Die Clique

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Dottie schüttelte den Kopf und errötete. Nichts in der Welt hätte sie dazu bewegen können, denn die Wörter machten sie schrecklich verlegen. Sie war schon an den Worten »Spülung« und »Empfängnisverhütung« fast erstickt. »Wir müssen dich säubern«, bestimmte er nach sekundenlangem Schweigen. Er schlüpfte in Schlafrock und Hausschuhe und verschwand im Badezimmer. Es schien ihr geraume Zeit zu dauern, bis er mit einem feuchten Handtuch zurückkam und ihr den Bauch wusch. Dann trocknete er sie ab, indem er sie mit dem trockenen Ende des Tuches kräftig rubbelte, und setzte sich neben sie aufs Bett. Er selbst wirkte viel frischer, als habe er sich gewaschen, und roch nach Mundwasser und Zahnpulver. Er steckte zwei Zigaretten an, gab ihr eine und stellte den Aschenbecher zwischen sie.

»Du bist gekommen, Boston«, bemerkte er im Ton eines zufriedenen Lehrers. Dottie sah ihn unsicher an. Meinte er etwa das, woran sie nur ungern dachte? »Wie bitte?«, murmelte sie. – »Das heißt, dass du einen Orgasmus gehabt hast.« Aus Dotties Kehle erklang ein noch immer fragender Laut. Sie war ziemlich sicher, dass sie begriff, was er meinte, aber die neue Vokabel verwirrte sie. »Eine Klimax«, ergänzte er in schärferem Ton. »Bringt man euch das Wort in Vassar bei?« – »Ach«, sagte Dottie, fast enttäuscht, dass es nichts anderes war, »war das …?« Sie brachte die Frage nicht zu Ende. »Das war’s.« Er nickte. »Soweit ich es beurteilen kann.« – »Das ist also normal?«, wollte sie wissen und fühlte sich bereits viel wohler. Dick zuckte die Achseln. »Nicht für Mädchen mit deiner Erziehung. Jedenfalls nicht beim ersten Mal. Obgleich man dir’s nicht ansieht, bist du wohl sehr sinnlich.«

Dottie errötete noch mehr. Laut Kay war eine Klimax etwas sehr Ungewöhnliches, etwas, was der Ehemann nur durch sorgfältiges Eingehen auf die Wünsche der Frau und durch geduldige manuelle Stimulation zuwege brachte. Schon die bloße Terminologie ließ Dottie schaudern. Bei Krafft-Ebing gab es eine scheußliche Stelle, ganz auf lateinisch, über die Kaiserin Maria Theresia und den Rat des Hofarztes an den Prinzgemahl, die Dottie überflogen hatte und so schnell wie möglich zu vergessen suchte. Aber selbst Mama hatte angedeutet, dass Befriedigung etwas sei, was sich erst nach langer Zeit und Erfahrung einstelle, und dass die Liebe dabei eine entscheidende Rolle spiele. Aber wenn Mama über Befriedigung sprach, war nicht genau zu ersehen, was sie damit meinte, und auch Kay drückte sich nicht klar aus, wenn sie nicht gerade aus Büchern zitierte. Polly Andrews hatte sie einmal gefragt, ob es dasselbe leidenschaftliche Gefühl sei, wie wenn man sich küsste (damals war Polly verlobt), und Kay hatte gesagt: Ja, es sei ziemlich dasselbe. Aber jetzt glaubte Dottie, dass Kay sich geirrt hatte oder Polly aus irgendeinem Grunde nicht die Wahrheit sagen wollte. Dottie hatte sehr häufig ähnliche Gefühle gehabt, wenn sie mit jemand schrecklich Attraktivem tanzte, aber das war etwas ganz anderes als das, was Dick meinte. Fast schien es, als rede Kay wie der Blinde von der Farbe. Oder als meinten Kay und Mama etwas völlig anderes, und diese Sache mit Dick war anormal. Und doch wirkte er so zufrieden, wie er dasaß und Rauchringe blies. Wahrscheinlich wusste er, weil er so lange im Ausland gelebt hatte, mehr als Mama und Kay.

»Was grübelst du so, Boston?« Dottie fuhr zusammen. »Wenn eine Frau sehr sinnlich ist«, bemerkte er sanft, »so ist das großartig. Du musst dich deshalb nicht schämen.« Er nahm ihr die Zigarette ab, drückte sie aus und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Komm«, sagte er, »was du jetzt empfindest, ist ganz natürlich. ›Post coitum omne animal triste‹, wie der römische Dichter sagt.« Er ließ seine Hand über die Rundung ihrer Schulter hinabgleiten und berührte leicht ihre Brustwarze. »Dein Körper hat dich heute Abend in Erstaunen versetzt. Du musst ihn kennenlernen.« Dottie nickte. »Weich«, murmelte er und drückte die Warze zwischen Daumen und Zeigefinger. »Detumeszenz, das ist es, was du im Augenblick durchmachst.« Dottie hielt fasziniert den Atem an, alle Zweifel verflogen. Als er fortfuhr, die Warze zu drücken, richtete diese sich auf. »Erektiles Gewebe«, belehrte er sie und berührte die andere Brust. »Schau«, sagte er, und beide blickten darauf. Die Brustwarzen waren hart und voll, von einer kreisförmigen Gänsehaut umgeben. Auf ihrer Brust wuchsen ein paar schwarze Haare. Dottie wartete gespannt, eine große Erleichterung erfasste sie. Das waren dieselben Ausdrücke, die Kay aus einem Eheberater zitiert hatte. Da unten begann es abermals zu pochen. Ihre Lippen öffneten sich. Dick lächelte. »Fühlst du etwas?« Dottie nickte. »Möchtest du es noch einmal?«, fragte er und betastete sie prüfend. Dottie machte sich steif und presste die Schenkel zusammen. Sie schämte sich der heftigen Empfindung, der seine tastenden Finger auf die Spur gekommen waren. Aber er behielt die Hand dort zwischen ihren geschlossenen Schenkeln und ergriff ihre Rechte mit seiner anderen, führte sie in den auseinanderfallenden Schlafrock und drückte sie auf jenen Körperteil, der jetzt weich und schlaff und eigentlich ganz niedlich zusammengerollt dalag, wie eine dicke Schnecke. Er saß noch immer neben ihr und sah ihr ins Gesicht, während er sie dort unten streichelte und ihre Hand fester gegen sich drückte. »Da ist eine kleine Erhöhung«, flüsterte er. »Streichle sie.« Dottie gehorchte staunend. Sie fühlte, wie sein Glied steifer wurde, und das gab ihr ein seltsames Machtgefühl. Sie wehrte sich gegen die Erregung, die sein kitzelnder Daumen über der Scheide hervorrief, und als sie merkte, wie er sie beobachtete, schloss sie die Augen, und ihre Schenkel öffneten sich. Er löste ihre Hand und sie fiel keuchend hintenüber aufs Bett. Sein Daumen setzte sein Spiel fort und sie gab sich dem willenlos hin, völlig auf einen bestimmten Höhepunkt der Erregung konzentriert, die sich jäh in einer nervösen, flatternden Zuckung entlud. Ihr Körper spannte sich, bäumte sich und lag dann still. Als seine Hand sie abermals berühren wollte, schlug sie sie sacht beiseite. »Nicht«, stöhnte sie und rollte sich auf den Bauch. Die zweite Klimax, die sie jetzt durch den Vergleich mit der ersten erkennen konnte, machte sie nervös und verwirrt. Sie war weniger beglückend, eher, als würde man unbarmherzig gekitzelt oder müsste dringend aufs Klo. »Hat dir das nicht gefallen?«, fragte er und drehte ihren Kopf auf dem Kissen, sodass sie sich vor ihm nicht verstecken konnte. Der Gedanke, dass er sie beobachtete, während er das mit ihr tat, war ihr grässlich. Langsam schlug Dottie die Augen auf, entschlossen, die Wahrheit zu sagen. »Das andere gefiel mir besser, Dick.« Dick lachte. »Ein nettes, normales Mädchen. Manche Mädchen mögen dies lieber.« Dottie schauderte, sie konnte zwar nicht leugnen, dass es sie erregt hatte, aber es kam ihr fast pervers vor. Es war, als errate er ihre Gedanken. »Hast du es je mit einem Mädchen gemacht, Boston?« Er packte sie am Kinn, um sie eindringlich mustern zu können. Dottie errötete. »Gott bewahre!« – »Du kommst aber wie die Feuerwehr. Wie erklärst du dir das?« Dottie schwieg. »Hast du es je mit dir selbst gemacht?« Dottie schüttelte heftig den Kopf, allein die Vorstellung verletzte sie. »In deinen Träumen?« Dottie nickte widerwillig. »Ein bisschen. Nicht bis zum Ende.« – »Üppige erotische Fantasien einer Chestnut-Street-Jungfrau«, bemerkte Dick und räkelte sich. Er stand auf, ging zur Kommode, holte zwei Pyjamas und warf einen davon Dottie zu. »Zieh dich an und geh ins Badezimmer. Für heute Nacht ist der Unterricht zu Ende.«

Nachdem sie das Badezimmer von innen verriegelt hatte, zog Dottie in Gedanken Bilanz. »Wer hätte das gedacht?«, zitierte sie Pokey Prothero, als sie in den Spiegel starrte. Ihr Gesicht mit den kräftigen Farben, den starken Augenbrauen, der langen geraden Nase und den dunkelbraunen Augen sah immer noch so aus wie das eines Mädchens aus Boston. Eine aus der Clique hatte einmal gesagt, Dottie sehe aus, als sei sie mit dem Doktorhut auf die Welt gekommen. An ihrer äußeren Erscheinung war etwas Magistrales, wie sie jetzt selbst bemerkte. In dem weißen Pyjama, aus dessen Kragen das kantige neuenglische Kinn ragte, erinnerte sie an einen alten Richter oder an eine Amsel auf einem Zaun. Papa sagte manchmal scherzend, sie hätte Anwalt werden sollen. Und doch gab es da noch das Lachgrübchen, das in der Wange lauerte, und ihre Tanzlust und Sangesfreude – womöglich war sie eine gespaltene Persönlichkeit, ein regelrechter Doktor-Jekyll- und-Mister-Hyde! Nachdenklich spülte sich Dottie mit Dicks Mundwasser den Mund und warf zum Gurgeln den Kopf in den Nacken. Sie wischte den Lippenstift mit einem Stück Toilettenpapier ab und musterte in Gedanken an ihre empfindliche Haut ängstlich die Seife in Dicks Seifenschüssel. Sie musste schrecklich aufpassen, aber erleichtert stellte sie fest, dass das Badezimmer peinlich sauber und mit Gebrauchsanweisungen der Zimmerwirtin tapeziert war: »Bitte verlassen Sie diesen Raum, wie Sie ihn vorzufinden wünschen. Danke für Ihr Verständnis.« oder »Bitte benutzen Sie beim Duschen den Badeteppich. Danke.« Die Zimmerwirtin, dachte Dottie, war wohl sehr großzügig, wenn sie nichts gegen Damenbesuch hatte. Immerhin hatte Kay hier oft ein ganzes Wochenende mit Harald verbracht.

Sie dachte nur ungern an die weiblichen Gäste, die neben der bereits erwähnten Betty Dick besucht hatten. Wie, wenn er neulich Abend, nachdem die beiden sie abgesetzt hatten, Lakey hergebracht hätte? Schwer atmend stützte sie sich auf das Waschbecken und kratzte nervös ihr Kinn. Lakey, überlegte sie, hätte nicht zugelassen, was er mit ihr getan hatte. Bei Lakey hätte er das nicht gewagt. Dieser Gedanke war jedoch zu beunruhigend, um weiter ausgesponnen zu werden. Woher wusste er eigentlich, dass sie es zulassen würde? Etwas war merkwürdig – sie hatte die ganze Zeit den Gedanken daran verdrängt –, er hatte sie überhaupt nicht geküsst, nicht ein einziges Mal. Dafür gab es natürlich Erklärungen: Vielleicht sollte sie seine Alkoholfahne nicht bemerken oder vielleicht roch sie selbst aus dem Mund …? Nein, sagte sich Dottie, so darfst du nicht weiterdenken. Eines jedoch war sonnenklar: Dick war einmal sehr verletzt worden, von Frauen oder von einer bestimmten Frau. Das verschaffte ihm eine Sonderstellung; jedenfalls gestand sie ihm diese zu. Wenn er nun einmal keine Lust hatte, sie zu küssen, so war das seine Sache. Sie kämmte sich mit dem Taschenkamm das Haar und summte dazu mit ihrer warmen Altstimme: »Er ist der Mann, der eine Frau wie mi-ich braucht.« Dann tat sie einen munteren Tanzschritt und stolperte, von dem langen Pyjama etwas behindert, zur Tür. Sie schnippte mit den Fingern, als sie das Deckenlicht an der langen Schnur ausmachte.

 

Als Dottie sich dann auf dem schmalen Lager neben dem fast schlafenden Dick ausstreckte, schweiften ihre Gedanken wie Zugvögel zärtlich zu Mama. Zwar wünschte sie sich einen erquickenden Schlaf nach diesem sehr anstrengenden Tag, aber es drängte sie auch, die Erfahrung der Nacht dem Menschen mitzuteilen, der ihr das Liebste auf der Welt war, der nie verurteilte, nie kritisierte, und der sich immer so sehr für das Tun und Lassen der jungen Leute interessierte. Brennend gern hätte sie ihrer Mutter den Schauplatz ihrer Einweihung beschrieben: das kahle Zimmer weit draußen in Greenwich Village, den Mondstrahl auf der braunen Wolldecke, den Zeichentisch, den Ohrensessel mit seinem adretten Bezug aus Markisenstoff – und dann natürlich Dick selbst, ein so origineller Mensch, mit seinem nervösen, fein gemeißelten Gesicht und seinem unglaublichen Wortschatz. Die letzten drei Tage waren angefüllt mit so vielen Einzelheiten, die Mama interessieren würden: die Hochzeit und wie sie hinterher mit ihm und Lakey das Whitney Museum besuchten und dann zu dritt in einem ulkigen italienischen Restaurant hinter einem Billardtisch aßen und Wein aus weißen Bechern tranken. Wie er und Lakey über Kunst diskutierten und wie sie dann am nächsten Tag, wieder zu dritt, in das Modern Museum gingen und in eine Ausstellung moderner Plastik, und wie Dottie nie im Leben darauf gekommen wäre, dass er überhaupt Augen für sie hatte, denn sie sah ja, wie fasziniert er von Lakey war (wer nicht?), und wie sie es noch immer fest glaubte, als er sich tags darauf zu Lakeys Abreise am Schiff einfand, unter dem Vorwand, ihr einige Adressen von Malern in Paris geben zu wollen. Und sogar, als er sie noch am Pier, nachdem das Schiff abgefahren war und eine gewisse Trübseligkeit sich eingestellt hatte, in dasselbe Lokal wie gestern zum Abendessen einlud (wie schwierig, es vom New Weston mit einem Taxi zu finden!), glaubte sie, sie verdanke das lediglich ihrer Freundschaft zu Lakey. Sie hatte eine Heidenangst davor gehabt, mit ihm allein zu essen, weil sie fürchtete, ihn zu langweilen. Und er war auch ziemlich schweigsam und abwesend gewesen, bis er ihr unvermittelt in die Augen gesehen und sie gefragt hatte: »Willst du mit mir nach Hause kommen?« Könnte sie jemals seinen beiläufigen Ton vergessen?

Aber wirklich staunen würde Mama darüber, dass keiner von beiden in den anderen verliebt war. Sie konnte sich förmlich hören, wie sie ihrer hübschen, strahlenden Mutter mit leiser Stimme zu erklären versuchte, dass sie und Dick auf einer völlig anderen Grundlage zusammenlebten. Der arme Dick, verkündete sie sachlich, liebe noch immer seine geschiedene Frau, und außerdem (an dieser Stelle holte Dottie tief Luft und wappnete sich) sei er von Lakey mächtig angetan – ihrer derzeit besten Freundin. In Dotties Vorstellung riss ihre Mutter die blauen Augen auf. Ihre Goldlocken zitterten, während sie verständnislos den Kopf schüttelte, und Dottie wiederholte mit allem Nachdruck: »Jawohl, Mama, ich kann es beschwören. Mächtig angetan von Lakey. Damit habe ich mich an jenem Abend abgefunden.« Diese Szene, die sie im Geiste probte, spielte sich im kleinem Boudoir ihrer Mutter in der Chestnut Street ab, obwohl sie in Wirklichkeit bereits in ihr Landhaus nach Gloucester gefahren war, wo Dottie morgen oder übermorgen erwartet wurde. Die zierliche Mrs. Renfrew hatte ihr mattblaues Kostüm aus irischem Leinen an, die nackten Arme waren vom Golfspielen gebräunt. Dottie trug ihr weißes Sportkleid und dazu braunweiße Schuhe. Sie beendete ihren Vortrag, starrte auf ihre Zehen, spielte mit den Falten ihres Rocks und wartete gelassen darauf, was ihre Mutter nun zu sagen hätte. »Ja, Dottie, ich verstehe. Ich glaube, ich verstehe.« Beide sprachen weiter, mit leiser, gleichmäßiger, wohltönender Stimme, ihre Mutter etwas mehr staccato und Dottie etwas rauer. Die Stimmung war ernst und nachdenklich. »Du bist sicher, Kind, dass eine Perforation des Hymen stattgefunden hat?« Dottie nickte nachdrücklich. Mrs. Renfrew, Tochter eines Missionsarztes, war in ihrer Jugend sehr kränklich gewesen, darum sorgte sie sich um die physische Seite einer Sache stets besonders.

Dottie wälzte sich unruhig im Bett. »Du fändest Mutter himmlisch«, sagte sie im Geiste zu Dick. »Sie ist eine schrecklich vitale Person und weitaus attraktiver als ich. Sehr klein, mit einer fantastischen Figur, blauen Augen und hellem Haar, das gerade erst grau wird. Ihre Krankheit wurde sie durch schiere Willenskraft los, als sie nämlich in der letzten Klasse im College Papa kennenlernte, gerade nachdem die Ärzte verlangt hatten, dass sie die Schule verließ. Weil sie der Meinung war, dass Kranke nicht heiraten dürften, wurde sie gesund. Sie hält sehr viel von der Liebe. Das tun wir alle.« Hier errötete Dottie und strich im Geiste die letzten Worte aus. Dick durfte nicht denken, dass sie ihr Verhältnis zerstöre, indem sie sich in ihn verliebte. Eine einzige derartige Bemerkung würde alles verderben. Um ihm zu zeigen, dass er hier nichts zu befürchten hatte, wäre es wohl das Beste, wenn sie ihren Standpunkt ein für allemal klarstellte. »Auch ich bin sehr religiös, Dick«, probierte sie und lächelte, wie um sich zu entschuldigen. »Jedoch halte ich mich für pantheistischer als die meisten Kirchgänger. Ich gehe zwar gern in Gotteshäuser, glaube aber, dass Gott überall ist. Meine Generation ist ein bisschen anders als die meiner Mutter. Wir alle empfinden, dass Liebe und Sex zweierlei sein kann. Das muss nicht so sein, es ist aber möglich. Man darf vom Sex nicht verlangen, dass er die Rolle der Liebe, und von der Liebe nicht, dass sie die Rolle des Sex übernimmt – das ist eigentlich ganz originell, nicht?«, fügte sie mit einem kleinen, nervösen Lächeln hinzu, als sie nicht mehr weiterwusste. »Eine der älteren Lehrerinnen sagte einmal zu Lakey, man müsse ohne Liebe leben, man müsse lernen, ohne sie auszukommen, um mit ihr leben zu können. Lakey war ungeheuer beeindruckt. Findest du das auch?« Dotties wortlose Stimme war nach und nach immer verzagter geworden, als sie dem schlafenden Mann an ihrer Seite ihre Weltanschauung vortrug.

In Gedanken hatte sie es gewagt, Lakeys Namen in Verbindung mit Liebe zu nennen, weil sie Dick beweisen wollte, dass sie auf die dunkle Schöne, wie er Lakey stets nannte, nicht eifersüchtig sei. Den Spitznamen Lakey mochte er nicht. Allerdings war Dottie aufgefallen, dass er sich immer nervös den Schlips zurechtzog, wenn Lakey sich ihm zuwandte, wie jemand, der sich unerwartet in einem Spiegel in der U-Bahn sieht, und dass er mit ihr immer ernst war, weder spöttisch noch giftig, auch wenn sie seine Meinung über Kunstfragen nicht teilte. Und doch, als sie dem Schiff nachwinkten und Dottie im Bemühen, sein Vertrauen zu gewinnen und Lakey mit ihm zu teilen, wiederholt flüsterte: »Ist sie nicht fabelhaft?«, zuckte er nur, wie irritiert, die Achseln.

»Sie hat Verstand«, erwiderte er schließlich kühl.

Jetzt aber, da Lakey auf hoher See schwamm, sie jedoch gemütlich mit Dick im Bett lag, versuchte Dottie es mit einer neuen Theorie. Wie, wenn Lakey ihn nur platonisch anzöge, sie selbst ihn aber körperlich mehr reizte? Lakey war schrecklich klug und wusste eine Menge, aber man hielt sie gemeinhin für kalt. Womöglich bewunderte Dick ihre Schönheit nur als Künstler, während er sie, Dottie, aus anderen Gründen vorzog. Der Gedanke war nicht sehr überzeugend, trotz allem, was Dick ihr gesagt hatte – dass ihr Körper sie in Erstaunen versetzt habe und so weiter. Kay behauptete, dass kultivierteren Männern am Vergnügen der Frau mehr gelegen sei als am eigenen. Aber Dick (Dottie hüstelte) schien nicht gerade von Leidenschaft überwältigt, nicht einmal, als er sie so schrecklich erregte. Traurigkeit beschlich sie, als sie an Kay dachte. Kay würde ihr ohne Umschweife erklären, dass ihr Lakeys Strahlkraft fehle und dass Dick sie offensichtlich als Ersatz für Lakey benütze, weil er einem so schönen, reichen und faszinierenden Geschöpf in diesem kahlen Zimmer niemals das Wasser reichen könne. »Dick würde kein Mädchen wollen, das Gefühle in ihm weckt«, hörte sie Kay mit lautem, diktatorischem Middlewest-Akzent dozieren, »wie Lakey das bestimmt tun würde, Renfrew. Du bist nichts als ein Ventil für ihn, ein Sicherheitsventil für eine Nacht.« Die Worte zermalmten Dottie wie eine Dampfwalze, denn es könnte so sein. Kay würde vermutlich auch behaupten, dass Dottie von ihrer Jungfernschaft erlöst werden wollte und Dick lediglich dazu benutzt habe. Entsetzlicher Gedanke. Ob Dick das etwa von ihr dachte? Kay meinte es gut, wenn sie die Dinge so nüchtern benannte, und das Furchtbare war, dass sie meistens recht hatte. Oder wenigstens klang es immer so, weil sie so völlig desinteressiert war und nicht ahnte, wie sehr sie andere verletzte. Sobald Dottie auch nur in Gedanken auf Kay hörte, verlor sie ihr ganzes Selbstbewusstsein und wurde zu dem, was sie Kays Meinung nach war: ein Mamakind und eine alte Jungfer aus Boston. Allen schwächeren Mitgliedern der Clique erging es ebenso. Kay bemächtigte sich, wie Lakey einmal sagte, ihrer Herzensangelegenheiten und gab sie zurück, eingelaufen und etikettiert, wie aus der Wäscherei. So war es im Fall von Polly Andrews’ Verlobung gewesen. In der Familie des Jungen, den sie heiraten wollte, gab es eine Geisteskrankheit, und Kay zeigte Polly so viele einschlägige Statistiken, dass Polly mit ihm brach, einen Nervenzusammenbruch erlitt und ins Krankenhaus musste. Und natürlich hatte Kay recht. Mr. Andrews war schon Belastung genug, man brauchte sich nicht auch noch mit einer depressiv veranlagten Familie zu verbinden. Kay riet Polly, mit dem Jungen zu leben, da sie ihn liebte, und später, wenn sie einmal Kinder haben wollte, einen anderen zu heiraten. Aber Polly brachte nicht den Mut dazu auf, so gern sie es auch getan hätte. Außer Lakey war die ganze Clique Kays Meinung, wenigstens was das Nichtheiraten anging, aber nicht eine hatte den Mut gehabt, es Polly ins Gesicht zu sagen. Kay sagte ihre Meinung rundheraus, wo die anderen nur tuschelten.

Dottie seufzte. Wenn Kay doch bloß nichts über Dick und sie erfahren würde! Aber das war wohl unvermeidlich, da Dick ja mit Harald befreundet war. Nicht weil Dick davon sprechen würde, dafür war er viel zu sehr Gentleman und auch zu rücksichtsvoll. Viel eher würde Dottie sich selbst verraten, denn Kay verstand sich ausgezeichnet darauf, einen zum Reden zu bringen. Zu guter Letzt vertraute man sich Kay an, denn ihre Ansicht zu hören schien immer noch besser zu sein, als sie nicht zu hören. Man hatte Angst, die Wahrheit zu fürchten. Außerdem konnte Dottie es unmöglich Mama erzählen – jedenfalls auf absehbare Zeit, denn ihre Mutter, die ja aus einer anderen Generation stammte, würde es niemals so sehen können wie Dottie, wenn sie sich auch noch so bemühte, und das würde sie besorgt und unglücklich machen. Sie würde Dick kennenlernen wollen, Papa würde sich anschließen und sich dann Gedanken über eine etwaige Ehe machen, die ja völlig ausgeschlossen war. Dottie seufzte abermals. Jemandem musste sie es erzählen, das wusste sie – natürlich nicht die intimsten Details, aber einfach die erstaunliche Tatsache, dass sie ihre Jungfernschaft verloren hatte –, und das konnte nur Kay sein.

Dann würde Kay über sie mit Dick sprechen. Davor hatte Dottie die allermeiste Angst. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Kay sie zerpflücken und analysieren, sich über ihre Krankengeschichte, die Clubs ihrer Mutter, die Geschäftsbeziehungen ihres Vaters und ihre gesellschaftliche Stellung in Boston auslassen würde, die Kay außerordentlich überschätzte: Sie gehörten durchaus nicht zu den oberen Zehntausend, den »Brahmanen« – ein grässliches Wort. Dotties Augen funkelten belustigt. Kay hatte keine Ahnung von Clubs und Gesellschaft, obgleich sie so sachverständig tat. Man müsste ihr wirklich einmal sagen, dass heutzutage nur noch Langweiler oder Außenseiter solche Dinge wichtig nahmen. Arme, ehrliche Kay! Fünf Versuche, so erinnerte sich Dottie, schon halb eingeschlafen, ehe es bei ihr soweit war, und so viel Blut und Schmerzen. Sagte Lakey nicht immer, sie hätte eine Haut wie ein Nilpferd? Sex war doch nur eine Frage der Anpassung an den Mann, wie beim Tanzen – Kay tanzte miserabel und wollte immer führen. Ihre Mutter hatte ganz recht, sagte sie sich genüsslich, während sie allmählich in Schlaf versank: Es ist ein großer Fehler, Mädchen zusammen tanzen zu lassen, wie das in so vielen zweitklassigen Internaten üblich war.