Die vorderen Hände

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Ja, bien sur, Jeanne d’Austria!

Du hast ganz große Augen.

Und really aufregend dein MUnd!

Am Abend suchst Du Deinen Teint

Verloren, gestern, what a morning…

Und ach,Du bist zuviel? Zwei Pfund?

Du findst Dich nicht im Spiegelchen?

Hör! Auf den Strassen

weht ein dusty wind

Allez, Enfants, kommt,

schenkt Uns eure Hände!

Anton, roxane & freunde

Antons Lust hielt sich heute sehr in Grenzen. Inzwischen tat sie das öfter.

Dafür war die Wut wieder einmal schwer hinter den Gattern zu halten. Seine übergroße Wut. Es war ein kleines Wunder, dass die Gäste nicht manchmal krank wurden von der Wut in seinem Essen. Dass sie nicht über Nacht zu Käfern wurden. Oder einfach lautlos vergingen! Einfach, weil er ihr Essen mit solchem Grimm im Bauch komponiert hatte.

Stattdessen ließen sie ihm frech weiter Grüße zukommen – wenn es denn welche waren, die ihn noch von vorher kannten. Als sein Laden noch „Roxane“ geheißen hatte. Oder sie erzählten Gitti munter, wie außerordentlich und bemerkenswert und überraschend und wohltuend doch die Küche hier sei!

Seine Küche.

Über dem großen Herd hing bis heute der gleiche, goldene Spiegel. In dem er sich bis heute anschauen musste: Anton, der meisterhafte Koch von damals! Und heute? Der Totalversager. Ein Feigling.

Schon bei der ersten größeren Krise hatte er das Handtuch geschmissen. Hatte sich von seinem eigenen Personal einschüchtern lassen. Hatte ihnen geglaubt, dass sie ihn weiter regieren lassen würden, in seiner Küche.

In seiner Küche!

Und dann hatte er ihnen alles übergeben. Nur, damit der verdammte Laden nicht zumachte. Und hatte sich von ihnen in seinem eigenen Lokal anstellen lassen, als Koch.

Dieselben Idioten, angeblich waren sie einmal seine Freunde gewesen, hatten ihn vor Urzeiten sogar gedrängt, auf Knien angefleht, dass er sich doch endlich selbstständig machen solle, dass er sein Leben, seine Karriere, seine Küche in die eigene Hand nehmen solle, endlich, es sei doch verdammt nochmal höchste Zeit, dass er, der Anton, es allen zeige!

Und dann hatte er es allen gezeigt.

Seine Freunde hatte er natürlich mit hereingenommen, so wie sie es sich gewünscht hatten: bei ihrem Freund, beim Anton, im Dienst, im Roxane! Als einfaches Personal. Buchhaltung. Kellnerin. Chef de Partie. Alle zusammen hatten sie bei ihm lernen wollen, wie man so ein Lokal führt. Wie man es regiert. Regieren, ja! Hatte er schon immer so gesagt, denn er war ein König. Er war der König der Köche in Wien.

Und heute, zwei Jahre später? Hatte er seinen Stern längst abgegeben. Und sein Lokal auch. Abgegeben an das eigene Personal, an seine früheren Freunde. An genau die Leute, die sehr gut aufgepasst hatten, die gut bei ihm gelernt hatten, wie man regiert, und die er wegen Betruges verklagen würde, wenn er nur die Mittel dazu hätte.

roxane & freunde.

Heute stand er in ihren Diensten. Und als Chef de Cuisine in ihrer Küche. Bert stand daneben, viel zu oft. Als Chef de Partie. Das war die offizielle Bezeichnung für einen leitenden Gesellen. Es brauchte ja weiter einen. Der in der Vorbereitung auf den Abend in der Küche mithalf. Wenngleich es auch ziemlich lächerlich war, sich selbst als einzelnem Kerl den Titel „Chef de Partie“ zu verleihen. Aber Bert liebte Titel. Und Anton nannte ihn einfach „Parteichef“.

Gitti servierte, hatte das sogar gelernt, einst. Angeblich. Edi, der Buchhalter, hielt weiter die Bücher. Statt den Mund. Und er, Anton, kochte nach ihren Vorgaben. Nur seine Rezepte, das freilich schon! Davon verstanden sie ja bis heute viel zu wenig. Das war gut so. Aber er musste ihre Karte kochen. Ihren mittelmäßigen. Kleingeistigen. Weg. Mitgehen.

roxane & freunde!

„Anton, ich will dir nicht zu nahe treten, aber die Ausgaben für die Ware müssen ein bissel runter.“

„Wie weit denn noch, ha?“

„Sag einmal, können wir nicht einen einzigen Großhändler nehmen, statt dass ich immer die ganzen Maxerln einzeln abfahre? Viel zu teuer, und meistens doch auch nicht besser, als wenn einer das en gros verkauft und in Einem liefert, meinst nicht auch?“

„Nein, meine ich nicht auch. Und, lieber, guter Bert, kannst du mir bitte aus dem Weg gehen? Siehst du das nicht, wenn du nichts arbeitest, stehst immer da, wo ich grade hinmuss!“

„Anton, du kommst mir nicht aus. Irgendwann musst du mit den Ausgaben runter! So oder so. Du kochst eine große Küche, aber wir leben beim Einkauf auf zu großem Fuß!“

„Das hier ist eine kleine Küche. Und du wirst immer dicker. Bert. Kein Platz hier, für noch einen wie mich, meinst nicht auch?“

Ihre miese Bezahlung musste er akzeptieren. Schließlich hatten sie ihm ja den Arsch gerettet, damals. Hatten sie selber gesagt. Genau so. Den Arsch. Immer wieder. Da half ihnen die falsche Freundlichkeit, die sie jeden Tag im Lokal herumtrugen, gar nichts. Er entlarvte ihre Süße.

roxane & freunde?

„Anton, Tisch 5. Der Kunde –“

„Der Gast.“

„Meinetwegen. Der Gast meint, dass die Sellerieschaumsuppe ein bissel zu heiß gewesen ist.“

„Muss man sie halt ein bissel weniger heiß servieren, meinst nicht, Gitti? Soll ich sie nach dem Eingießen vielleicht noch eine Zeit anblasen, oder was meinst?“

„Gib sie doch erst zum Servieren aus, wenn sie zwei Minuten gestanden hat!“

„Genau. Und dann meint dein Kunde vielleicht, dass sie ihm jetzt ein bissel zu kalt wäre? Nur weil du noch nicht fertiggeraucht hast? Geh bitte!“

„Ich habs dir jetzt gesagt. Und du wirst dich bitte danach richten.“

„Und wenn nicht? Willst mich entlassen? Sind wir schon so weit? Könnt ihr schon genug?“

„Geh, Anton, so war das nicht gemeint, das weißt du ganz genau.“

„So, Gitti? Weiß ich das?“

Er wusste ganz genau, was sie im Schilde führten. Aber er würde ihnen nicht auch noch dabei helfen. Er würde seine Kunst mit in sein Grab nehmen. Und es würde ein bayerisches Einzelgrab sein!

Fast täglich, seit zweieinhalb Jahren schon, landete Anton nun beim Kochen in diesem Grab, den großen Spiegel über dem Herd anstarrend, den er täglich putzte, als Letztes, wenn alles andere sauber war. In seinem goldenen Rahmen hing er dort. Schon seit damals. Als er begonnen hatte.

Er sah sich an. Dieses Bild.

Wie oft hatte er den Spiegel schon abnehmen wollen?

Und wie oft hatte er es auch getan! Heimlich.

Genauso heimlich hatte er ihn dann wieder hingehängt. Dahin, wo er gehangen hatte, als er hier der Maestro, der Chef von allen gewesen war, und niemand sonst. Genau da sollte er ruhig weiter hängen! Es mochte ja sein, dass es völlig lächerlich war. Aber er wollte, dass dieser Spiegel sein Zeuge war. Zeuge, dass Anton noch lebte, und dass er, der Meister, am Ende hocherhobenen Hauptes aus dieser Küche hinausgehen würde. Als Sieger! Das hatte er sich geschworen. Und er schwor es sich jeden Tag noch einmal. Er würde sie alle wieder aus dem Roxane hinausfegen! Und ganz neu beginnen. Eines Tages.

Er sah sich an. Da oben hing er also.

Und schon wollte er sich wieder abhängen. Als müsste dieses Spiel für immer und ewig genau so weitergehen.

Er atmete ein. Atmete aus. Und wusste, dass er jetzt nicht viel mehr tun konnte. Einfach weiter atmen, weiter kochen, weiter leben. Und dafür sorgen, dass er am Ende sein bayerisches Grab nicht verfehlte.

Das blinde Fell im sich wiegenden Korn

Für einen Moment lebt es wiederr

Kennt sein Wesen noch

Darüber ein Himmel in leisem Flirren

Er weiß von diesen Dingen nichts

Sieht alles immer neu

Und noch darüber klingt ein Lied an

Als keines Menschen Klang zu nehmen

Als wäre in der Höhe alles eins

Professor Kramers bester Student

„Herr Professor, ich habe da noch eine Frage zu diesem Taktwechsel hier, Abschnitt K, Takt 256.“

„Nur zu, Karla, fragen Sie, bitte, Sie können mich so lange fragen, bis ich den Löffel abgeb! Ist eh bald so weit.“

Sie schwieg ihn ausdruckslos an. Er fasste nach.

„Ich weiß doch gar nicht, was ich bald ohne Sie anfangen soll!“

Er zwinkerte ihr lächelnd zu, so halb schräg hinter seiner randlosen Brille und dem Flügel hervor. Sie stand gegenüber am Dirigierpult. Die Partitur war von vielen Händen abgegriffen, es roch bei jedem Umblättern erhaben, altes Papier. Sein Blick war gar nicht angekommen, auch wenn man nur unter dem steil aufgestellten Flügel hindurchschauen hätte müssen, um seinen müden Augen zu begegnen. Sie hatte aber gerade keine Lust auf Altherrencharme. Hatte sie ja meistens nicht. Sie wollte arbeiten. Öfter als er. Der gutmütige, ältere Herr überging dann aber den eigenen Schmäh genauso unspektakulär wie sie, und alles war gut. Er war da nicht so.

Umso dankbarer erhellte sich sein Blick, wenn Karla Manhardt ab und zu doch auf sein Angebot einging, ihn ein wenig hochnahm, sich bald naiv, bald autoritär unter, neben oder über ihn stellte und einer Plauderei freien Lauf ließ. Dies und das, und ach! Die Musik, und das Leben erst! Karla erlaubte sich das insgeheim nur, wenn sie nicht ausreichend vorbereitet zum Hauptfach erschienen war. Professor Bernhard Kramer, Dirigieren und Korrepetition.

Er durchschaute das, natürlich. Aber er war da eben nicht so. Sie war seine beste Studentin. Was er ihr in zwanglosen Gesprächen auch gerne sagte, wie zufällig. Auch, dass er stolz auf sie sei. Sie parierte dann, sofort. Immer.

 

Sie sei schließlich seine einzige Studentin. Unter acht jungen Männern aus aller Herren Länder.

Ach, sie wisse ganz genau, wie er es gemeint habe.

„Und gerade deshalb kann ich nicht verstehen, warum Sie mit Ihrer Begabung, Ihrem Ehrgeiz, Ihrer Ausdauer manchmal doch so schnell aus dem Gleichgewicht zu bringen sind!“

Es folgte, fast immer, der Kanon ihrer gereizten Erklärungen, und den begleitete er mit einem Lächeln.

Was es da zu lächeln gäbe?

Der Herr Professor könne sich eben nicht vorstellen, was es heißen würde, vor dem Orchester und neben den anderen Dirigenten zu bestehen, als Frau, und wie oft sie das Gefühl habe, sie stünde da vor einer großen Wand.

„Mit fetten, schwarzen Buchstaben drauf: DU NICHT!“

Der Herr Professor lächelte dann gerne noch ein wenig breiter.

„Ach, das bildest du dir ein, sagen sie, die Herren der Schöpfung. Jedes Mal, wenn ich es doch einmal anspreche, weil ich ihre geringschätzigen Blicke und das Gerede so heftig auf mir spüre, ständig! Die haben dann immer so eine Art, sowas nobel Brüderliches, vor allem die Russen, man möchte es ihnen echt glauben, echt, ich schäme mich immer, dass ich überhaupt was gesagt habe! Und dann merkst du es kurz danach schon wieder! Und noch stärker. Weil du ehrlich warst. Sie glauben es einfach nicht. Dass ich erfolgreich weitermachen werde, nach dem Studium. Auch als Frau. Vielleicht sogar noch eher als die? Ausgeschlossen! Und wissen Sie was? Ich glaube, dass das auch was mit Österreich zu tun hat. Und vor allem mit Wien. Erst ist sie eine Frau, und dann ist sie auch noch eine von hier! Was will ich als Wienerin denn in Wien erreichen? Oder in Österreich?“

„Aber Karla –“

„Herr Professor, ich weiß eh, was Sie sagen. Von wegen, die Asiaten, und die Russen, und die Deutschen genauso, dass die eher Respekt vor einer jungen Künstlerin haben, die obendrein auch noch in Wien aufgewachsen ist, in der –“

„In der Hauptstadt der Musik! Weltweit. Ja, das sage ich! Frei heraus, und gleich noch einmal! Weil Sie bitte nicht vergessen sollen, dass heut ein jeder junge Mensch, der auf ein Musikstudium zulebt, von nichts mehr träumt, als dass er in Wien studieren könnt!“

„Und trotzdem ist das für mich kein Vorteil, sondern im Alltag an der Hochschule eher der Geruch des Hängenbleibens! Die Karla, geh bitte! Die würd sich doch in einer anderen Stadt gar nicht bewerben, die würd halt dann was anderes machen, irgendwas, damit sie in Wien bleiben kann! Und weil wir einmal dabei sind: Wie oft ich mit Blicken ausgezogen werde, wie oft ich mich völlig nackt fühle, wenn ich da vor dem Hochschulorchester stehe, das bilde ich mir nicht ein. Und das können Sie als Mann sich gar nicht vorstellen!“

Der Herr Professor lächelte meistens noch kurz weiter. Und erklärte dann, abschließend, dass er fest davon überzeugt sei, dass sie ihren Weg schon machen werde. Schließlich hätten nicht wenige seiner Studenten einen erfolgreichen Weg eingeschlagen, auch international!

Dann ließ er sie etwas dirigieren, das ihr ohnehin besonders gut lag. Wobei er jeden Einsatz, den sie ihm gab, jeden Akzent, den sie forderte, mit strengster Genauigkeit und tiefer Hingabe ausführte. Beide vergaßen schnell, dass hier kein Orchester spielte, sondern ein älterer Herr, an einem mittelmäßig gestimmten Konzertflügel der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, Wien.

Heute gab es so ein Gespräch nicht.

Sie wollte arbeiten. Hatte bald die Abschlussprüfung zu dirigieren. Viel zu bald. Und konnte es dennoch gar nicht erwarten. Proben mit dem Orchester. Die Pflicht. Und dann, am Ende, das große Konzert, im Wiener Konzerthaus, die Kür.

„Moment, bitte, Takt 256?“

„Ja, Herr Professor, Abschnitt –“

„K, ja. Hier, ich habs schon.“

Kurz ließ er das Notenbild in sich hinein.

Sie empfand Freude. Weil das alles dann vorbei sein würde. Vier Jahre Hauptstudium, zwei Jahre Meisterklasse. Genug der geringschätzigen Blicke, der ironischen Untertöne. Genug der Respektlosigkeit.

„Was kann denn an dieser Stelle für Sie schwierig sein, Karla? Das Mittel kommt doch in dem Satz laufend vor!“

„Ja, schon. Aber es ist hier das letzte Mal, und deshalb muss das mit einer anderen Energie kommen, das braucht einen eigenen, finalen Gestus, oder?“

„Ja, das mag sein. Da haben Sie vielleicht schon recht.“

„Wenn hier also die Celli mit ihrer Sololinie schon in den Achteln, also richtig mit Macht auf das neue Tempo zusteuern würden, richtig darauf drängen, auch deutlich schneller werden, und der Rest des Orchesters aber bis zum wirklichen Wechsel im Tempo stabil bleiben soll, müssten die Celli bis zum gemeinsamen Übergang nochmal etwas retardieren, oder? Das wär doch gescheit!“

„Eh klar. Wer davonläuft, muss am Ende auf die anderen warten.“

Er fand sich durchaus witzig. Ihr fehlte heute so ein Sinn.

„Und wie zeige ich den Celli das genau an? Das muss ja doch vollkommen homogen sein, damit es nicht wie Unsicherheit daherkommt, oder?“

„Also, das stimmt schon. Ja, ich weiß auch nicht. Das hat bisher keiner so gemacht. Ist aber eine gute Idee, ja, eigentlich könnte das da so sein!“

„Und wie schlage ich das?“

„Na, probieren!“

Karla richtete sich auf.

Der Einsatz, klar und autoritär. Sie ließ erst alles laufen, dann kam die Stelle in Sicht. Der Professor spielte, die Sololinie der Celli war immer klarer in seiner linken Hand zu hören, die rechte vertrat das Orchester. Karla ließ den Stock in der Linken ruhig pulsieren, stur zeichnete sie dem Orchester seinen Weg vor. Ihr rechter Arm hingegen kümmerte sich beschwörend um die Celli, die Hand forderte sie zum Alleingang, mehr und mehr – und bremste sie kurz vor dem schnell herankommenden Taktwechsel, und kurz auch vor dem gemeinsamen neuen Tempo, wieder herunter –

„Nein, so geht das nicht! Ich komm da ja völlig durcheinander! Das ist nicht klar geschlagen, Karla!“

Bernhard Kramer hatte jäh unterbrochen und schnaufte wie ein Gewichtheber.

„Es ist, ach, es fällt mir eh schon nicht leicht, Ihrem Stock zu folgen, wenn er in der linken Hand ist. Wieso wechseln Sie ihn denn auch noch, in letzter Zeit immer wieder? Oft sogar innerhalb eines Satzes!“

„Weil ich glaube, dass es einen großen Unterschied macht.“

„Das mag schon sein, aber glauben Sie nicht, dass Sie damit mehr Durcheinander anrichten als nötig? Was haben Sie denn davon?“

„Die Linke kann manches einfach klarer zeigen als die Rechte.“

„Ja, Ihre alte These. Aber hier verwirren Sie mich, und das mit beiden Händen! Also bitte, noch einmal.“

Der zweite Versuch misslang wieder, und auch der dritte.

Und weder konnte der Professor genau sagen, was an Karlas Dirigat nicht gut und klar genug gewesen wäre, noch, warum ihm die Stelle mit den Celli einfach so nicht gelingen wollte. Sie hingegen konnte nicht verstehen, warum er ihr diesmal einfach nicht folgte. Auch wurde sie zunehmend den Verdacht nicht los, dass er das pianistisch nicht bewältigte, es aber ihr in die Schuhe schob. Merkte er das vielleicht gar nicht?

Als es auch beim vierten Mal nicht ging, knallte Professor Bernhard Kramer den Deckel des Flügels so laut zu, dass Karla erstarrte. Er war puterrot angelaufen. Scham. Seine Augen aber waren angstgeweitet. Der Körper trieb ihn jäh vom Klavierhocker hoch.

„Nein, zum Teufel nochmal!“

Karla ließ endlich die Arme sinken, die sie ein paar Augenblicke lang aussehen hatten lassen wie eine Vogelscheuche. Langsam drehte sie sich weg. Gleichzeitig senkte ihr Professor den Kopf, und im selben Gestus setzte er sich wieder. Als ob er diese gemeinsame Choreographie unbedingt zu erfüllen hatte.

Stille besetzte den Raum. Nahm zwei hilflose Menschen in sich gefangen. Die jetzt auf unterschiedliche Weise, aber im gleichen Tempo, atmeten. Es sah aus, als ob sie beide einer sehr komplexen Musik folgten. Nur tief in ihrem Inneren zu hören.

Karla blieb ihm abgewandt, hob aber schon die Arme wieder, schloss die Augen, senkte leicht den Kopf. Die zitternden Hände ihres Lehrers lagen auf dem geschlossenen Deckel des Flügels. Zwei gestrandete Wale.

Sie wartete, wusste selbst nicht mehr wie lange. Bis eine fast sichtbare Konzentration aus der bleiernen Stille wuchs. Dann atmete sie ein, ließ den weißen Stock kurz und klar durch den Raum wandern, zusammen mit der anderen Hand stieg er hoch, genauso, wie es sein musste. Unweigerlich atmete auch der Mann hinter dem Flügel ein, hob den Kopf, und begann mit brüchiger Stimme die Solostelle der Celli zu singen, als der Stock mit sanfter Bestimmtheit zum Beginn des ersten Taktes hinabtauchte. Dort nahm er diese Töne an sich und überreichte sie der anderen, der freien Hand. Die packte sie und trieb sie beharrlich fordernd der vorher misslungenen Stelle entgegen. Der singende Bernhard Kramer stand auf, ging mit, und völlig mühelos schien er nun zu begreifen, was seine Studentin mit ihm vorhatte. Er überließ sich krächzend dem Höhepunkt ihrer Gesten, wurde dort gebremst, in einer Steilkurve hinübergeleitet in den Taktwechsel, in das neue Tempo, und wieder zurück in die alte Einheit, zurück zum Dirigierstock. In die linke Hand der jungen Frau. Endlich wieder zusammen mit dem Orchester, das sie nun beide hörten, klar und kraftvoll. In einer Schönheit, die sie noch eine kleine Weile still verharren ließ, nachdem Karla abgewunken hatte.

Der ältere Herr hinter dem Flügel setzte sich. Karla klappte leise die Partitur zu, nahm ihren Bleistift, den Rucksack auch, und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Bernhard Kramer blieb allein zurück. Still saß er da und stand doch noch immer in der anderen Welt! Lächelnd. Er war da so.

Am Abend war ihr nach Ruhe.

Sie ging zu Hause ein paar Stellen der Prüfungspartituren durch. Igor Strawinsky, Le sacre du printemps. Großes Orchester. Arvo Pärt, Lamentate. Chor und Orchester.

Und nur weil ich mich ab und zu aus der Ruhe bringen lasse, von Leuten, die eh genau nur das vorhaben, und nichts anderes, deswegen bin ich noch lange nicht schnell aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Seine Worte hatten sie im Griff. Kaum gelang ihr echte Konzentration. Wenn sie ehrlich war, starrte sie nur in die Noten, um in keine Leere zu schauen, und in der Leere in einen Abgrund.

Der Platz am Klavier. Ein wenig war das wie ihr Platz am Kamin. Die vergilbten und abgegriffenen Tasten beruhigten sie, führten sie in einen leeren Raum, aus dem heraus sie sich selber zuschauen konnte. Beim Ausder-Ruhe-sein. Beinahe war das die viel schönere Ruhe. Nicht selten waren sie in solchen Stimmungen schon auf grundlegende Wahrheiten gestoßen, sie und sie.

Ja, ich bin eine Frau. Ich bin hübsch, sagt man, und ich finde das auch, meistens. Und ich hasse es, wenn ich sogar in mir drin zuerst auf Äußerliches stoße. Es ist doch scheißegal, wie ich aussehe. Nein, ist es nicht. Aber das hat nichts zu tun mit meiner Qualität als Musikerin. Ganz ehrlich, den meisten Dirigenten hat es eher genützt, wenn sie gut ausgesehen haben. Und bei den Frauen ist es natürlich wieder ein Nachteil. Ich will diese blöden Geschlechterdinger nicht haben in der Kunst! Im Orchester haben sie es wenigstens halbwegs geschafft, gleichberechtigt nebeneinander zu spielen, Frauen und Männer; na ja, was man gleichberechtigt nennt. Sie lassen sich halt in Ruhe. Ist ja schon was. Aber vorne am Pult, eine Katastrophe! Ach, eine Frau dirigiert mir einfach nicht leidenschaftlich genug, der packende Zugriff fehlt doch da immer, bäbäbäh. Speiben könnt ich. Und dass ich trotzdem ein Kind haben will, oder zwei, irgendwann, was soll denn daran schlimm sein? Was kann ich denn danach nicht mehr machen? Keine Tourneen, so ein Witz! Brauchst halt einen g’scheiten Mann dazu. Hast halt nicht. Leck mich.

Sie las und blätterte in Igor Strawinsky herum, amüsierte sich über frühere technische Eintragungen, war stolz über ihre heutige Souveränität in diesem Werk, und verwarf sich wieder, weg will ich, in irgendein Eck. Und raus. Aus.

„Ich glaube, du wirst das wunderbar machen.“

„Ach, du.“

Die Stimme kam leise hervor, aus ihrer stillen Herberge, und flog aus, in den dunklen Raum. Hinten am Bett standen zwei Kerzen, und das schwache Pultlicht über den Noten tauchte Karla in einen schummrigen Kreis aus mühsamem Interesse. Der Rest: In Dunkelheit getauchte Wirklichkeit. Auch im Sommer war hier immer ein Ton Herbst. Ihr kleiner Pavillon im Hinterhof, diese steingewordene Mischung aus Exil und Stallwärme, ein Refugium für allerlei Wiener Absonderlichkeiten. Darin geborgen: Eine weibliche Dirigentin in Selbstzweifeln, und eine Stimme, die irgendwann, irgendwie, einem Körper entlaufen sein musste. Dem Klang nach ein schöner, stellte Karla sich öfter vor.

 

„Kannst du inzwischen Gedanken lesen oder meinst du die Noten hier?“

„Deine Gedanken sind, wie immer, gar nicht zu übersehen, du Schöne. In allen Winkeln haben sie sich zueinander gestellt wie Schatten.“

„Das klingt bedrohlich.“ Sie gähnte.

„Das sollte es nicht. Ich liebe den Schatten.“

„Ich liebe ihn auch.“

„Ich weiß, Karla.“

„Glaubst du, ich kann mit so vielen wirren Träumen im Kopf auch nur den Hauch einer Seligkeit im Leben finden?“

„Das glaube ich!“

Der Mann im Klavier klang oft, als ob er lächelte. Jetzt klang er ernster, auch tiefer als sonst.

„Ohne diese Träume wüssten die vielen Schatten doch gar nicht, dass sie hier zu Hause sind, Karla. Bei dir.“

„Weißt du. Der Mann, von dem ich träume, der hat vielleicht auch so eine Stimme wie du.“

„Ach. Und wie wäre er noch? Sein Gesicht, wie ist es?“

„Das weiß ich nicht. Ich kann ihn nicht sehen. Ich höre ihn eher. Und gar nicht so sehr seine Stimme. Sondern seine Musik.“

„Er ist Musiker? Wie du?“

„Nein, anders als ich. Er schreibt, er erfindet Musik. Ich dirigiere sie doch nur.“

„Was für Musik? Ich interessiere mich sehr für Musik.“

Karla lachte hell auf, ein kleiner Blitz im Dunkeln.

„Das glaub ich, dass du das tust! Du wohnst in einem Klavier, mein Lieber, in meinem Klavier!“

„Stand es nicht schon vor dir hier?“

„Ja, aber jetzt ist es meins?“

„Das ist wohl richtig.“

„…“

„Und du kannst die Musik hören, die Musik, die dieser Mann schreibt, dieser Mann, von dem du träumst, und den du vielleicht lieben wirst?“

Das Tempo seiner Worte war von einem solchen Ebenmaß, dass …

„Und wie ich den lieben werde! Er soll nur halt endlich kommen!“

Wieder ihr Lachen, ein leiseres jetzt. Kein Blitz, nur ein Glimmen. Und seine Stimme, jetzt fast greifbar, schwieg dazu.

„Ja, ich höre seine Musik. Schon seit ich ein Kind war, höre ich die! Immer wieder begegnet sie mir. Manchmal aus heiterem Himmel, manchmal nicht. Weißt, ich glaube, diese Musik ist sogar der Grund, warum ich das alles hier überhaupt angefangen hab.“

„Ist sie schön, diese Musik?“

„Sie ist vollendet. Sie ist alles! Sie ist so überirdisch und vollkommen wie nichts anderes. Aber es ist mir unmöglich, sie auch nur im Ansatz aufzuschreiben, sie irgendwie festzuhalten. Wie oft hab ich das versucht! Weißt du, ich bin so sicher, dass diese Musik von einem Mann kommt. Von genau diesem Mann! Und dass genau dieser Mann zu mir gehört, oder sogar ein Teil ist von mir. Von uns.“

„Das ist jetzt so schön gesagt worden. Danke dafür, Karla, so viele Male!“

„Geh, hör auf, es ist halt das, was es ist.“

„Ich glaube, du wirst das wunderbar machen.“

„Das hast du vorhin schon gesagt.“

„Das weiß ich.“

„Was meinst du denn genau damit?“

„…“

„Magst du mir nicht endlich einmal sagen, wie du heißt?“

„…“

„Gut, dann nenn ich dich halt ab jetzt Ferdinand. Ganz wienerisch. Wer weiß, ob du überhaupt von hier kommst? Hm, Ferdl?“

„…“