Die Clique

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Das schlimmste Schicksal aber wäre, befanden sie einmütig, so konventionell und ängstlich zu werden wie ihre Eltern. Nicht eine würde, wenn es sich vermeiden ließ, einen Börsenmakler, einen Bankier oder einen eiskalten Firmensyndikus heiraten, wie das so viele aus der Generation ihrer Mütter getan hatten. Lieber würden sie entsetzlich arm sein und sich von billigem Seelachs ernähren, als so einen öden, versoffenen Jüngling mit rotgeäderten Augen aus dem eigenen Milieu heiraten, der an der Börse arbeitete und sich nur für Squash und Trinkgelage im Racquet Club mit alten Studienfreunden aus Yale oder Princeton interessierte. Da täte man besser daran – jawohl, erklärten sie ohne Scheu, obgleich Mama leise lächelte –, einen Juden zu heiraten, wenn man ihn liebte. Manche Juden waren äußerst interessant und kultiviert, wenn sie auch schrecklich ehrgeizig waren und wie Pech und Schwefel zusammenhielten, wie man gerade in Vassar nur zu gut beobachten konnte: Wenn man sie kannte, so musste man auch ihre Freunde kennenlernen.

In einer Hinsicht allerdings machte sich die Clique ehrliche Sorgen um Kay. Es war irgendwie schade, dass ein so begabter Mensch wie Harald, der obendrein eine gute Erziehung besaß, sich ausgerechnet dem Theater zuwenden musste statt der Medizin, der Architektur oder der Museumsarbeit, wo das Fortkommen leichter war. Wenn man Kay reden hörte, war das Theater eine ziemliche Mördergrube, obgleich natürlich auch einige Leute aus guter Familie dazugehörten, wie Katherine Cornell, Walter Hampden (eine Nichte von ihm war im Abschlussjahrgang 1932) und John Mason Brown, der alljährlich in Mutters Club einen Vortrag hielt. Harald hatte kurze Zeit an der Yale Drama School unter Professor Baker studiert, doch dann kam die Wirtschaftskrise, und er hatte nach New York gehen müssen, um als Inspizient zu arbeiten, statt Stücke zu schreiben. Das war natürlich genauso, als diene man sich in einer Fabrik von der Pike hoch, wie das so viele Jungens aus guter Familie taten, und wahrscheinlich bestand kein Unterschied zwischen einer Theatergarderobe, wo lauter Männer im Unterhemd vor dem Spiegel saßen und sich schminkten, und einem Hochofen oder Kohlenbergwerk, wo die Männer ebenfalls im Unterhemd arbeiteten. Helena Davison hatte erzählt, dass Harald während des Gastspiels seiner Truppe in Cleveland seine Zeit damit verbracht habe, mit den Bühnenarbeitern und Beleuchtern Poker zu spielen, weil sie die Nettesten der ganzen Truppe seien; und Helenas Vater selbst hatte ihm nach dem Besuch des Stücks recht gegeben.

Mr. Davison war ein Original und demokratischer als die meisten Väter, weil er aus dem Westen stammte und sich mehr oder weniger aus eigener Kraft emporgearbeitet hatte. Immerhin, heutzutage, bei dieser Wirtschaftskrise, konnte sich keiner leisten, auf andere herabzusehen. Connie Storeys Verlobter, der Journalist werden wollte, arbeitete jetzt als Laufbursche bei Fortune, und Connies Eltern nahmen es, statt laut zu protestieren, sehr gelassen hin und schickten ihre Tochter nun in einen Kochkurs. Viele akademisch gebildete Architekten waren in Fabriken gegangen, um sich mit den Problemen der Formgestaltung vertraut zu machen, statt Häuser für reiche Leute zu bauen. Man denke an Russel Wright, den heute alle Welt bewunderte; er verwendete Industriestoffe wie das fabelhafte Aluminium für Gebrauchsgegenstände, z. B. Käseplatten und Wasserkaraffen. Kays erstes Hochzeitsgeschenk, das sie sich selbst ausgesucht hatte, war ein Russel-Wright-Cocktailshaker aus Eichensperrholz und Aluminium in Form eines Wolkenkratzers – er war federleicht und lief natürlich nicht an – mit einem dazu passenden Tablett und zwölf runden Becherchen. Hauptsache war schließlich, dass Harald ein geborener Gentleman war – obgleich er in seinen Briefen gern angab, aber wohl nur, um Kay zu imponieren, die selbst gern mit Namen um sich warf, mit den Butlern ihrer Freundinnen angab und den armen Harald als Yale-Studenten vorstellte, obgleich er doch nur die Yale Drama School in New Haven besucht hatte … Das war ein Zug an Kay, den die Clique nach Möglichkeit übersah, der Lakey jedoch rasend machte: ein Mangel an Differenzierungsvermögen und Rücksicht auf andere. Für die feineren gesellschaftlichen Unterschiede fehlte Kay einfach das Organ. Andauernd rannte sie in fremde Zimmer, wühlte dort zwischen den Sachen auf dem Schreibtisch herum und hielt den Bewohnern, wenn diese dagegen protestierten, vor, sie litten unter Hemmungen. Sie hatte auch auf dem Wahrheitsspiel bestanden, bei dem jede eine Liste anfertigen musste, auf der sie die anderen in der Reihenfolge ihrer Sympathie aufführte. Die Listen wurden dann untereinander verglichen. Sie hatte jedoch nicht bedacht, dass auf jeder Liste eine die Letzte sein musste, und wenn es dann Tränen gab, war Kay ehrlich erstaunt. Sie fände nichts dabei, die Wahrheit über sich zu erfahren. Allerdings hörte sie diese nie, weil die anderen viel zu taktvoll waren, Kay als Letzte auf ihre Liste zu setzen, so gern sie es manchmal getan hätten. Denn Kay war mehr oder weniger eine Außenseiterin, und das wollte niemand sie fühlen lassen. Man setzte lieber Libby MacAusland oder Polly Andrews an die letzte Stelle, jedenfalls ein Mädchen, das man zeitlebens kannte oder mit dem man zur Schule gegangen war. Freilich versetzte es Kay einen ziemlichen Schock, als sie sich nicht an erster Stelle auf Lakeys Liste fand. Sie war in Lakey vernarrt und nannte sie immer ihre beste Freundin. Doch sie ahnte nicht, dass die Clique wegen der Osterferien mit Lakey einen Kampf ausgefochten hatte. Man hatte Strohhalme gezogen, um auszulosen, wer Kay für die Ferien einladen sollte, und als das Los auf Lakey fiel, wollte sie kneifen. Sie waren über sie hergefallen und hatten ihr mangelnden Sportsgeist vorgeworfen, was ja auch stimmte. Schließlich und endlich hatte sie ja Kay zu der ursprünglichen Sechser-Clique gebracht, als ihnen noch zwei Mitglieder fehlten, um den Südturm für sich zu bekommen. Es war Lakeys Idee gewesen, Kay und Helena Davison aufzufordern, sich mit ihnen zusammenzutun und die beiden kleinen Einzelzimmer zu beziehen.

Wenn man jemand ausnutzen will, muss man ihn hinnehmen, wie er ist. Aber »ausnutzen« war sowieso nicht das richtige Wort. Sie alle mochten Kay und Helena, auch Lakey, die Kay in ihrem zweiten Jahr kennengelernt hatte, als beide wegen ihrer Schönheit, Popularität und guten Noten in die erlauchte Gesellschaft der Daisy Chain gewählt wurden. Sie hatte immer zu Kay gehalten, weil Kay, wie sie sagte, sich formen ließ und bildungsfähig war. Jetzt wollte sie herausgefunden haben, dass Kay auf tönernen Füßen stand, was eigentlich unlogisch war, denn ließ Ton sich etwa nicht formen? Aber Lakey war unlogisch, darin bestand ihr Charme. Sie konnte ein fürchterlicher Snob sein und dann wieder das genaue Gegenteil. Heute Morgen zum Beispiel machte sie ein finsteres Gesicht, weil Kay sich ihrer Meinung nach in aller Stille auf dem Standesamt hätte trauen lassen sollen, statt von Harald, dem das nicht in die Wiege gelegt worden war, zu verlangen, dass er eine Hochzeit in J. P. Morgans Kirche durchsteht. Zu Kay hatte sie selbstverständlich kein Wort davon gesagt, weil sie erwartete, Kay werde das selber merken. Doch gerade dazu war die sture, ungehobelte, leichtfertige Kay, die sie alle trotz ihrer Fehler liebten, außerstande. Lakey hatte oft die merkwürdigsten Vorstellungen von anderen Menschen. Seit vorigem Herbst war sie von der fixen Idee besessen, dass Kay sich aus Gründen des Prestiges der Clique aufgedrängt habe. Das war nun keineswegs der Fall und passte ja wohl auch kaum zu einem derart unkonventionellen Mädchen, das nicht einmal die eigenen Eltern zu ihrer Hochzeit einlud, obwohl ihr Vater in Salt Lake City ein angesehener Mann war.

Gewiss, Kay hatte versucht, das Stadthaus der Protheros für den Empfang zu bekommen, sich aber ohne Groll damit abgefunden, als Pokey laut jammernd erklärte, das Haus sei im Sommer geschlossen und ihr Vater werde die paar Male, die er in der Stadt übernachte, vom Hausmeisterehepaar versorgt. Arme Kay! Einige der Mädchen fanden, Pokey hätte sich ein bisschen großzügiger zeigen und ihr eine Gästekarte für den Colony Club anbieten können. Ja, in dieser Hinsicht hatten alle ein etwas schlechtes Gewissen. Jede von ihnen verfügte, wie die anderen wohl wussten, über ein Haus, eine große Wohnung, einen Club (und sei es nur der Cosmopolitan) oder notfalls über das Junggesellenheim eines Cousins oder Bruders, das man Kay hätte anbieten können. Aber das hätte Punsch, Champagner, eine Torte von Sherry’s oder Henri’s und Servicepersonal bedeutet – und ehe man sich’s versah, war man es selber, der die Hochzeit ausrichtete und einen Vater oder Bruder als Brautführer lieferte. In heutiger Zeit musste man, wie Mama erschöpft zu sagen pflegte, aus reinem Selbstschutz vorsichtig sein; es traten so viele Anforderungen an einen heran. Zum Glück hatte Kay beschlossen, mit Harald zusammen das Hochzeitsfrühstück selbst zu geben, und zwar in dem alten Brevoort-Hotel in der 8th Street, was so viel netter und passender war.

Dottie Renfrew und Elinor Eastlake verließen gemeinsam die Kirche und traten hinaus in die Sonne. Der Ring war nicht gesegnet worden. Dottie runzelte die Stirn und räusperte sich: »Glaubst du«, wagte sie sich mit ihrer Bassstimme vor, »dass sie nicht doch irgendjemand als Brautführer hätte finden können? War da nicht ein Vetter in Montclair?« Elinor zuckte die Achseln. »Das hat nicht geklappt«, erwiderte sie.

Libby MacAusland, Studentin der Anglistik aus Pittsfield, trat jetzt hinzu. »Was gibt’s, was ist los? Auseinander, ihr Mädels!« Sie war eine große, hübsche Blondine, die ihre braunen Augen fortwährend aufriss, ihren Schwanenhals neugierig reckte und von einer etwas aufdringlichen Freundlichkeit war. In ihrem ersten Semester war sie Klassensprecherin gewesen, und um ein Haar wäre sie Präsidentin der Studentenschaft geworden. Dottie legte eine warnende Hand auf Lakeys seidenen Ellenbogen; Libby war bekanntlich eine hemmungslose Klatschbase und Schwätzerin. Lakey schüttelte Dotties Hand mit einer leichten Bewegung ab, sie hasste jede körperliche Berührung. »Dottie fragte gerade«, sagte sie mit Nachdruck, »ob es da nicht einen Cousin in Montclair gab?« Ein kaum merkliches Lächeln lag auf dem Grund ihrer grünen Augen, deren Iris ein eigentümlicher dunkelblauer Ring umrandete, ein Merkmal ihres Indianerbluts. Sie hielt nach einem Taxi Ausschau. Libby spielte übertrieben die Nachdenkliche und tippte mit einem Finger an die Mitte ihrer Stirn. »Ich glaube, es gibt tatsächlich einen«, stellte sie fest und nickte dreimal hintereinander. Lakey hob die Hand, um ein Taxi heranzuwinken. »Kay hat ihren Cousin verschwiegen, weil sie hoffte, eine von uns würde ihr etwas Besseres liefern.« – »Aber Lakey!«, hauchte Dottie und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Wirklich, Lakey«, kicherte Libby, »nur du kannst auf so was kommen.« Sie zögerte. »Wenn Kay tatsächlich einen Brautführer haben wollte, so hätte sie schließlich nur ein Wort zu sagen brauchen. Mein Vater oder mein Bruder hätten gern, jeder von uns hätte gern …« Ihre Stimme brach ab. Ihr schmaler Körper schwang sich in das Taxi, wo sie sich auf den Klappsitz setzte und mit grüblerischem Blick, das Kinn in die Hand gestützt, ihre Freundinnen betrachtete. Ihre Bewegungen waren rasch und unruhig – sie selbst sah sich als ein hochgezüchtetes, stürmisches Wesen, wie ein Araberhengst auf einem naiven englischen Jagdstich. »Glaubst du wirklich?«, wiederholte sie eindringlich und biss sich auf die Oberlippe. Aber Lakey sagte kein Wort mehr. Sie begnügte sich meist mit Andeutungen, weswegen man sie auch die Mona Lisa des Raucherzimmers genannt hatte.

 

Dottie Renfrew war bekümmert. Ihre behandschuhten Finger zerrten unentwegt an der Perlenkette, die sie zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag bekommen hatte. Ihr Gewissen bedrängte sie, was sich bei ihr gewohnheitsmäßig in einem leisen Hüsteln äußerte, das wiederum ihre Eltern so besorgt stimmte, dass sie Dottie zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Ostern, nach Florida schickten.

»Lakey«, sagte Dottie ernst, ohne Libby zu beachten, »eine von uns hätte das übernehmen müssen, findest du nicht auch?« Libby MacAusland rutschte mit unruhigen Blicken auf dem Klappsitz herum. Beide Mädchen starrten auf Elinors ovales, unbewegtes Gesicht. Elinors Augen wurden schmal, sie griff an ihren blauschwarzen Nackenknoten und steckte eine Haarnadel fest. »Nein«, sagte sie verächtlich, »das wäre ein Eingeständnis von Schwäche gewesen.«

Libby traten die Augen aus dem Kopf. »Wie hart du sein kannst«, sagte sie bewundernd. »Und dennoch betet Kay dich an«, sinnierte Dottie. »Früher mochtest du sie am liebsten, Lakey. Im Grunde deines Herzens ist es, glaube ich, wohl noch heute so.« Lakey lächelte über das Klischee. »Mag sein«, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. Gegenwärtig mochte sie Mädchen wie Dottie, die eindeutig waren, wie ein Bild, das sich einem bestimmten Stil oder einer Schule zuordnen ließ. Die Mädchen, denen Lakey ihre Gunst schenkte, konnten sich meist nicht erklären, was ihr an ihnen gefiel. Sie empfanden mit einer gewissen Demut, dass sie völlig anders waren als Lakey. Untereinander sprachen sie oft über sie, wie etwa Spielzeuge über ihren Besitzer, und kamen zu dem Schluss, dass sie furchtbar unmenschlich sei. Aber das steigerte ihren Respekt für sie. Außerdem war Lakey sehr unbeständig, weswegen sie eine große Seelentiefe bei ihr vermuteten. Als das Taxi jetzt von der 9th Street in Richtung Fifth Avenue fuhr, fasste Lakey wieder einen ihrer plötzlichen Entschlüsse. »Ich möchte aussteigen«, befahl sie mit ihrer leisen, klaren, wohlklingenden Stimme. Der Fahrer hielt sofort, wandte sich um und sah zu, wie sie ausstieg, trotz ihrer Zerbrechlichkeit recht hoheitsvoll, in einem hochgeschlossenen schwarzen Taftkostüm mit weißem Seidenschal, einem kleinen melonenförmigen Hut und schwarzen Schuhen mit sehr hohen Absätzen. »Nun fahren Sie schon«, rief sie ungeduldig über die Schulter, als das Taxi noch immer hielt.

Die beiden Mädchen im Wagen sahen sich fragend an. Libby MacAusland streckte ihren Goldkopf, den ein Blumenhut zierte, aus dem Fenster. »Kommst du nicht mit?«, rief sie. Sie bekam keine Antwort. Sie sahen die aufrechte kleine Gestalt durch die Sonne auf den University Place zugehen. »Folgen Sie ihr«, sagte Libby zu dem Fahrer. »Dann muss ich um den Block herumfahren, meine Dame.« Das Taxi bog in die Fifth Avenue ein und fuhr am Brevoort vorbei, wo die übrigen Hochzeitsgäste gerade eintrafen. Es fuhr weiter die 8th Street hinauf und zurück zum University Place. Doch von Lakey war weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie war verschwunden.

»Na so was!«, rief Libby. »Habe ich etwas Dummes gesagt?« – »Fahren Sie noch mal um den Block«, fiel Dottie ruhig ein. Vor dem Brevoort stiegen Kay und Harald gerade aus einem Taxi, die beiden erschrockenen Mädchen bemerkten sie nicht. »Ob sie sich plötzlich entschlossen hat, den Empfang sausen zu lassen?«, fuhr Libby fort, als das Taxi zum zweiten Mal erfolglos um den Block gefahren war. »Ich muss wirklich sagen, sie schien ja von Kay überhaupt nichts mehr wissen zu wollen.« Das Taxi hielt vor dem Hotel. »Was machen wir nun?«, fragte Libby. Dottie öffnete ihre Handtasche und reichte dem Fahrer einen Schein. »Lakey tut, was sie für richtig hält«, sagte sie beim Aussteigen energisch zu Libby. »Wir erzählen einfach, dass ihr in der Kirche schlecht geworden ist.« Libbys hübsches, knochiges Gesicht zeigte Enttäuschung, sie hatte sich schon auf einen Skandal gefreut.

In einem Extrazimmer des Hotels standen Kay und Harald auf einem verblassten geblümten Teppich und nahmen die Glückwünsche ihrer Freunde entgegen. Man reichte einen Punsch, über den die Gäste in Entzücken ausbrachen: »Was ist es?« – »Einfach köstlich.« – »Wie bist du darauf gekommen?« Und so weiter. Kay gab jedem das Rezept. Die Grundlage bestand aus einem Drittel Jersey-Apfelschnaps, einem Drittel Ahornsirup und einem Drittel Zitronensaft, dem White-Rock-Whiskey beigefügt war. Harald hatte den Apfelschnaps von einem befreundeten Schauspieler bekommen, der ihn seinerseits von einem Bauern bei Flemington bezog. Der Punsch war die Abwandlung eines Cocktails, der Applejack Rabbit hieß. Das Rezept war ein Eisbrecher. Genau das hatte Kay sich von ihm erhofft, wie sie Helena Davison zuflüsterte. Jeder kostete ihn prüfend und stimmte mit den anderen darin überein, dass das Besondere daran der Ahornsirup sei. Ein großer Mann mit strubbeligem Haar, der beim Radio tätig war, machte Witze über Jersey Lightning und erklärte dem gutaussehenden jungen Mann mit der gestrickten grünen Krawatte, das Zeug habe es in sich. Man sprach über Apfelschnaps im Allgemeinen und dass er die Menschen streitsüchtig mache. Die Mädchen lauschten gebannt, bis zum heutigen Tage hatte keine von ihnen je Apfelschnaps getrunken. Harald erzählte von einem Drugstore in der 59th Street, wo man rezeptpflichtigen Whiskey ohne Rezept bekomme. Polly Andrews besorgte sich vom Kellner einen Bleistift, um sich die Adresse aufzuschreiben. Im Sommer wollte sie in Tante Julias Wohnung allein hausen und brauchte deshalb gute Tipps. Dann erzählte Harald von einem Likör, der Anisette hieß. Ein Italiener vom Theaterorchester hatte ihm beigebracht, wie man ihn aus reinem Alkohol, Wasser und Anisöl, das ihm eine milchige Farbe wie Pernod verlieh, herstellte. Dann erzählte er von einem armenischen Restaurant, wo es zum Nachtisch ein Gelee aus Rosenblättern gab, und verbreitete sich über die Unterschiede zwischen türkischer, armenischer und syrischer Küche. »Wo hast du nur diesen Mann aufgetrieben?«, riefen die Mädchen wie aus einem Munde.

In der Pause, die nun eintrat, leerte der junge Mann mit der gestrickten Krawatte ein Glas Punsch und trat zu Dottie Renfrew. »Wo ist die dunkle Schönheit?«, erkundigte er sich in vertraulichem Tonfall. Auch Dottie senkte die Stimme und blickte nervös in die andere Ecke des Speisesaals, wo Libby MacAusland mit Zweien aus der Clique tuschelte. »Ihr wurde in der Kirche schlecht«, murmelte sie. »Ich habe es gerade Kay und Harald gesagt. Wir haben sie in ihr Hotel geschickt, damit sie sich hinlegen kann.« Der junge Mann zog eine Augenbraue hoch. »Das ist ja schrecklich«, bemerkte er. Kay drehte sich hastig um, der Spott in der Stimme des jungen Mannes war nicht zu überhören. Dottie errötete. Sie suchte tapfer nach einem neuen Gesprächsthema. »Sind Sie auch beim Theater?« Der junge Mann lehnte sich an die Wand und legte den Kopf in den Nacken. »Nein«, sagte er. »Aber Ihre Frage ist durchaus verständlich. Ich bin bei der Wohlfahrt.« Dottie musterte ihn ernst. Ihr fiel jetzt ein, dass Polly gesagt hatte, er sei Maler, und sie merkte, dass er sie aufzog. Er sah ganz wie ein Künstler aus – schön wie eine römische Statue, nur etwas verbraucht und ramponiert. Die Wangen waren schon ziemlich schlaff und zu beiden Seiten der makellosen, geraden, kräftigen Nase zogen sich düstere Furchen. Sie wartete. »Ich male Plakate für die Internationale Friedensliga der Frauen«, erläuterte er. Dottie lachte und erwiderte: »Das ist doch keine Wohlfahrtsarbeit.« – »Im übertragenen Sinne schon«, sagte er und sah sie prüfend an. »Vincent Club, Junior League, Hilfswerk für ledige Mütter«, zählte er auf. »Ich heiße Brown. Ich stamme aus Marblehead. Ich bin ein indirekter Abkömmling von Nathaniel Hawthorne. Mein Vater hat eine Gemischtwarenhandlung. Ein College habe ich nicht besucht. Ich stamme nicht aus diesen Kreisen, mein Fräulein.« Dottie sah ihn nur schweigend und mitfühlend an. Sie fand ihn jetzt überaus anziehend. »Ich bin ein Ex-Exilierter«, fuhr er fort. »Seit dem Dollarsturz bewohne ich ein möbliertes Zimmer in der Perry Street, neben dem Zimmer des Bräutigams, male Plakate für die Damen und auch ein paar Sachen für die Industrie. »Für Jungens«, wie die Mädchen das nennen, befindet sich am Ende des Ganges, und im begehbaren Schrank steht ein elektrischer Grill. Daher müssen Sie entschuldigen, wenn ich nach Spiegeleiern mit Speck rieche.«

Dotties biberbraune Augen blinzelten vorwurfsvoll. Seine Redeweise verriet ihr, dass er stolz und verbittert war. Dass er ein Gentleman war, bewiesen seine noblen Gesichtszüge und sein tadellos geschnittener, wenn auch abgetragener Tweedanzug. »Harald will jetzt höher hinaus«, sagte Mr. Brown. »Eine Wohnung auf der eleganten East Side – über einem Schnapsladen und einer billigen Reinigungsanstalt, habe ich gehört. Wir trafen uns wie zwei Fahrstühle, die aneinander vorbeifahren – um einen modernen Vergleich zu wählen: Der eine geht aufwärts, der andere abwärts.« Dann fuhr er stirnrunzelnd fort: »Gestern wurde ich in Foley Square von einem schönen Geschöpf namens Betty aus Morristown, New Jersey, geschieden.« Er beugte sich leicht vor. »Wir verbrachten zur Feier des Tages die vergangene Nacht in meinem Zimmer. Heißt irgendeine von euch etwa Betty?« Dottie überlegte. »Da wäre Libby», sagte sie. »Nein, keine Libby, Beth oder Betsy. Die Namen, die ihr Mädchen von heute habt, gefallen mir nicht. Aber was ist mit der dunklen Schönheit? Wie heißt denn die?«

In diesem Augenblick tat sich die Tür auf und Elinor Eastlake wurde von einem Kellner hereingeführt, dem sie mit schwarz behandschuhter Hand zwei braun eingewickelte Pakete übergab. Sie schien völlig gelassen. »Sie heißt Elinor«, flüsterte Dottie. »Wir nennen sie Lakey, weil sie mit Nachnamen Eastlake heißt und aus Lake Forest bei Chicago stammt.« – »Vielen Dank«, sagte Mr. Brown, der jedoch keine Anstalten traf, sich von Dotties Seite zu entfernen, sondern fortfuhr, mit gedämpfter Stimme aus dem Mundwinkel heraus schnöde Bemerkungen über die Hochzeitsgesellschaft zu machen.

Harald hatte Lakeys Hand ergriffen und hin und her geschwenkt, während er einen Schritt zurücktrat, um ihr Kleid, ein Patou-Modell, zu bewundern. Seine raschen, geschmeidigen Bewegungen standen in eigentümlichem Gegensatz zu seinem länglichen Kopf und seiner feierlichen Miene. Es war, als gehöre dieser Denkapparat gar nicht zu ihm, sondern sei ihm bei einer Maskerade aufgesetzt worden. Harald war, wie die Mädchen aus seinen Briefen wussten, ein unerhört egozentrischer Mensch, und wenn er von seiner Karriere sprach, wie eben jetzt zu Lakey, so tat er das mit einem sachlichen, unpersönlichen Eifer, als handele es sich um die Abrüstung oder das Haushaltsdefizit. Dennoch wirkte er auf Frauen, wie die Mädchen ebenfalls aus seinen Briefen wussten, sehr anziehend. Auch die Clique bescheinigte ihm einen gewissen Sex-Appeal, wie ihn manchmal auch einfache Lehrer oder Geistliche haben. Dazu kam noch etwas Undefinierbares, ein dynamischer Schwung, sodass Dottie sich sogar jetzt noch fragte, wie Kay ihn zu einem Antrag gebracht hatte. Die Möglichkeit, dass Kay vielleicht enceinte sei, hatte sie im Stillen öfters erwogen, obwohl Kay behauptete, genau zu wissen, wie man sich vorsah, und bei Harald auf der Toilette eine Scheidendusche, einen Irrigator, deponiert hatte.

 

»Kennen Sie Kay schon lange?«, fragte Dottie neugierig. Sie musste unwillkürlich an die Toilette am Ende des Ganges denken. »Lange genug«, erwiderte Mr. Brown. Das war so grausam direkt, dass Dottie zusammenzuckte, als würde es über sie auf ihrem eigenen Hochzeitsempfang gesagt. »Ich mag Mädchen mit dicken Beinen nicht«, erläuterte er und lächelte beruhigend. Dotties Beine und die schmalen, elegant beschuhten Füße waren das Hübscheste an ihr. Dottie war illoyal genug, gemeinsam mit ihm Kays Beine zu mustern, die tatsächlich recht stämmig waren. »Ein Zeichen bäuerlicher Vorfahren«, sagte er und hob den Finger. »Der Schwerpunkt liegt zu tief – das bedeutet Eigensinn und Dickfelligkeit.« Er studierte Kays Figur, die sich unter dem dünnen Kleid abzeichnete. Wie gewöhnlich trug sie keinen Hüfthalter. »Ein Anflug von Steatopygie.« – »Wie bitte?«, flüsterte Dottie. »Übermäßige Fettansammlung am Gesäß. Ich hole Ihnen etwas zu trinken.« Dottie war entzückt und entsetzt, sie hatte noch nie eine so gewagte Unterhaltung geführt.

»Sie und Ihre mondänen Freundinnen«, fuhr er fort, »sind für ihre Funktionen besser ausgerüstet. Volle, tief angesetzte Brüste« – er sah sich nach allen Seiten um –, »wie geschaffen zum Tragen von Perlen und Bouclé-Pullovern, von gerüschten und gefältelten Crêpe-de-Chine-Blusen. Schmale Taillen. Schlanke Beine. Als ein Mann des vorigen Jahrzehnts bevorzugte ich die knabenhafte Figur, Erinnerungen an den Sommer in Marblehead: ein Mädchen in einer Badekappe, zum Kopfsprung vom Zweimeterbrett bereit. Magere Frauen sind sinnlicher, eine wissenschaftliche Tatsache – die Nervenenden sitzen dichter an der Oberfläche.« Seine grauen Augen verengten sich unter den schweren Lidern, als würde er einschlafen. »Aber die Dicke gefällt mir trotzdem«, sagte er unvermittelt, mit einem Blick auf Pokey Prothero. »Ein feuchtes Weib, Perlmutthaut, mit Austern gepäppelt. Mann oh Mann! Geld, Geld und nochmals Geld! Meine sexuellen Probleme sind in erster Linie wirtschaftlicher Natur. Ich hasse mittellose Frauen, bin aber selbst ein Bohemien. Unmögliche Kombination.«

Zu Dotties Erleichterung erschienen jetzt die Kellner mit dem Frühstück – Landeier. Kay scheuchte alle zu Tisch. Sie setzte den Brautführer an ihre rechte Seite, einen sehr schweigsamen Menschen, der beim Wall Street Journal arbeitete (Anzeigenabteilung), und Helena Davison an Haralds rechte Seite, aber dann gab es nur noch Konfusion. Dottie stand verlassen am Ende der Tafel, zwischen Libby, die sie nicht ausstehen konnte, und der Frau des Radioreporters, die Kleider für Russeks entwarf (und natürlich links von Harald hätte sitzen müssen). Die Anwesenheit so vieler Mädchen machte die Tischordnung schwierig, aber mit etwas Sorgfalt hätte die Gastgeberin es immerhin so einrichten können, dass nicht alle Langweiler zusammensaßen. Doch die Frau des Radiomenschen, eine lebhafte Bohnenstange, ausstaffiert mit Federschmuck und Accessoires aus Jettsteinen wie ein Filmvamp, schien mit ihren Tischnachbarn völlig zufrieden zu sein: Als ehemalige Angehörige der Universität Idaho, Abschlussjahrgang 1928, liebe sie solche Veranstaltungen. Sie kenne Harald schon seit Kindesbeinen, verkündete sie, und seine Eltern ebenfalls, obschon sie diese lange nicht mehr gesehen habe. Haralds Vater sei damals Direktor des Gymnasiums in Boise gewesen, das sie und Harald vor unzähligen Jahren besucht hätten. »Ist Kay nicht ein Schatz?«, fragte sie Dottie sofort. »Furchtbar nett«, antwortete Dottie mit Wärme. Ihre Nachbarin war das, was man früher »peppig« nannte. Dottie musste in Gedanken wieder einmal ihrer Englischlehrerin recht geben, die immer behauptet hatte, es sei klüger, nicht im Jargon zu sprechen, denn das verrate das Alter.

»Wo sind eigentlich die Eltern der Braut abgeblieben?«, fragte die Frau jetzt mit gedämpfter Stimme. »Abgeblieben?«, wiederholte Dottie verständnislos. Was meinte diese Person nur? »Warum kreuzen die nicht zur Hochzeit auf?« – »Oh«, sagte Dottie hüstelnd. »Ich glaube, sie haben Kay und Harald einen Scheck geschickt«, murmelte sie. »Statt das Geld für die Reise auszugeben, verstehen Sie?« Die Frau nickte. »Das meinte auch Dave – mein Mann. ›Sie haben sicherlich einen Scheck geschickt‹, sagte er.« – »Ist ja auch viel praktischer«, meinte Dottie. »Finden Sie nicht auch?« – »Bestimmt«, sagte die Frau. »Aber ich bin ja fürs Gemütvolle – ich hab’ in Weiß geheiratet … Übrigens hatte ich Harald angeboten, die Hochzeit bei uns zu feiern. Wir hätten einen Pfarrer aufgetrieben und Dave hätte ein paar Bilder machen können für die Alten daheim. Aber bis ich mit meinem Vorschlag kam, hatte Kay bereits alles arrangiert.« Sie hielt fragend inne und sah Dottie forschend an, die um eine Antwort einigermaßen verlegen war und taktvoll mit einem Scherz auswich: Kays Pläne seien unabänderlich wie die Gesetze der Meder und Perser. »Wer war das noch«, fuhr sie zwinkernd fort, »der gesagt hat, dass seine Frau von eiserner Willkür sei? Mein Vater zitiert das immer, wenn er Mama nachgeben muss.« – »Zum Schießen«, sagte die Nachbarin. »Harald ist ein prima Kerl«, fügte sie dann in ernstem und nachdenklichem Ton hinzu, »aber auch leicht verletzbar, was man vielleicht gar nicht denkt.« Sie sah Dottie durchdringend an und ihre Pfauenfedern nickten kampflustig, als sie nun ein Glas Punsch hinunterkippte.

Auf der anderen Seite des Tisches, links von Kay, fing der Abkömmling von Hawthorne, der sich gerade mit Priss Hartshorn unterhielt, Dotties bekümmerten Blick auf und zwinkerte ihr zu. Dottie, die nicht wusste, was sie sonst tun sollte, zwinkerte forsch zurück. Sie hätte nie geglaubt, dass sie der Typ sei, den Männern zuzuzwinkern. Infolge ihrer schwachen Gesundheit, die ihr als Kind nicht erlaubte, die Schule zu besuchen, war sie die Älteste der Clique, fast dreiundzwanzig, und sie wusste, dass sie ein bisschen altjüngferlich wirkte. Die Clique neckte sie wegen ihrer Förmlichkeit, ihrer festgefahrenen Gewohnheiten, ihrer wollenen Schals und ihrer Arzneien und wegen des langen Nerzmantels, den sie gegen die Kälte auf dem Schulgelände trug. Aber Dottie hatte viel Humor und machte sich mit den anderen über sich selbst lustig. Ihre Verehrer behandelten sie immer mit großem Respekt, sie gehörte zu den Mädchen, die von anderer Leute Brüdern ausgeführt werden, und sie hatte an jedem Finger einen der blassen Jünglinge, die an der Harvard Graduate School Archäologie, Musikgeschichte oder Architektur studierten. Sie las der Clique Auszüge aus deren Briefen vor – Beschreibungen von Konzerten oder von möblierten Wohnungen im Südwesten – und bekannte im Wahrheitsspiel, dass sie zwei Heiratsanträge bekommen hatte. Sie habe schöne Augen, sagten ihr alle, und blitzweiße Zähne, auch hübsches, allerdings dünnes Haar. Ihre Nase war ziemlich lang und spitz, eine typische neuenglische Nase, und ihre Augenbrauen waren schwarz und etwas stark. Sie ähnelte dem Porträt Copleys von einer ihrer Vorfahrinnen, das zu Hause in der Halle hing. Sie hatte etwas übrig für gesellige Vergnügungen und war, so argwöhnte sie, ziemlich sinnlich. Sie liebte Tanz und Gesang und summte ständig Schlagerfetzen vor sich hin. Doch nie hatte einer auch nur den Versuch gemacht, ihr zu nahe zu treten. Manche der Mädchen konnten das kaum glauben, aber es stimmte. Seltsamerweise hätte es sie nicht einmal schockiert. So komisch die anderen es auch fanden – D. H. Lawrence gehörte zu ihren Lieblingsschriftstellern: Er besaß ein so tiefes Verständnis für Tiere und für die natürliche Seite des Lebens.