Die Clique

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Was Kay jedoch immer wieder vergaß, obwohl Harald es ihr unentwegt einhämmerte, war die Tatsache, dass sie und ihr Freundeskreis in der amerikanischen Gesellschaft, wie sie die beiden Frauen hier im Wartezimmer repräsentierten, keine Rolle mehr spielten. Gestern Abend, nach dem Theater, als alle drei auf ein Bier in ein Speakeasy gingen, hatte Harald das Dottie eingehend erklärt. Dass Roosevelt gerade jetzt vom Goldstandard abgegangen war, bedeute eine Unabhängigkeitserklärung vom alten Europa und die Ankündigung einer neuen dynamischen Epoche. Die N. R. A. und der Adler seien Symbole der Machtergreifung einer neuen Klasse. Ihre eigene Klasse, der gehobene Mittelstand, so sagte Harald, sei politisch und wirtschaftlich erledigt. Die besten von ihnen würden mit der aufsteigenden Klasse der Arbeiter, Bauern und Techniker verschmelzen, zu der er als Bühnentechniker gehörte. Man nehme zum Beispiel das Theater. Zu Belascos Zeiten sei der Regisseur König gewesen. Heute jedoch sei er nicht nur von seinen Geldgebern, unter Umständen einem ganzen Konsortium, abhängig, sondern fast noch mehr von seinem Chefbeleuchter, mit dessen Beleuchtungstechnik ein Stück stehe und falle. Hinter jedem Regisseur mit großem Namen, wie zum Beispiel Jed Harris, stehe ein genialer Beleuchter, wie hinter jedem Filmregisseur mit großem Namen ein genialer Kameramann. Für das Radio gelte das Gleiche: Wer zähle, seien die Ingenieure, die Männer im Senderaum. Ein Arzt hänge heutzutage von seinen Technikern ab, von den Männern im Laboratorium und im Röntgenzimmer. »Das sind die Jungens, die eine Diagnose bestätigen oder zerstören können.«

Gestern Abend hatte Kay sich an dem von ihm heraufbeschworenen Zukunftsbild vom Massenüberfluss durch die Maschinen begeistert. Es freute sie, dass er Dottie imponierte. Dottie hatte keine Ahnung gehabt, dass er sich so viel mit Soziologie beschäftigte, denn in seinen Briefen war davon nicht die Rede gewesen. »Als Individuen«, erklärte er, »habt ihr Mädels an die aufsteigende Klasse etwas weiterzugeben, genau wie das alte Europa an Amerika.« Kay genoss es, dass er den Arm um ihre Taille gelegt hatte, während Dottie mit großen Augen zuhörte, denn Kay wollte nicht hinter der Geschichte herhinken, zugleich war sie nicht vorbehaltlos für das Prinzip der Gleichheit. Sie sei, gestand sie, nun einmal gern die Überlegene. Harald hatte in der guten Stimmung von gestern Abend gemeint, dass das auch im neuen Zeitalter immer noch möglich wäre, auf andere Weise freilich.

Gestern Abend hatte er Dottie das Wesen der Technokratie erklärt, um ihr zu zeigen, dass man von der Zukunft nichts zu befürchten habe, wenn man ihr mit einem wissenschaftlich geschulten Intellekt begegne. In einer Wirtschaft der Fülle und der Muße, die die Maschine bereits ermöglicht habe, werde jeder nur ein paar Stunden am Tage arbeiten müssen. In einer solchen Wirtschaft werde seine Klasse, die Klasse der Künstler und Techniker, zwangsläufig nach oben kommen. Die Huldigung, die man heute dem Gelde darbringe, werde morgen den Ingenieuren und Freizeitgestaltern zuteilwerden. Mehr Muße bedeute mehr Zeit für Kunst und Kultur. Dottie wollte wissen, was mit den Kapitalisten geschehen würde (ihr Vater war im Importgeschäft), und Kay blickte fragend auf Harald. »Das Kapital wird in der Regierung aufgehen«, sagte Harald. »Nach kurzem Kampf. Das ist es, was wir zurzeit erleben. Der Administrator, der nichts anderes ist als ein Techniker im großen Stil, wird in der Industrie den Großkapitalisten ersetzen. Das Privateigentum wird sich immer mehr überleben und die Administratoren haben die Sache in die Hand genommen.« – »Robert Moses zum Beispiel«, warf Kay ein. »Mit seinen wunderbaren Parkanlagen und Spielplätzen hat er New York bereits ein völlig neues Gesicht gegeben.« Und dringendst empfahl sie Dottie, einmal nach Jones Beach zu fahren, das ihrer Meinung nach ein so faszinierendes Beispiel einer großzügigen Freizeitplanung sei. »Jeder Mensch in Oyster Bay«, ergänzte sie, »fährt jetzt zum Schwimmen dorthin. Man schwimmt nicht mehr im Club, man schwimmt in Jones Beach.« Das Privatunternehmen werde noch immer eine Rolle spielen, sofern es über genügend Weitblick verfüge. Radio City, wo er eine Zeitlang als Regieassistent gearbeitet habe, sei beispielhaft für eine Städteplanung vonseiten aufgeklärter Kapitalisten, den Rockefellers. Kay führte das Modern Museum an, das ebenfalls von den Rockefellers gefördert werde. Sie sei wirklich überzeugt, dass New York zurzeit eine neue Renaissance erlebe, bei der neue Medicis mit der öffentlichen Hand wetteiferten, um ein modernes Florenz zu schaffen. Man könne das sogar bei Macy’s sehen, wo aufgeklärte jüdische Kaufleute wie die Strausens eine Armee von Technikern aus der oberen Mittelklasse, Kay zum Beispiel, ausbilde, um aus dem Warenhaus mehr als ein Geschäft zu machen, etwas wie ein zivilisatorisches Zentrum, einen ständigen Basar mit Ausstellungsgegenständen von kulturellem Interesse, wie der alte Crystal Palace. Dann sprach Kay von den eleganten neuen Wohnblocks am Ufer des East River, schwarz, mit weißem Stuck und weißen Jalousien, sie seien ein weiteres Beispiel für intelligente Planung durch das Kapital. Vincent Astor hatte sie erstellt. Natürlich seien die Mieten ziemlich hoch, aber was bekam man nicht alles dafür! Einen Blick auf den Fluss, nicht weniger gut als der Blick von den Sutton-Place-Appartements, manchmal einen Garten, wie gesagt, die Jalousien, genau wie die alten, nur modernisiert, und eine ultramoderne Küche. Und wenn man bedachte, dass diese Blocks vor ihrer Renovierung durch die Astors mit ihrem Ungeziefer und den unhygienischen Aborten nur die Gegend verschandelt hatten. Andere Hausbesitzer seien bereits diesem Beispiel gefolgt, wandelten alte Mietskasernen in vier- und fünfstöckige Wohnblocks um, mit grün bewachsenen Innenhöfen und Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen für junge Leute, manche davon mit offenen Kaminen, eingebauten Bücherregalen, nagelneuer Installation, Badezimmern, Toiletten sowie Kühlschrank und Herd. Da entfiel jede Raumverschwendung – es gab weder Dielen noch Speisezimmer, das seien überholte Einrichtungen. Harald, erklärte Kay, sei ein fanatischer Gegner jeder Raumverschwendung. Für ihn müsse ein Haus eine Wohnmaschine sein. Wenn sie erst eine eigene Wohnung fänden, würden sie sich alles einbauen lassen: Bücherregale, Schreibsekretäre, Kommoden. Die Betten wären Sprungfedermatratzen auf vier niedrigen Klötzen, und als Esstisch dächten sie an eine in die Wand versenkbare Platte in der Art eines Bügelbretts, nur breiter.

Kay war selten so glücklich gewesen wie gerade jetzt, da sie Dottie ihre Pläne für die Zukunft schilderte, während Harald mit kritisch hochgezogener Braue zuhörte und bei jedem Fehler korrigierend dazwischenfuhr. Dottie brachte dann einen Misston in die Unterhaltung, indem sie mit ihrer sanft rollenden Stimme fragte, was denn aus den Armen würde, die vorher in den Häusern gewohnt hatten. Wo zögen die hin? Mit dieser Frage hatte Kay sich nie beschäftigt, und auch Harald wusste keine Antwort, was ihn sofort merklich verstimmte. »Cui bono?«, sagte er. »Wer profitiert davon? He?«, und machte dem Kellner ein Zeichen, noch ein zweites Bier zu bringen. Darüber erschrak Kay, die wusste, dass er morgen früh um zehn mit einer zweiten Besetzung zu proben hatte. »Diese Frage ist ebenso simpel wie tief erschütternd«, fuhr er, zu Dottie gewandt, fort. »Was geschieht mit den Armen?« Er starrte düster vor sich hin, wie in ein Vakuum. »Fahren die Armen an den großen, weißen, keimfreien Strand von Mr. Moses, den Kay so faszinierend und gemeinnützig findet? Natürlich nicht, meine Damen! Sie haben weder das nötige Eintrittsgeld noch den Wagen, der sie hinbringen könnte. Der wird stattdessen zum Privatstrand der Oyster-Bay-Clique – einer Bande von Schiebern und deren Frauen, die mit ihren hübschen gepuderten Näschen an dem öffentlichen Trog schnuppern.« Kay sah, dass er immer mehr in Trübsinn versank (er bekam häufig solche skandinavischen Anfälle bitterer Verzweiflung), doch es gelang ihr, dem Gespräch eine harmlosere Wendung zu geben, indem sie die Rede auf Kochkunst und Kochrezepte brachte, eines seiner Lieblingsthemen, über das er sich dann auch Dottie gegenüber des Längeren ausbreitete, sodass sie um halb zwei Uhr zu Hause und im Bett waren.

Harald war eine sehr paradoxe Natur. Er griff oft aus heiterem Himmel gerade die Dinge an, die ihm am meisten am Herzen lagen. Als sie im Wartezimmer der Ärztin saß und verstohlen die anderen Patientinnen beobachtete, konnte sie sich sehr wohl vorstellen, dass er behaupten würde, sie und Dottie profitierten von dem Kreuzzug für die Geburtenregelung, der eine zahlenmäßige Begrenzung der Familien der Armen zum Ziel hatte. Im Geiste begann sie, sich zu verteidigen. Geburtenregelung, wandte sie ein, sei für diejenigen gedacht, die sie entsprechend anzuwenden und zu schätzen wussten – für die Gebildeten. Genau wie jene renovierten Wohnhäuser. Würde man den Armen gestatten, sie zu beziehen, würden sie sie, ungebildet wie sie waren, ohnehin sofort herunterwirtschaften.

Auch Dotties Gedanken weilten beim vergangenen Abend. Sie war ganz begeistert davon, wie Kay und Harald ihr Leben vorausplanten. Wenn Kay im September bei Macy’s anfing, würde Harald sich morgens um das Frühstück kümmern, dann die Wohnung saubermachen und einkaufen, damit Kay am Abend, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, nur noch zu kochen brauchte. Schon jetzt brachte Harald ihr das Kochen bei. Seine Spezialitäten waren italienische Spaghetti, was jeder Anfänger lernen konnte, jenes Muschelhaschee, das sie neulich Abend gehabt hatten – ganz ausgezeichnet –, Fleischklöße, die in Salzwasser in einer heißen Kasserole (ohne Fett) gekocht wurden, und ein Hackbraten, den er von seiner Mutter gelernt hatte: ein Teil Rindfleisch, ein Teil Schweinefleisch, ein Teil Kalbfleisch, Zwiebelscheiben hinzufügen und mit einer Büchse von Campbells Tomatensuppe übergossen im Ofen backen. Dann war da noch sein Chili con Carne: ein halbes Pfund Hackfleisch, Zwiebeln, dicke Bohnen aus der Büchse und wieder Tomatensuppe. Man richtete es auf Reis an und es reichte für sechs Personen. Auch dies Rezept stammte von seiner Mutter. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, wie sie lachend sagte, hatte Kay an ihre Mutter geschrieben und um einige ihrer billigeren Hausrezepte gebeten: Kalbsnieren mit Pilzen, in Sherry gedünstet, und einen fabelhaften Salat in Aspik, »Grüne Göttin« genannt, aus Limonengelatine, Krabben, Mayonnaise und Avocados. Man konnte diese Mischung am Abend vorher in Förmchen gießen und am nächsten Tag auf Kopfsalat servieren. Sie hatten vor, an Sonntagen Gäste einzuladen, entweder zu einem späten Frühstück mit Rauchfleisch oder Corned-Beef-Haschee oder zu einem Eintopfgericht am Abend. Das Schlimme an der amerikanischen Küche, sagte Harald, sei ihr Mangel an Fantasie und die Angst vor Innereien und Knoblauch. Er gelte als recht guter Koch und tue an alles Knoblauch. Die Hauptsache bei einem Gericht seien die Zutaten. »Hör nur mal, wie Harald Gehacktes zubereitet. Er gibt Senf, Worcestershire-Sauce, geriebenen Käse – stimmt doch? – und grünen Paprika und ein Ei dazu. Nie käme man auf die Idee, dass es etwas mit dem alten, glasigen Hackfleisch zu tun hätte, das man uns im College vorgesetzt hat.« Ihr Lachen schallte durch das Speakeasy. Wenn Dottie etwas lernen wollte, so solle sie die Rezepte in der Tribune studieren. »Ich liebe die Tribune«, sagte sie. »Harald hat mich von der Times abgebracht.« – »Die Typografie der Tribune ist weit besser als die der Times«, warf Harald ein. »Was für ein Glück du hast!«, bemerkte Dottie voller Wärme. »Einen Mann zu finden, der sich für Kochen interessiert und keine Experimente scheut. Die meisten Männer, weißt du, sind in ihrem Geschmack furchtbar konservativ. Wie Papa, der von vorgekochten Gerichten nichts wissen will, außer den guten alten Bohnen am Samstag.« Ihre Augen funkelten verschmitzt, aber sie fand wirklich, dass Kay großes Glück hatte. »Du solltest eure Köchin dazu bewegen, dieses neue Bohnenrezept auszuprobieren. Man gibt einfach Tomatenketchup, Senf und Worcestershire-Sauce hinzu, bestreut sie mit viel braunem Zucker, bedeckt sie mit Speck und erhitzt sie im Ofen in einer feuerfesten Glasschüssel.« – »Das klingt höchst verlockend«, meinte Dottie, »aber Papa wäre entsetzt.« Harald nickte. Er setzte zu einer Vorlesung über die Vorurteile konservativer Kreise gegen Konserven an. Sie gingen auf eine alte Angst vor Vergiftung zurück, sagte er, die aus der Zeit stamme, da man im Hause einzumachen pflegte und die Lebensmittel leicht verdarben. Moderne Maschinen und eine sachgemäße Verarbeitung in den Fabriken hätten nun jede Bakteriengefahr ausgeschaltet, aber das Vorurteil bestehe immer noch, und das sei bedauerlich, weil viele Lebensmittelkonserven, wie Gemüse, auf dem Höhepunkt des Reifens gepflückt, auch manche Campbell-Suppen, an Geschmack alles übertrafen, was eine Köchin zu leisten vermöge. »Hast du mal die neuen Corn Niblets versucht?«, fragte Kay. Dottie schüttelte verneinend den Kopf. »Du solltest deiner Mutter davon erzählen. Es ist Vollkornmais. Köstlich. Fast wie frische Maiskolben. Harald hat sie entdeckt.« Sie überlegte: »Kennt deine Mutter den sogenannten Eisbergsalat? Es ist eine neue Salatsorte, sehr knusprig, und hält sich wunderbar lange frisch. Wenn du den mal gekostet hast, wirst du den alten Bostoner Kopfsalat nicht mehr sehen wollen.« Dottie seufzte. Ob Kay sich wohl klar machte, fragte sie sich, dass sie soeben das Todesurteil über Bostoner Salat, Bostoner dicke Bohnen und das Bostoner Kochbuch gefällt hatte?

 

Trotzdem nahm Dottie sich vor, wenn sie erst einmal in ihrem Landhäuschen in Gloucester angelangt sei, einige von Kays Tipps an ihre Mutter weiterzugeben. Der Gedanke an ihre Mutter lastete auf ihrer Seele, schon seit jenem schicksalhaften Morgen, an dem sie in den Vassar-Club zurückkam und erfuhr, dass sie zweimal telefonisch aus Gloucester verlangt worden war, am Vorabend und am frühen Morgen. Es war ihr unsagbar schwergefallen, ihre Mutter zum ersten Mal im Leben wirklich anzulügen und ihr vorzuschwindeln, sie hätte mit Polly in der Wohnung von Pollys Tante übernachtet. Es schnitt ihr noch immer ins Herz, dass sie ihrer Mutter nichts von ihrem Besuch bei der Beratungsstelle für Geburtenkontrolle und jetzt hier bei der Ärztin berichten konnte, was Mama, als ehemalige Vassar-Studentin, die mit Lucy Stoners und anderen Frauenrechtlerinnen zusammen im gleichen Jahrgang gewesen war, bestimmt enorm interessiert hätte. Das bedrückende Bewusstsein, dass sie etwas verschwieg, ließ sie umso aufmerksamer auf Kleinigkeiten von einigem Interesse achten, über die sie zum Ausgleich in Gloucester berichten könnte – zum Beispiel Kays und Haralds Speisezettel und Haushaltsführung, die Mama wahnsinnig amüsieren würden. Vielleicht konnte sie ihr sogar erzählen, dass Kay bei der Geburtenkontrollstelle gewesen sei und dass man sie zu dieser Ärztin hier geschickt hätte, damit sie sich diesen neuen Apparat besorge?

»Miss Renfrew«, rief die Schwester leise. Dottie fuhr zusammen und stand auf. Sie sah Kay mit einem letzten verzweifelten Blick an, wie eine Internatsschülerin, die in das Zimmer der Vorsteherin zitiert wird. Langsam, mit fast versagenden Knien, bewegte sie sich auf das Ordinationszimmer der Ärztin zu. Am Schreibtisch, im weißen Kittel, saß eine Frau mit olivfarbener Haut und einem dicken schwarzen Haarknoten. Die Ärztin sah sehr gut aus und mochte vierzig Jahre alt sein. Ihre großen glänzenden Augen ruhten kurz auf Dottie, während ihre breite Rechte mit den spitz zulaufenden Fingern auf einen Stuhl wies. Sie begann mit der Anamnese, als handle es sich um eine übliche Konsultation. Sachlich notierte ihr Bleistift Dotties Antworten über Masern, Keuchhusten, Hautekzeme und Asthma. Und doch fühlte Dottie einen warmen, hypnotischen Charme, den sie ausstrahlte und der Dottie mitzuteilen schien, dass sie sich nicht zu fürchten brauche. Fast erstaunt wurde sich Dottie klar, dass sie beide Frauen waren. Die weibliche Aura der Ärztin wirkte, ebenso wie der weiße Kittel, beruhigend auf die Patientin. Der Ehering machte auf Dottie einen ebenso vertrauenerweckenden Eindruck wie die Trägerin.

»Haben Sie schon Verkehr gehabt, Dorothy?« Die Frage schien sich so natürlich an die Liste von Operationen und früheren Krankheiten anzuschließen, dass Dottie die Frage bejahte, noch ehe sie Zeit fand, sich zu genieren. »Gut!«, meinte die Ärztin und lächelte Dottie, welche sie verwundert ansah, ermutigend zu. »Das erleichtert uns die Anprobe«, erläuterte sie in lobendem Ton, als sei Dottie ein braves Kind gewesen. Dottie staunte über die Geschicklichkeit der Ärztin und saß, von ihrer Persönlichkeit ganz benommen, mit großen Augen da, während ihr durch eine Reihe von Fragen, wie mit einer kunstvoll gehandhabten Zange, völlig schmerzlos Auskünfte entrissen wurden. Dieses schmerzlose Verhör verriet keine größere Neugier hinsichtlich der näheren Umstände von Dotties Defloration. Dick hätte genauso gut ein chirurgisches Instrument sein können. War Dottie ganz perforiert worden, hatte sie stark geblutet, große Schmerzen gehabt? Welches Verhütungsmittel war angewendet worden, hatte sich der Akt wiederholt? »Interruptus«, murmelte die Ärztin und notierte das auf einem zweiten Schreibblock. »Wir wissen immer gern«, erklärte sie mit einem raschen herzlichen Lächeln, »welche Methoden unsere Patientinnen angewendet haben, bevor sie zu uns kommen. Wann fand der Verkehr statt?« – »Vor drei Tagen«, erwiderte Dottie errötend und glaubte, nun komme die persönliche Seite zur Sprache. »Und wann war Ihre letzte Periode?« Dottie gab das Datum an und die Ärztin warf einen Blick auf ihren Tischkalender. »Sehr schön«, sagte sie. »Gehen Sie jetzt in das Badezimmer, entleeren Sie Ihre Blase, und ziehen Sie Hüftgürtel und Schlüpfer aus, das Unterkleid dürfen Sie anbehalten, aber legen Sie bitte den Büstenhalter ab.«

Dottie störte weder die Unterleibsuntersuchung noch die Anprobe des Pessars. Schlimm wurde es für sie erst, als sie lernen sollte, es sich selber einzulegen. Obwohl sie sonst recht geschickte Hände hatte, fühlte sie sich plötzlich durch die Ärztin und die Schwester irritiert, deren forschende Blicke sie so prüfend und unpersönlich abtasteten wie der Gummihandschuh der Ärztin. Beim Zusammendrücken des Pessars rutschte ihr das glitschige, salbenbeschmierte Ding aus der Hand, schoss quer durch den Raum und traf den Sterilisator. Dottie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Aber für die Ärztin und die Schwester war das anscheinend nichts Neues. »Versuchen Sie es noch einmal, Dorothy«, sagte die Ärztin gelassen und holte ein neues Pessar der richtigen Größe aus der Schublade. Dann hielt sie, wie zur Ablenkung, einen kleinen Vortrag über die Geschichte des Pessars, wobei sie jedoch Dottie nicht aus den Augen ließ: dass schon die alten Griechen einen medizinischen Stöpsel kannten, ebenso die Juden und Ägypter, wie Margaret Sanger in Holland das moderne Pessar erfunden, welche Kämpfe man vor den hiesigen Gerichten ausgefochten hatte … Dottie hatte das alles schon gelesen, wollte das aber der brünetten, stattlichen Frau, die mit ihren Instrumenten wie eine Tempelpriesterin hantierte, nicht sagen. Wie jeder aus den Zeitungen wusste, war die Ärztin selbst erst vor ein paar Jahren im Verlauf einer Razzia in einer Klinik für Geburtenbeschränkung verhaftet und dann freigesprochen worden. Sie über ihre Lebensaufgabe sprechen zu hören war eine Ehre, gleichsam als ob man den Mantel des Propheten berührte. Dottie war gebührend beeindruckt.

»Eine Privatpraxis ist doch wohl recht unbefriedigend«, erkundigte sie sich teilnahmsvoll. Für eine so dynamische Person wie die Ärztin konnte es nicht sehr aufregend sein, jungen Mädchen Pessare anzupassen. »Wir haben immer noch eine große Aufgabe vor uns«, seufzte die Ärztin und entfernte das Pessar mit einem kurzen anerkennenden Nicken. »So viele unserer Klinikpatientinnen wollen das Pessar, das wir ihnen verordnen, nicht benutzen oder wenigstens nicht regelmäßig benutzen.« Die Schwester wiegte den Kopf unter der weißen Haube und schnalzte missbilligend. »Und gerade die haben es am nötigsten, ihre Kinderzahl zu beschränken, nicht wahr, Frau Doktor? Bei unseren Privatpatientinnen können wir uns eher darauf verlassen, dass sie unsere Vorschriften befolgen, Miss Renfrew.« Sie grinste anzüglich. »Ich brauche Sie jetzt nicht mehr, Miss Brimmer«, sagte die Ärztin, die sich am Spültisch die Hände wusch. Die Schwester ging hinaus, und Dottie, die sich mit ihren umgerollten Strümpfen und dem lose hängenden Büstenhalter ziemlich albern vorkam, wollte ihr folgen. »Einen Augenblick, Dorothy«, sagte die Ärztin, drehte sich um und fixierte sie mit ihrem leuchtenden Blick. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Dottie schwankte. Sie hätte nun, da das Eis gebrochen war, liebend gern mit dieser Frau über Dick gesprochen. Aber ihr nunmehr geschärfter Blick las Müdigkeit im abgespannten Gesicht der Ärztin. Außerdem warteten noch andere Patientinnen, und draußen saß Kay. Und was, wenn die Ärztin ihr dann raten würde, sofort in den Vassar-Club zurückzukehren, ihre Sachen zu packen, mit dem Sechs-Uhr-Zug nach Hause zu fahren und Dick niemals wiederzusehen? Dann brauchte sie das Pessar gar nicht, und alles wäre umsonst gewesen.

»Ärztliche Aufklärung«, sagte die Ärztin freundlich und musterte Dottie mit einem nachdenklichen Blick, »kann der Patientin häufig zum vollen sexuellen Genuss verhelfen. Die jungen Frauen, die mich aufsuchen, haben das Recht, vom Geschlechtsakt die größtmögliche Befriedigung zu erwarten.« Dottie kratzte sich am Kinn. Die Haut oberhalb ihrer Brust verfärbte sich fleckig. Was sie vor allem fragen wollte, musste eine Ärztin, insbesondere eine verheiratete, vielleicht wissen. Sie hatte Kay natürlich nichts von dem gesagt, was sie noch immer beschäftigte: Was bedeutete es, wenn ein Mann mit einem ins Bett ging, aber einen kein einziges Mal küsste, nicht einmal im erregendsten Augenblick? In der Fachliteratur hatte Dottie nichts darüber gefunden, vielleicht war es so selbstverständlich, dass die Wissenschaftler es gar nicht eigens erwähnenswert fanden. Vielleicht gab es, wie Dottie schon zu Anfang vermutete, eine ganz natürliche Erklärung dafür, wie Mundgeruch oder Mundfäule. Oder es handelte sich um ein Gelübde, wie manche Leute geloben, sich nicht zu rasieren oder zu waschen, bis irgendetwas Bestimmtes in Erfüllung gegangen ist. Aber es wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen und wann immer sie daran dachte, errötete sie über beide Ohren, wie eben jetzt. Im Grunde ihrer Seele befürchtete sie, Dick sei, wie Papa sagen würde, ein Tunichtgut. Hier hätte sie nun die Gelegenheit, es in Erfahrung zu bringen. Aber in dem blitzenden Ordinationszimmer wusste sie nicht, wie sie die Frage formulieren sollte. Wie drückte man sich technisch aus? »Wenn der Mann sich der Oskulation enthält?« Ihr Grübchen zuckte verlegen, nicht einmal Kay würde so etwas sagen. »Ist es vielleicht nicht normal …«, begann sie und starrte dann hilflos auf die große Frau, die völlig ungerührt schien, »wenn vor dem Geschlechtsakt …« – »Ja?«, ermutigte sie die Ärztin. Dottie hüstelte in ihrer kehligen, zögernden Art. »Es ist furchtbar einfach«, entschuldigte sie sich, »aber anscheinend weiß ich nicht, wie ich es sagen soll.« Die Ärztin wartete. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Dorothy. Jede Technik«, begann sie gewichtig, »die beiden Partnern Vergnügen verschafft, ist durchaus statthaft und natürlich. Es gibt keine Praktik, weder oral noch manuell, die beim Liebesspiel nicht zulässig wäre, sofern sie beiden Partnern Vergnügen bereitet.« Dottie bekam eine Gänsehaut, sie wusste ziemlich genau, was die Ärztin meinte, und konnte nicht umhin, sich mit Entsetzen zu fragen, ob sie in ihrer Ehe auch praktizierte, was sie predigte. Ihr schauderte. »Danke, Frau Doktor«, sagte sie ruhig und brach das Thema ab.

 

Nachdem sie sich angezogen und frisch gepudert hatte, nahm sie im Vorzimmer mit behandschuhter Hand von der Schwester den festen Umschlag entgegen und zahlte mit neuen Scheinen aus ihrer Brieftasche. Sie wartete nicht auf Kay. Dem Haus gegenüber befand sich ein Drugstore, der Wärmflaschen in der Auslage hatte. Sie trat ein und erstand mit einiger Selbstüberwindung einen Irrigator. Dann setzte sie sich in die Telefonzelle und verlangte Dicks Nummer. Nach längerer Zeit meldete sich eine Stimme. Dick war ausgegangen. Mit dieser Möglichkeit hatte sie nie gerechnet. Sie hatte ohne Weiteres angenommen, er würde dasitzen und auf sie warten, bis sie ihre Mission ausgeführt hätte. »Ruf mich nur an.« Jetzt ging sie langsam durch die 8th Street zum Washington Square, wo sie sich auf einer Parkbank niederließ und die beiden Päckchen neben sich legte. Nachdem sie fast eine Stunde dort gesessen, den Kindern beim Spielen zugesehen und der Streiterei einiger junger Juden zugehört hatte, ging sie zurück in den Drugstore und rief nochmals bei Dick an. Er war noch immer aus. Sie kehrte zu ihrer Parkbank zurück, aber ihr Platz war inzwischen besetzt. Sie ging ein Stückchen weiter, bis sie einen anderen Platz fand. Diesmal hielt sie, wegen der Banknachbarn, ihre Päckchen auf dem Schoß. Die Schachtel mit dem Irrigator war unhandlich und rutschte ihr jedes Mal herunter, wenn sie die Beine übereinanderschlug und sie musste sich jedes Mal bücken und sie aufheben. Ihre Unterwäsche klebte von den Gleitsalben, die die Ärztin benützt hatte, und das eklige feuchte Gefühl ließ sie befürchten, dass sie ihre Regel bekommen hatte.

Nach und nach verließen die Kinder den Park. Sie hörte die Kirchenglocken zur Abendandacht läuten und sie wäre gern, wie häufig um diese Tageszeit, zum Beten hineingegangen (und um ungesehen die Rückseite ihres Kleides zu untersuchen). Das aber konnte sie nicht wegen der Pakete, die nicht in eine Kirche gehörten. Aber auch in den Vassar-Club konnte sie das Zeug nicht mitnehmen. Sie teilte das Zimmer mit Helena Davison, die vielleicht wissen wollte, was sie da gekauft hatte. Es wurde schon spät, sechs Uhr war längst vorüber, aber im Park war es noch hell, und sie glaubte, dass jeder sie jetzt beobachtete.

Das nächste Mal versuchte sie, Dick vom Telefon in der Halle des Brevoort Hotels zu erreichen, wo sie die Damentoilette aufsuchte. Sie hinterließ eine Nachricht: »Miss Renfrew wartet auf einer Bank am Washington Square.« Sie hatte Angst, in der Hotelhalle zu warten, wo sie Bekannte treffen könnte. Auf dem Wege zum Square bereute sie, die Nachricht hinterlassen zu haben, weil sie nun nicht mehr wagte, die Zimmerwirtin durch einen nochmaligen Anruf zu stören. Jetzt erschien es ihr seltsam, dass Dick sie in den zweieinhalb Tagen seit ihrer Trennung nicht ein einziges Mal im Vassar-Club angerufen hatte, um wenigstens guten Tag zu sagen. Sie dachte daran, dort nachzufragen, ob irgendjemand angerufen habe, fürchtete jedoch, Helena könne ans Telefon kommen. Und außerdem durfte sie ja den Square nicht verlassen, für den Fall, dass Dick kam.

Im Park wurde es dunkel und die Bänke füllten sich mit Liebespaaren. Nach neun Uhr beschloss sie endlich fortzugehen, denn einige Männer hatten sie bereits belästigt und ein Polizist hatte sie interessiert angestarrt. Sie erinnerte sich an Kays Bemerkungen im Autobus über das Corpus delicti einer Liebesbeziehung. Wie wahr! Es bedeutete gar nichts, sagte sie sich, dass Dick nicht zu Hause war. Dafür konnte es tausend Gründe geben. Vielleicht hatte er plötzlich verreisen müssen. Und doch wusste sie, dass es etwas bedeutete. Es war ein Zeichen. Im Dunkeln begann sie still vor sich hin zu weinen und sie beschloss, bis hundert zu zählen, ehe sie fortging. Sie hatte schon fünfmal bis hundert gezählt, bis sie einsah, dass es zwecklos war. Selbst wenn er ihre Nachricht erhalten hatte, würde er heute Abend nicht mehr kommen. Es blieb ihr anscheinend nur noch eines übrig: In der Hoffnung, dass niemand sie beobachtete, schob sie ihre Ausrüstung an Verhütungsmitteln verstohlen unter die Bank, auf der sie saß, und verließ, so rasch das ohne aufzufallen möglich war, den Park in Richtung Fifth Avenue. An der Ecke bestieg sie ein vorbeifahrendes Taxi und fuhr, leise schluchzend, zum Vassar-Club. In aller Morgenfrühe, noch ehe die Stadt sich regte, nahm sie den Zug nach Boston.