das der große Saal der alten Villa! Die Einrichtung glich zwar nur in Grundzügen dem, was sie vor wenigen Minuten noch vor Augen gehabt hatte, aber es gab keinen Zweifel. Der Staub und die weißen Tücher waren verschwunden und die Möbel dekorativ im Raum aufgestellt. Überall im Saal standen und tanzten jetzt bunt gekleidete Frauen und Männer in üppigen Kostümen, die dem des Jungen sehr ähnelten. In einer Ecke saß sogar ein kleines Orchester mit historisch aussehenden Musikinstrumenten. Nun war ihr auch klar, woher die Musik kam.

Ein komisches Gefühl beschlich Katie. Woher kamen auf einmal all diese Leute und wie hatten sie so schnell alles umdekorieren können? Scheinbar war sie doch länger als nur ein paar Minuten bewusstlos gewesen. Aber warum hatte man sie dann nicht ins Krankenhaus gebracht oder einen Arzt verständigt? Wenn sie es nicht besser wüsste, dann hätte sie geglaubt, in einem dieser Märchenfilme gelandet zu sein, die sie immer zu Weihnachten im Fernsehen sah.

Gerne hätte sie sich genauer umgesehen, doch da wurde sie bereits aus dem Saal gezerrt.

»Verschwindet von hier und wagt es nicht noch einmal zurückzukommen!« Mit diesen Worten gab der blonde Junge den Wachen ein weiteres Zeichen und Katie wurde durch die geöffnete Eingangstür in die Dunkelheit nach draußen bugsiert. Ihr Blick streifte die große Holzvertäfelung. Sie stutzte. Das dunkle, geschnitzte Holz der Tür war völlig unversehrt und auch sonst fehlten jegliche Spuren von Alterserscheinungen und das »Betreten verboten«-Schild. Wie war das möglich?

Mit einem letzten, heftigen Ruck wurde sie über die Türschwelle gestoßen und fiel vorne über. Ein kühler Luftzug wehte ihr entgegen, als die Erdanziehung die Oberhand über ihren fallenden Körper ergriff und sie in die Tiefe stürzte. Schützend streckte Katie die Hände vor sich aus und erwartete jeden Moment Stufe für Stufe die Treppe hinunterzustolpern und unsanft auf dem Kiesboden aufzuschlagen. Doch statt durch die Tür in den Vorgarten zu stürzen, wurde ihr Fall von einem Widerstand aufgehalten. Es fühlte sich an, als ob sie auf eine Art Wand aus Gummi prallte, deren Druck sich immer weiter verstärkte und ihren Fall abbremste.

Katie blickte erschrocken nach vorne. Aber da war nichts! Nur die steinerne Eingangstreppe, die ein gutes Stück entfernt war – von einer Barriere weit und breit keine Spur.

»Was zum Teufel …«

Von hinten ertönte ein Geräusch. Die Eingangstür wurde geschlossen. Schon verengte sich der Lichtspalt aus dem Inneren und drohte jeden Moment ganz zu verschwinden.

Katie hatte aufgehört zu fallen und hing jetzt in einer komischen Schräglage halb schwebend über dem Boden. Das war physikalisch gesehen völlig unmöglich! Vor ihr befand sich absolut nichts außer Abendluft. Trotzdem drückte ihr Körper gegen eine unsichtbare Wand, die es ihr nicht erlaubte, auch nur einen einzigen Schritt weiter nach vorne zu gehen. Ein schrecklicher Gedanke machte sich in Katie breit. Was war, wenn die unsichtbare Wand sie nicht nach draußen ließ und die Eingangstür hinter ihr vollständig geschlossen wurde? Sie würde eingequetscht werden und wäre gefangen. Panik stieg in Katie auf. Eilig streckte sie ihr Bein soweit sie konnte nach hinten aus und ließ die Zehenspitzen ihres linken Fußes in den Spalt hinter sich schnellen. Nur wenige Zentimeter vor dem Schloss kam die große Tür zum Stoppen.

Niemand schien zu bemerken, dass die Eingangstür nicht komplett geschlossen war. Trotzdem wollte Katie kein Risiko eingehen und verharrte noch einen Moment lang bewegungslos in ihrer Position.

Die unsichtbare Gummiwand zog sich wie vermutet sprungfederartig zurück Richtung Eingangstür und nur mit hohem Kraftaufwand konnte Katie verhindern, nicht mit vollem Schwung durch die Tür ins Innere katapultiert zu werden. Ganz langsam verlagerte sie ihr Gewicht und lehnte sich Stück für Stück nach hinten, um dem Druck der Wand nachzugeben. Die erhoffte Entlastung kam nicht. Im Gegenteil. Nun wurde Katie erbarmungslos gegen die Holzvertäfelung der Eingangstür gepresst. Plötzlich musste sie die Tür nicht nur mit ihrem Fuß einen Spalt breit offen halten, sondern sie auch gleichzeitig mit aller Kraft gegen ihr eigenes Körpergewicht wieder zuziehen.

Das größte Problem war jedoch der drohende Krampf in ihrem Bein. Der Muskel in ihrem Oberschenkel fing vor Anstrengung bereits an zu brennen und unkontrolliert zu zittern. Lange konnte sie diese Position nicht mehr halten. Sie lauschte angestrengt.

Aus der Villa drangen vereinzelte Geräusche. Sie wurden mal lauter und mal leiser. Es war schwer einzuschätzen, ob sich jemand dem Foyer näherte oder verschwand.

Gerade als sich Katie einen Plan zurechtgelegt hatte, wie sie vorsichtig wieder die Villa betreten und sich unauffällig darin verstecken würde, versagte die Kraft in ihrem Oberschenkel. Ihr Bein fing heftig an zu krampfen und knickte unter der Anspannung ein. Katie entwich ein erstickter Schmerzensschrei. Die Eingangstür flog ungehindert auf, knallte mit Schwung gegen einen Tisch, die gummiartige Barriere gab Katie einen finalen Stoß und sie taumelte über die Türschwelle mitten ins Foyer. Mit Schwung kippte sie nach vorne, machte einen ungalanten Purzelbaum und kam wackelig wieder auf die Füße.

 

Sie rechnete mit dem Schlimmsten: aufblitzenden Degen, schreienden Wachen und einem blonden Jungen, der nur ein Wort rief: KERKER!


KAPITEL 3

Das Foyer war leer. Lediglich ein Tanzpaar schlenderte eng umschlungen aus dem Ballsaal und schien jeglichen Blick für die Umgebung verloren zu haben. Es war fast schon enttäuschend, dass offenbar niemand diesen bühnenreifen Stunt gesehen hatte. Diesen Gedanken hatte Katie jedoch nur für eine Millisekunde. Sofort kam der Ernst der Lage zurück und sie beeilte sich, in den Schatten eines kleinen Tisches zu huschen, der sich direkt neben einer großen Treppe befand.

»Wo bin ich hier nur gelandet?«

Eine Antwort blieb aus. Nachdenklich wanderte Katies Blick durch die Eingangshalle. Die Villa konnte sie offenbar nicht durch die Tür verlassen, aber auch hier drinnen war sie alles andere als sicher. Man würde sie in ihrem Halloweenkostüm sofort wiedererkennen und einsperren lassen.

Was würde eine Schattenjägerin jetzt tun …?

Sie erinnerte sich an ein Buch, in dem der Protagonist in einer ähnlich verzwickten Lage steckte und nicht erkannt werden durfte, sich aber trotzdem unters Volk mischen musste, um an wichtige Informationen heranzukommen. Anpassen war die beste Methode nicht aufzufallen. Alle Leute im Ballsaal trugen prachtvolle Kleider und Anzüge. Also musste sie auch so aussehen, dann konnte sie sich in Ruhe genauer umsehen.

Ihr Blick fiel auf die große Treppe, die sich links und rechts an der Wand in einem weitläufigen Bogen nach oben erstreckte. Waren nicht oft Schlafund Ankleidezimmer in der obersten Etage?

Ohne lange zu zögern, schlich Katie in gebückter Haltung die Treppe nach oben und landete in einem großen Flur, von dessen Wänden unzählige Türen abgingen. Sie griff nach dem ersten bronzenen Knauf auf der linken Seite. Es rührte sich nichts. Eilig schlich sie zum nächsten. Ebenfalls geschlossen. Schritte ertönten. Katie erstarrte mitten in der Bewegung und lauschte. Die Schritte waren kaum hörbar, wurden jedoch zunehmend lauter und kamen eindeutig näher. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Mit aufgerissenen Augen suchte sie die Umgebung nach einem passenden Versteck ab. Da waren ungefähr tausend verschlossene Türen und vereinzelt herumstehende Tischchen mit Blumenschmuck. Kein einziges Versteck! Blieb noch die Treppe. Völliger Blödsinn. Wer wusste schon, wem sie dort begegnete. Wäre es der blonde Junge, dann hieß es gleich Game Over.

Die Schritte waren nun ganz deutlich am Ende des Flures zu hören. Wer auch immer hier oben herumlief, würde jeden Moment um die Ecke biegen.

So leise es ging, sprintete Katie auf die gegenüberliegende Seite und griff wahllos nach der nächstbesten Tür. Zu ihrer großen Erleichterung ließ sich diese problemlos öffnen. Sie sprang in das dahinter liegende Zimmer und blieb im Stockdunklen stehen. Keine Ahnung, wer oder was sich hier drinnen befand. Die größte Gefahr ging aber momentan vom Flur aus. Katie schloss rasch die Tür so weit wie nötig, um von außen nicht erkannt zu werden und schielte durch den Spalt. Jetzt würde sich zeigen, ob jemand ihren Spurt quer über den Flur bemerkt hatte.

Keine Sekunde später tauchten auch schon zwei Wachoffiziere in ihrem Blickfeld auf. Zügigen Schrittes marschierten sie den Gang entlang. Bei jeder Bewegung schlugen ihre Degen geräuschvoll an die uniformierten Beine. Katie wich instinktiv einen Schritt zurück. Die Männer kamen immer näher, blickten in ihre Richtung … und gingen an dem Raum vorbei.

»… weiß wirklich nicht, was er damit meint. Er glaubt, dass der Kürbis gestohlen werden …«

»Er sagte etwas von …«

Schon waren die Wachen hinter der nächsten Ecke verschwunden. Erleichtert atmete Katie aus. Ihr unerlaubtes Betreten der Villa hatte offenbar niemand bemerkt.

Gerade als sie die Tür öffnen wollte, hörte sie erneut Schritte auf dem Flur. Sofort zog sich Katie zurück in das dunkle Zimmer. Dieses Mal waren die Geräusche viel leiser und unregelmäßiger. Ein schmächtiger Mann und eine Frau in ausladender, rosafarbener Abendgarderobe erschienen. Händchen haltend schlich das Paar den Gang entlang in Richtung der großen Treppe. Während der Mann seine Füße übertrieben vorsichtig auf dem Boden absetzte, hob und senkte sich der große Unterrock der Frau geräuschvoll. Der Anblick glich einem ungelenken Vogel, der durch hohes Gras stakste und durch den lauten raschelnden Stoff genau das Gegenteil des Mannes bezweckte. Dick und Doof ließen grüßen. Katie konnte nicht anders. Sie musste lachen. Panisch schlug sie sich die Hand vor den Mund.

Die Frau hielt abrupt inne. »Was war das?«

»Ich habe nichts gehört.« Der Mann ging unbeirrt weiter und zog unnachgiebig am Arm der Frau. Diese schien allerdings von der Antwort wenig überzeugt. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie die Umgebung ab. Ihr Blick traf den von Katie. Diese zuckte erschrocken zurück, doch es war zu spät. Der Mund der Frau öffnete sich.

»Da ist nichts. Kommt endlich!«, mit einer ruckartigen Bewegung zog der Mann sie von der Tür fort. Widerspenstig reckte sie den Kopf nach hinten, doch Katie hatte sich bereits aus dem Sichtfeld zurückgezogen und kauerte nervös am anderen Ende des Zimmers.

»Hoffentlich hat man unser Verschwinden nicht bemerkt«, vernahm sie die dumpfe Stimme der Frau.

»Habt keine Angst, Liebste. Niemand hat etwas bemerkt.«

Die Schritte wurden leiser und verschwanden schließlich ganz. Katie atmete erleichtert aus und ließ sich erschöpft auf den Boden sinken. Ihre Beine zitterten vor Aufregung. Trotzdem huschte ein Grinsen über ihr Gesicht. Scheinbar war das ein oder andere Liebespärchen hier auf der Suche nach einem ungestörten Platz. Wenn auch die Anschleichmethode der beiden sehr eigenartig gewesen war.

Unfassbar, welch unverschämtes Glück Katie jetzt schon zum zweiten Mal gehabt hatte. In Zukunft hieß es jedoch besser aufzupassen. Ihr Schutzengel würde früher oder später mal eine Pause machen und dann konnte ein Fehltritt verheerende Folgen mit sich bringen.

Erst jetzt fiel Katie auf, dass die Gefahr noch gar nicht vorüber war. Sie befand sich in einem völlig fremden und dazu noch dunklen Zimmer. Die zugezogenen Vorhänge deuteten darauf hin, dass sich jemand zum Schlafen hingelegt hatte und hoffentlich auch jetzt noch brav im Bett lag. Am liebsten wäre Katie direkt zurück in den Flur gerannt, aber sie brauchte dringend eine Verkleidung. Nein, sie musste die Chance nutzen und sich hier zuerst nach einem Kostüm umschauen.

Mit der Hand schützend vor dem Glas, schaltete Katie ihre Taschenlampe ein und durchleuchtete im schwachen Licht vorsichtig das Zimmer. Sofort fiel ihr Blick auf das große Himmelbett auf der rechten Seite. Es war also tatsächlich ein Schlafzimmer.

Erstaunlicherweise war das Bett leer und unbenutzt, wie sie nach einer genaueren Untersuchung feststellte. Ansonsten beinhaltete das Zimmer noch einen Nachttisch, einen Kamin und einen großen, hölzernen Kleiderschrank in der linken Zimmerecke.

»Bingo!«

Eilig durchquerte Katie den Raum und öffnete die linke Schranktür. Ein muffiger Geruch von Stoff und Mottenkugeln schwappte ihr entgegen und breitete sich im Zimmer aus. Katie schnappte angewidert nach Luft und unterdrückte einen aufkommenden Würgereiz. Einen Moment lang krampfte sich ihr Magen zusammen. Angewidert drehte sie den Kopf zur Seite.

Dann verflog die unangenehme Duftwolke und gab den Inhalt des Schrankes frei. Neben allerlei Unterwäsche und Mänteln hingen dort fünf verschiedene Kleider. Die Gewänder leuchteten in den unterschiedlichsten Farben. Ehrfürchtig berührte Katie mit der Hand das erste Kleid und strich über den seidenen Stoff. Im Licht der Taschenlampe blitzten goldglänzende Stickereien und eingewobene Perlen auf. Diese Kleider mussten einer sehr wohlhabenden Dame gehören. Perfekt also, um sich damit auf einen edlen Kostümball zu schleichen.

Mit entschlossener Miene griff Katie nach einem roten Kleid. Die Größe durfte in etwa passen. Zwar war es ein komisches Gefühl so etwas Wertvolles »auszuborgen«, doch in Anbetracht der Kerkeralternative hatte sie wohl kaum eine andere Wahl.

Eilig tauschte sie ihr eigenes Outfit gegen das üppige Gewand. Zumindest war das der Plan.

Das Anziehen des historischen Kleides erwies sich jedoch als große Herausforderung. Überall hingen Schnüre und Bänder, die ohne Hilfe kaum zu schließen waren. Allein das Schnürkorsett bildete eine schier unlösbare Aufgabe, an der Katie nach einigen kläglichen Versuchen endgültig scheiterte. Also beschloss sie, sich lediglich auf die wichtigsten Verschlussstellen zu konzentrieren, sodass das Kleid zumindest ansatzweise Halt hatte und einen respektablen Anblick bot.

Die Haare knotete sie zu einem schlichten Dutt auf dem Hinterkopf zusammen. Nur zwei Strähnen ließ sie links und rechts seitlich ins Gesicht fallen. Sie meinte ähnliche Frisuren bei den anderen weiblichen Gästen gesehen zu haben, wenn nicht sogar aufwendige Perücken. Ein solch kratzendes Flohmonster kam für sie jedoch nicht in Frage.

Übrig blieb ein kleiner Haufen Schnüre und Bänder, die verstreut auf dem Boden lagen. Katie hoffte, dass diese nicht alle zu IHREM Kleid gehörten. Vorsichtshalber griff sie nach einem roten Band und wickelte es sich als Armband ums linke Handgelenk. So hatte sie wenigstens etwas griffbereit, falls sich doch der ein oder andere Verschluss öffnen sollte.

Einige Minuten später war sie schweißnass gebadet, doch das Resultat konnte sich sehen lassen. Ein Blick in den Schrankspiegel ließ Katie andächtig innehalten: Die Schattenjägerin war verschwunden. Stattdessen lächelte ihr nun eine Märchenprinzessin entgegen. Das rote Kleid war nach hinten gefaltet, aufgebauscht und besaß eine farblich passende Schleppe. Der Reifrock sowie das weit ausgeschnittene und aufwendig verzierte Dekolleté verliehen ihr ungewohnt ausgeprägte Kurven. Katie erkannte sich kaum wieder. Ihr Kostüm war zwar etwas zu groß, sollte aber seinen Zweck erfüllen. Nur die ausladende Breite des Reifrockes war gewöhnungsbedürftig.

Katie ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab, bis sie zumindest ungefähr wusste, wo das Kleid anfing und wo es endete. Dann verstaute sie ihre Wertgegenstände im Kleid und versteckte ihr eigenes Kostüm in einem Spalt zwischen Schrank und Wand. Die Stiefel mit dem Dolch ihres Vaters behielt sie allerdings an. Der Saum des Kleides reichte zum Glück bis zum Boden, sodass ihre Schuhe darunter komplett verdeckt waren.

Wenn mich jetzt nur Gina mit ihrem Billigkostüm sehen könnte. Beim Gedanken an Gina verschwand der märchenhafte Moment und die Realität kehrte zurück. Sie musste so schnell wie möglich herausfinden, was hier vor sich ging und verschwinden. Die Wette war ihr mittlerweile völlig egal. Das Lichtsignal konnte man bei dieser Christbaumbeleuchtung sowieso nicht mehr von außen sehen. Das musste selbst die Zickenclique zugeben.