Gleichheit. Das falsche Versprechen

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Was Sklaven angeht, so kennen wir keinen Vorschlag eines antiken Autors, die Ungerechtigkeit dieser Situation anzuerkennen und Sklaven in die Bürgerschaft aufzunehmen. Falls es dazu doch kam, und das nicht nur in Sparta, sondern auch in anderen Städten, geschah das aus reiner Notwendigkeit; und zuweilen brachte es die betreffenden Staatswesen an den Rand des Bürgerkriegs. Bei Frauen dagegen lag die Sache anders. Verschiedentlich wurde die Möglichkeit diskutiert, Frauen gleiche Rechte zuzugestehen. Einen Beitrag leistete etwa der große Komödiendichter Aristophanes. In seiner Ekklesiazousai oder »Weibervolksversammlung« entwarf er eine imaginäre Polis unter der von Frauen bestellten Herrschaft von Frauen. Eigentum wäre dort stets Gemeinschaftsbesitz, die ökonomische Arbeit würde wie in Sparta von Sklaven geleistet. Innerhalb der Bürgerschaft würde sexuelle Exklusivität abgeschafft, so dass auch die hässlichsten Vertreter beider Geschlechter gleiche Chancen hätten, mit den bestaussehenden Individuen des anderen Geschlechts ins Bett zu gehen. Wahrscheinlich wollte Aristophanes mit diesem Stück die Idee der Gleichheit einschließlich der Gleichheit der Frau kritisieren, indem er sie bis ins Absurde überzeichnete. Auch Platon diskutierte recht ausführlich die Emanzipation der Frauen. Um es den Frauen zu ermöglichen, die Staatsangelegenheiten gleichberechtigt mitzugestalten und selbst als Wächterinnen mitzuwirken, schlug er vor, ihnen die gleiche Erziehung zukommen zu lassen wie den Männern. Wie so viele Feministinnen nach ihm wollte auch er sie von der Pflicht »befreien«, sich um die Kinder zu kümmern. Wahrscheinlich erschienen ihm diese Vorstöße gerecht, nützlich, ja sogar wesentlich, aber leider utopisch. Letzten Endes erklärte jedenfalls keine griechische Polis je die Frauen zu Vollbürgern oder dehnte den Begriff der Freiheit so weit, dass Frauen den Männern gleichgestellt gewesen wären.

Sowohl in Sparta als auch in Athen war die Gleichheit, in welcher genauen Form auch immer, stets exklusiv. Innerhalb jeder Polis galt sie nur für einen recht kleinen Teil der Bevölkerung. Nach außen hin wurde sie sorgsam gehütet, so dass es für Fremde extrem schwierig war, Zugang und Teilhabe daran zu erhalten. In Athen wurde das mit der Zeit sogar schwieriger statt einfacher. Gelegentlich gab es Versuche, den Kurs zu wechseln, die aber regelmäßig scheiterten.53 Im Hellenismus bildeten einzelne Städte lose Bündnisse und gestanden den Bürgern der Bündnispartner eingeschränkte Rechte zu. Wie heute die Europäische Union, kamen sie aber einer gemeinsamen Bürgerschaft nie auch nur nahe. Die Bürger verstanden sich nie nur als zufällig zusammengewürfelte Gruppe, sondern sprachen sich irgendeine Form einer gemeinsamen Abstammung zu.54 Die heilige Aufgabe jeder Polis bestand darin, dieses Erbe zu verteidigen, das ihr Kernstück darstellte, sie von den anderen unterschied und ihre Existenz rechtfertigte. Als Aristoteles seine Schüler aussandte, um die »Verfassungen« oder politeiai von nicht weniger als 158 Städten zu sammeln, meinte er damit nicht nur die jeweilige politische Struktur, sondern auch die Organisation ihres sozialen, kulturellen und selbst religiösen Lebens. Wäre das Material erhalten geblieben, so hätte es ein unvergleichliches Bild aller Aspekte der griechischen Zivilisation in allen signifikanten Städten ergeben – doch leider besitzen wir nur noch den Band über Athen.

Die interne Exklusivität bedeutete, dass innerhalb jeder Polis nur ein Teil der Bevölkerung gleiche Rechte genoss. Auch handelte es sich nicht um eine Demokratie nach heutigem Verständnis. Sowohl in der Antike als auch später gingen manche noch weiter und erklärten, der bestehende Grad an Gleichheit sei auf Kosten der Freiheit (in Sparta) und der Stabilität (in Athen) gegangen. Für andere war sie ohnehin nur eine Täuschung; nämlich lediglich ein Instrument, über das eine relativ kleine Gruppe von Menschen – erwachsene männliche Bürger – alle anderen beherrschte. Externe Exklusivität dagegen hieß, dass es strenge Grenzen gab, wie groß eine Polis werden konnte, ohne sich selbst preiszugeben. Diese Exklusivität ist ein wichtiger Aspekt, um zu erklären, warum die Stadtstaaten in außenpolitischen Belangen und im Krieg nur begrenzten Erfolg hatten und schließlich anderen, größeren und mächtigeren Staatsformen wichen. Die Gleichheit war hier erstmals in der Geschichte als bewusstes und in gewissem Ausmaß auch umgesetztes Ideal aufgetaucht, doch am Ende geriet diese Flamme ins Flackern und erlosch. Völlig vergessen aber wurde sie nie, und ihre Wirkungsmacht ist bis heute omnipäsent.

KAPITEL 3

Nicht nur in Griechenland kam es zum Aufstieg und zur Entwicklung von Stadtstaaten, in diesem Kontext also unabhängigen, urbanisierten Siedlungen. Es gab sie auch im antiken Mittleren Osten, in Asien – vor allem entlang der Seidenstraße – und in Mittelamerika. Die meisten wurden als erbliche Häuptlingstümer oder unbedeutende Monarchien regiert. Das Buch Josua erwähnt sie zu Dutzenden und nennt ihren jeweiligen melech (hebräisch »König«). In Sachen Gleichheit unterschieden sie sich offenbar nicht signifikant von den Häuplingstümern, die wir bereits diskutiert haben. Einige entwickelten freilich auch egalitärere Systeme: Das Alte Testament erwähnt die »Fürsten der Philister«, so genannte seranim.1 Es wurde vermutet, dass die Griechen um 800 vor Christus möglicherweise mit den Strukturen der phönizischen Seefahrer-Stadtstaaten an der Küste des heutigen Libanon vertraut waren und einige ihrer politischen Ideen von dort übernahmen.2 Allerdings ist über diese Stadtstaaten so wenig bekannt, dass in der Frage weiter Unklarheit herrscht.

Viel später hatte Karthago, ebenfalls eine phönizische Stadt, eine Art Senat sowie Beamte, die so genannten Sufeten. Das aktive und passive Wahlrecht scheint freilich auf die Angehörigen einer vermögenden Aristokratie beschränkt gewesen zu sein.3 Vielleicht hätte Karthago das Potenzial gehabt, sich in ein anderes und viel größeres Staatswesen zu entwickeln; doch da es von Rom besiegt und zerstört wurde, womit auch jegliche schriftlichen Quellen, die vielleicht vorhanden waren, vernichtet wurden, werden wir das nie wissen. Alle anderen Stadtstaaten blieben, weil sie sich weigerten, ihr Bürgerrecht auszuweiten und Außenstehende gleichberechtigt aufzunehmen, relativ klein. Viele hatten wahrscheinlich nicht mehr als ein paar hundert Bürger. Früher oder später fielen sie Staaten zum Opfer, die nach anderen Prinzipien organisiert und sehr viel größer waren als sie. Die einzige Ausnahme zu dieser Regel war Rom. Die kleine Stadt am Tiberufer manövrierte sich aus eigener Kraft über Jahrhunderte vorwärts und wuchs zu einem der größten und mächtigsten Imperien aller Zeiten heran. Daher lohnt es sich, genauer zu betrachten, ob und wie sich in Rom Gleichheit entwickelte – zumal, wie unsere politische Terminologie es beweist, Roms Schatten bis weit in die Gegenwart hineinreicht.

Wie Griechenland in seinem dunklen Zeitalter war auch Italien in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends vor Christus von Stämmen mit ihrem jeweils eigenen Anführer oder ihren Anführern bewohnt. Einige dieser Stämme existierten mehr oder weniger unverändert bis in historische Zeiten fort; andere entwickelten offenbar urbane Zentren, in denen sich das politische, religiöse und ökonomische Leben konzentrierte. Im Rückblick gesehen war das bedeutendste urbane Zentrum Rom selbst. Ursprünglich unterstand es Königen, die ihre Gewalt an ihre Söhne weitergaben. Doch als 509 vor Christus der letzte von ihnen, Tarquinius Superbus, gestürzt wurde, wandelte sich die Stadt in eine Republik. Dabei folgte Rom weder dem spartanischen noch dem Athener Weg zu größerer Gleichheit zwischen seinen Bürgern. Stattdessen blieb es für etwa 450 Jahre nach der Abschaffung der Monarchie ein System, das man nur als Aristokratenrepublik bezeichnen kann.

Diese Republik kannte weder das spartanische Prinzip der sozio-ökonomischen Gleichheit noch das Athener System der isonomia, mit dem Perikles sich brüstete. Vielmehr war die Bevölkerung in drei Klassen unterteilt, nämlich Senatoren, Ritter und das gemeine Volk. Die Zugehörigkeit zu den Oberklassen bestimmten Abstammung und Vermögen. Auch die moralische Führung war von gewissem Belang, denn die Zensoren, die alle fünf Jahre die Listen prüften, konnten streichen, wen sie in dieser Hinsicht missbilligten. Von Gleichheit vor dem Gesetz konnte allerdings keine Rede sein. Die Gräben zwischen den Klassen waren derart breit, dass es für einen Angehörigen der unteren Klassen praktisch undenkbar war, einen der oberen zu verklagen. Außerdem blieben die demütigendsten Strafen insbesondere der Senatorenklasse von vornherein erspart.

Die politischen Unterschiede waren sogar bedeutender. Wie die griechischen Stadtstaaten wurde die römische Republik von gewählten Magistraten regiert, die ein Jahr lang im Amt waren. Wie in den griechischen Stadtstaaten wurden sie von der Volksversammlung bestimmt. Ferner traf die Volksversammlung die wichtigsten Entscheidungen, erließ also auch Gesetze und entschied über Krieg und Frieden. Tatsächlich hatte Rom nicht eine, sondern zwei und später sogar drei unterschiedliche Volksversammlungen. In den beiden älteren, der comitia tributa und der comitia centuriata, stimmten die Bürger nicht einzeln ab, sondern nach Stämmen oder Zenturien, denen sie angehörten. In beiden Fällen war das so eingerichtet, dass zunächst die Mitglieder bestimmter Stämme und dann die Angehörigen der Oberklassen bevorzugt wurden. Damit hatten einige Personen sehr viel mehr Stimmgewicht, als ihnen ihrer Anzahl nach zugestanden hätte.

Wie der Name schon sagt, war auch die dritte Volksversammlung, die comitia plebis tributa, die eigens für das gemeine Volk gegründet wurde, nicht nach dem Prinzip ›ein Mann, eine Stimme‹ organisiert. Allerdings wissen wir nicht genau, wie die exakten Abläufe waren oder inwieweit sich das System im Lauf der Zeit womöglich veränderte. Ursprünglich konnten nur die Senatoren, die so genannten patres conscripti (»eingetragene Väter«) Führungspositionen beanspruchen. Als später prominente nicht-senatorische Familien in den Senat aufrückten, änderte sich das. Die beiden Elemente verschmolzen allmählich, aber weiter ging der Prozess nicht. Über die gesamte republikanische Zeit hinweg blieb die politische Macht fest in Händen der Aristokratie, insbesondere des Senats, der sich wie der Athener Areopag und (vielleicht) ein ähnliches Organ in Karthago aus den ehemaligen Magistraten zusammensetzte.

 

Heute klingen Ausdrücke wie »Aristokratenrepublik« unschön nach Exklusion und dem Allerschlimmsten: nach ungleichen Rechten. Viele antike Historiker aber, besonders Polybios und Livius, die in dieser Hinsicht dem Aristoteles folgten, sahen das ganz anders. Ihrer Meinung nach diente Roms »gemischte Verfassung« mit Elementen von Monarchie, Aristokratie und Demokratie dazu, alle drei zu zügeln und sie vor Exzessen zu bewahren. Die Verfassung war alles andere als ein Handicap, sondern vielmehr das wahre Geheimnis für den außerordentlichen Erfolg der Stadt. Die Ungleichheit war so fest verwurzelt und so selbstverständlich, dass sogar populäre Reformer wie die Gracchen und Julius Caesar selbst hocharistokratischen Familien entstammten, nämlich den Corneliern beziehungsweise den Juliern. Erstere hatte mehr Magistrate gestellt als jedes andere Geschlecht; und die Julier führten ihre Abkunft gar bis auf den trojanischen Ältesten Anchises und die Göttin Venus zurück.4 Zu den wenigen wichtigen Ausnahmen gehörte Gaius Marius, der große Politiker, Reformer und Feldherr vom Ende des 2. und Beginn des 1. Jahrhunderts vor Christus. Laut Plutarch war sein Vater Tagelöhner. Doch da Marius sich in seiner Heimatstadt Arpinum, dem heutigen mittelitalienischen Arpino, um ein Amt bewarb und sich in die Elite der Stadt einheiratete, wurde das wahrscheinlich fälschlicherweise und aus politischen Gründen behauptet.5

Die relativ scharfen Klassentrennungen, die für Rom typisch sind, erklären auch die Rolle einer anderen Form der sozialen Organisation, nämlich des Klientelismus; in Griechenland war dieser, wenn überhaupt, nur in sehr viel schwächerer Form bekannt. Klienten waren weder Verwandte noch Sklaven. Sie gehörten nicht zum Haushalt ihres Patrons und waren selbst freie Bürger; einzige Ausnahme dieser Regel waren freigelassene Sklaven, die mit der Zeit immer wichtiger wurden. Klienten gingen ein halb-formales Treueverhältnis (fides) mit einer Person ein, die reicher und mächtiger war als sie selbst. Beide Parteien sollten einander mit Geld, politischem Einfluss (von oben nach unten), bei Wahlen (von unten nach oben) und vor Gericht unterstützen. Mehrere Feldherren des 1. Jahrhunderts vor Christus hatten sogar so viele Klienten, dass sie mit ihnen ganze Armeen oder zumindest den harten Kern davon aufstellen konnten.6 Der Klientelismus war für beide Seiten derart nützlich, dass er aus der Republik auch in das Kaiserreich übernommen wurde; von Augustus an versuchten sich viele Kaiser als patrones des gesamten Imperiums darzustellen.

Wie in allen antiken Staaten und Stadtstaaten beschränkte sich die Gleichheit in Rom, sofern sie überhaupt existierte, auf erwachsene männliche Bürger. Ausgeschlossen war der beträchtliche Bevölkerungsanteil an Frauen, Kindern, Sklaven und natürlich Fremden. Wie Machiavelli schrieb, unterschied sich Rom freilich in einem Punkt von allen anderen Machtzentren, und das war seine Fähigkeit zur Expansion. Der Prozess begann Anfang des 5. Jahrhunderts vor Christus. Er verlief großenteils mittels Krieg, der von Rom nur allzu gern betrieben wurde. In der Regel zerstörten die Römer weder die italischen Städte, die sie besiegt hatten, noch versklavten sie ihre Bewohner. Genauso wenig aber integrierten sie ihre ehemaligen Feinde in ihr eigenes Staatswesen, billigten ihnen also nicht etwa die Bürgerschaft zu. Ihr politisches Genie bewiesen sie stattdessen, indem sie mit ihnen Bündnisse schlossen und ihnen Teilrechte gaben wie conubium (das Recht, römische Bürger zu heiraten) und commercium (Handel). Technisch galten die so behandelten Gemeinwesen als foederati, also als Bundesgenossen oder Verbündete. Sie durften demnach keine unabhängige Außenpolitik mehr gestalten, sondern mussten diese praktisch vollständig dem römischen Senat überlassen.

Eine weitere häufige Maßnahme Roms war die Gründung von Kolonien in eroberten Gebieten. Mit diesem System konnte Rom eine sehr viel größere Zahl von Bürgern und damit auch Soldaten halten als jedes andere zeitgenössische mediterrane Staatswesen. Schätzungen zufolge hatte die Republik 225 vor Christus etwa 770 000 Männer im wehrfähigen Alter unter ihrer Kontrolle. Davon waren 273000 Vollbürger, 85000 latinische Kolonisten und 412000 Bundesgenossen.7 Das System war komplex und basierte explizit auf Ungleichheit. Weiter ins Detail reichen unsere Kenntnisse kaum; höchstwahrscheinlich folgten die Römer ihrem berühmten Prinzip von divide et impera. Doch immerhin war das System so stabil, dass es der tödlichen Gefahr durch die Invasion Hannibals Ende des 3. Jahrhunderts standhalten und sie bewältigen konnte. Erst 90 vor Christus, also Jahrhunderte nach der römischen Machtübernahme auf der gesamten Halbinsel, wachten schließlich die verschiedenen italischen Verbündeten auf und forderten die vollen Bürgerrechte. Der daraus folgende Bundesgenossenkrieg (bellum sociale) wurde einmal mehr erbittert geführt. Am Ende bekamen die Verbündeten, was sie gefordert hatten.

Mit der Zusammenführung von Bürgern und Bundesgenossen sowie der Herstellung bürgerlicher und politischer Gleichheit zwischen ihnen war aber die Geschichte noch nicht zu Ende. Im Lauf des 2. Jahrhunderts vor Christus hatte die sozio-ökonomische Ungleichheit zugenommen. Die Hauptgründe dafür waren Roms unzählige Kriege, die riesigen Soldatenzahlen, die diese Kriege erforderten, und die ungleiche Verteilung der großen Beutegewinne die in die Stadt flossen. Während einige wenige sagenhaft reicht wurden, ging es vielen sehr viel schlechter als zuvor. Sie waren gezwungen ihr Land an die Großgrundbesitzer zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen, wo sie zum trägen Proletariat mutierten. Um 130 führten diese Probleme erstmals zu ernsthaften politischen Spannungen, die sich zu einer ganzen Folge von Bürgerkriegen auswuchsen. Diese dauerten etwa hundert Jahre, bis Augustus ihnen mit der Einführung des Prinzipats schließlich ein Ende setzte. Im Ergebnis stand dabei erneut ein Einzelner in schwindelnder Höhe über allen anderen Allein schon der Titel, den Augustus annahm, princeps, also »der Erste« oder »der Vorrangige«, lässt daran kaum einen Zweifel.

Unter Augustus und seinen Nachfolgern entwickelte sich Rom schrittweise zur Monarchie. Was immer es an Gleichheit bis dahin gegeben hatte, wurde nun ausgehebelt, und zahlreiche Maßnahmen vertieften zusätzlich den Graben, der die Kaiser jetzt sogar noch von ihren höchsten Untergebenen trennte; so durften zum Beispiel schon bald nur noch sie und ihre Verwandten Triumphzüge abhalten. Einige Kaiser taten das auch, obwohl sie nie im Feld gestanden hatten. Einige wurden nach ihrem Tod als Götter verehrt und/oder vergöttlicht. Im 3. Jahrhundert nach Christus ließen sie sich zunehmend auch zu Lebzeiten schon als Götter behandeln. Je erhabener und absolutistischer die Kaiser wurden, desto mehr gingen die vielleicht einmal bestehenden Rechte ihrer Untertanen verloren. Bis Ende des 2. Jahrhunderts und zumindest unter »guten Kaisern« wie Augustus, Vespasian und den Adoptivkaisern blieb zumindest der äußere Anschein intakt, dass der Senat und die dort vertretenen senatorischen Geschlechter die Herrschaft mit dem Kaiser teilten. Danach aber blieb nicht einmal mehr dieser Anschein gewahrt, da Feldherren miteinander fortwährend im Streit um den Thron lagen, die häufig sogar niederen Klassen angehörten und aus entlegenen Teilen des Reiches stammten.

Ebenfalls von Augustus an bestellten sich die Kaiser sehr häufig als pontifex maximus, also als oberste Priester. In dieser Eigenschaft stellten sie die Verbindung zwischen ihren Untertanen und der Welt der Götter her. Die Ungleichheit, die aus der Erhebung eines Mannes über alle anderen resultierte, verstärkte sich noch durch Entwicklungen am Fuß der Gesellschaftspyramide. Da nun jeder und alles zuallererst zum Untertan des Kaisers wurde, verloren Unterschiede zwischen Bürgern und Nichtbürgern an Bedeutung. Die so genannte Constitutio Antoniniana von 212 nach Christus, die allen Einwohnern des Reichs die Bürgerschaft verlieh, setzte diesem Prozess ein logisches Ende. Auch die einst grabentiefen Unterschiede zwischen Freien und Sklaven wurden tendenziell nivelliert. Leicht aufgebessert wurde sogar der Status der Frauen, die in praktisch allen Gesellschaften vor und nach Rom als dem Mann unterlegen galten und sich ihm unterzuordnen hatten.8 Die Form der sozialen Pyramide hatte sich verändert. Zumindest in der Theorie verjüngte sich ihre Spitze nicht mehr nach oben, sondern sie war jetzt ein mächtiger Pfeiler, auf dem, wie Nelson auf seiner Säule am Londoner Trafalgar Square, ein einzelner Mann stand. Um ihn herum erstreckte sich ein Terrain, das zu den Seiten hin immer flacher wurde. Praktisch gingen die Dinge freilich nicht ganz so weit. Bei aller Machtbefugnis konnte keine Einzelperson die breite Masse beherrschen, ohne auf die Hilfe von großen und kleinen Partnern zurückzugreifen. Um sie anzuwerben und bei der Stange zu halten, musste man ihnen in irgendeiner Form eine Gegenleistung bieten. So existierten denn weiterhin die größten Unterschiede in Macht, Rang und Besitz. Wenige Einzelne verwalteten Provinzen, kommandierten Armeen, sammelten gewaltige Reichtümer an und schrieben Bücher oder ließen sich Bücher schreiben, in denen ihre Heldentaten gepriesen wurden. Zahllose andere besaßen nichts, beackerten wie das Vieh die Felder und starben, praktisch ohne eine Spur zu hinterlassen. In Rom wie in anderen Reichen bemühten sich manche Kaiser nach Kräften um Gerechtigkeit. Wir kennen etwa eine Stele, die einer der frühesten Kaiser überhaupt, der »wohlerkorene« Hammurabi um 1772 vor Christus errichtete; dort heißt es, mit dem Erlass einer Rechtssammlung solle sichergestellt werden, dass die Starken die Schwachen nicht länger unterdrückten.9 Und doch trennte der Kodex wie viele ähnliche Zeugnisse sehr scharf zwischen Adligen einerseits und gemeinem Volk und Sklaven andererseits sowie zwischen Männern und Frauen. Bei einem Mord zum Beispiel war das zu entrichtende Blutgeld dementsprechend variabel.

Nur in zweierlei Hinsicht herrschte in Rom wirklich Gleichheit. Zunächst vertraten die Anhänger der Stoischen Philosophenschule die Meinung, alle Menschen seien von Natur aus gleich. Alle, auch Sklaven, entsprängen demselben Samen. Sie lebten unter demselben Himmel, hätten biologisch den gleichen Aufbau und dieselben Bedürfnisse und seien gleich vor dem Gesetz der Natur.10 Niemand sei so niedrig geboren, so erniedrigt, dass er (oder sie) ab initio unfähig zur Tugend sei.11 Das sollten die Menschen sich klar machen und versuchen, einander zu helfen und so freundlich miteinander umzugehen, wie die Umstände es erlaubten. Allerdings unternahmen die Stoiker nie irgendeinen konkreten Versuch, die existierende politische, soziale und ökonomische Ungleichheit abzuschaffen. Das wäre auch kaum möglich gewesen – schließlich entstammten sie selbst meist der Oberklasse und hatten an ihrer Spitze mit Mark Aurel sogar einen Kaiser! Für die zweite Gleichheit sei Caligula zitiert (Regierungszeit 37–41 n. Chr.), der stolz war auf seine Schamlosigkeit und darauf, dass er kein Blatt vor den Mund nahm: Der Kaiser, ließ er verkünden, könne jederzeit alles Mögliche mit egal wem anstellen. Und das konnte auch heißen, dass er ihm oder ihr die Kehle durchschneidet.12 Nicht einmal Gründe musste er dafür anführen. In anderen Reichen war die Lage in der Regel ähnlich.

Abgesehen von den hellenistischen Monarchien mit ihrer Beschränkung auf die Polis sowie von China, auf das wir später zu sprechen kommen, waren die meisten anderen Imperien weltweit offenbar eher weniger urbanisiert als Rom. Anders als Rom entwickelten sich diese Reiche direkt aus Häuptlingstümern. Den Status des Stadtstaats übersprangen sie; daher fehlten ihnen selbst entfernte Erinnerungen an dessen Merkmale, die sie der Gegenwart hätten gegenüberstellen können, wie es der römische Historiker Tacitus in seinen leicht nostalgischen Schriften tut. Ähnlich wie in Teilen Afrikas im 19. Jahrhundert waren einige Häuptlingstümer so mächtig und gut organisiert, dass sie durchaus als Königreiche zu bezeichnen sind.13 Soweit wir zurücksehen können, nannte sich etwa der mächtige afrikanische Herrscher von Äthiopien stets »Kaiser«. Außerdem ist es kein Zufall, dass er Christ war. Wie bei einigen seiner weniger berühmten Pendants in Westafrika, die zum Islam konvertierten, war seine Macht eng mit der Verwendung der Schrift zu religiösen Zwecken verknüpft. Ob die Unterschiede zwischen den drei Typen der Monarchie, also Häuptlingstum, Königreich und Kaiserreich, prinzipieller oder rein gradueller Natur sind, wurde immer wieder ausführlich erörtert. In Sachen Gleichheit handelt es sich aber wohl eher um graduelle Differenzen.

 

Wir brauchen die Entwicklung dieser Staatswesen, die teils zu den mächtigsten aller Zeiten gehörten, hier nicht bis ins Detail zu verfolgen. Es genügt festzustellen, dass wir, wo immer wir hinsehen, Souveräne finden, die alle verfügbaren politischen und militärischen Methoden nutzen, um andere Völker oder Stämme zu unterwerfen und sich selbst zu Herrschern zu machen. Manchmal war die Bevölkerung, über die dergestalt Herrschaft ausgeübt wurde, relativ homogen wie in Ägypten vor der persischen Eroberung im 6. Jahrhundert vor Christus oder wie in China. Abgesehen von der schlecht erforschten Epoche, in der Ägypten unter der Herrschaft der Hyksos stand und der Zeit, in der in China die Mongolen und Mandschu herrschten, gab es keine größeren kulturellen Unterschiede zwischen dem Kaiser und seiner Elite einerseits und der Masse seiner Untertanen andererseits. Noch mehr gilt das für Japan, ein außergewöhnlich homogenes Reich, das auch eine gänzlich gesonderte Kultur herausbildete.14

In den meisten übrigen Imperien war die Situation eine andere. Im alten Mesopotamien gab es unter anderem die Akkadier, Assyrer und Babylonier. Wiederholt entstanden Reiche, expandierten, herrschten eine Zeitlang und kollabierten wieder. Ähnlich bekämpften einander im heutigen Iran Elamiter, Perser, Parther und andere Völker, siegten und herrschten ein paar Jahrhunderte lang.15 Vor den Azteken gab es die Tolteken und vor ihnen die Olmeken. Die Azteken selbst herrschten über ein ganzes Gefüge unterworfener Völker. Vielen von ihnen widerstrebte das, und sie erwarteten nichts sehnlicher, als eine Gelegenheit, sich aufzulehnen und das blutige Joch abzustreifen16 – einer der Gründe, weshalb Cortés und seine Handvoll Männer sie so leicht besiegen konnten. Auch die Inka waren Eroberer; mit ihrem Stammesnamen bezeichneten sie ein Reich, das ein komplexes Mosaik aus Sprachen, Kulturen und Völkern war.17 Dasselbe gilt für das Mogulreich, dessen Fundamente genau zu der Zeit gelegt wurden, als auf der anderen Seite der Welt das Aztekenreich unterging.18 Ebenfalls ähnlich strukturiert war das Osmanische Reich. Seine größte Ausdehnung erreichte es zwischen 1500 und 1700, der Kollaps kam erst am Ende des Ersten Weltkriegs. Dass Gleichheit dort völlig unbekannt war, ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass man die Hohe Pforte im englischsprachigen Europa als »the Unspeakable Turk« (»unsäglicher Türke«) bezeichnete.

Rückhalt suchten die meisten Kaiser bei der Religion und beanspruchten für sich irgendeine Form göttlicher Abstammung. Mindestens aber sahen sie sich von Gott eingesetzt (Gottesgnadentum) und standen den religiösen Institutionen ihres Reichs vor. Der Pharao galt als Sohn des Amun-Re. Echnaton, der etwa von 1353 bis 1336 vor Christus Pharao war, versuchte stattdessen, den Gott Aton durchzusetzen. Doch das Experiment scheiterte, und nach seinem Tod wurde es schnell aufgegeben. Ohnehin versuchte auch er nicht, größere Gleichheit herzustellen, indem er etwa auf den göttlichen Status des Herrschers verzichtet hätte – dieser Gedanke wäre Echnaton nie gekommen. Ihm ging es lediglich darum, eine Gottheit durch eine andere zu ersetzen, die er für seine Zwecke für geeigneter hielt.19 Viele Reliefs zeigen mesopotamische Herrscher unterschiedlicher Epochen und Nationalitäten, die praktisch von gleich zu gleich mit ihren Göttern konversieren. Um sicherzustellen, dass der Betrachter die beiden nicht verwechselt, werden manche Gottheiten sitzend dargestellt, andere tragen ein Flügelpaar. Außerhalb des Mittleren Ostens ging es ähnlich zu. Der Titel des Inka-Kaisers, Sapa Inka, wird übersetzt als »Kind der Sonne« oder auch »oberster Anführer«. Japans Kaiserhaus soll von der Sonnengöttin Amaterasu begründet worden sein. Bis vor kurzem war der Kaiser tatsächlich noch eine Gottheit (Kami); noch heute firmiert er als Tennō hei-ka, »Seine Majestät, der himmlische Souverän«.

Eine der bedeutendsten und langlebigsten offiziellen Ideologien zur Untermauerung der Herrschaft und Rechtfertigung der ungleichen Macht, die einige Menschen über andere ausübten, war der chinesische Konfuzianismus. Anders als die meisten anderen Zivilisationen kannte China keine höchste Gottheit; in gewissem Sinn hatte es gar keine Götter. Demnach beanspruchten die chinesischen Kaiser für sich keine göttliche Abkunft, sondern trugen den Titel »Sohn des Himmels« (Tianzi) und beanspruchten die Herrschaft über »Alles unter dem Himmel«. So wie Konfuzius das Universum beschrieb, war alles, was unter dem gesamten Himmel wohnt, Teil einer einzigen, weitverzweigten Familie. Innerhalb dieser Familie hatte jeder und alles seinen ebenfalls durch himmlisches Mandat bestimmten Platz. Zeitgenossen hatten die Pflicht, die Ahnen zu respektieren, Untergebene ihre Vorgesetzten, die Jungen die Alten und Frauen die Männer.20 All diese Pflichten garantierten auch eine Gegenleistung: Dafür, dass sie geehrt, bedient und ernährt wurden, gewährten die Oberen den Untergebenen Führung, Schutz und Güte. Konfuzius selbst betonte, diese Reziprozität – »Was du selbst nicht wünschest, tu nicht an andern« – bilde das Herzstück seiner Lehre.21

In diesem System war der zentrale Wert nicht etwa Gleichheit, sondern Harmonie. Das soziale Leben sollte auf der Erkenntnis ruhen, dass alle Menschen (und laut einigen Anhängern des Meisters auch alle Dinge, was aber für unsere Belange weniger wichtig ist) im Leben ihre eigene Stellung haben. Dementsprechend sollten sie behandelt werden und andere behandeln. Harmonie meinte also tatsächlich bewusst nichts anderes als die Ungleichheit, die die Natur erschaffen hatte und die eine wesentliche Voraussetzung für jede Zivilisation war. Gesetze oder eher Verhaltensregeln waren nicht formalisiert, sondern mussten bei den Menschen in Herz und Verstand verwurzelt werden. Das Mittel dazu waren guter Wille, Vorbild und Erziehung, nicht etwa Verbote und Strafen. Das wiederum spiegelte die Überzeugung, dass jeder, so niedrig seine Stellung im Leben auch war, das Potenzial zur Tugend in sich trug. Zumindest in diesem Sinne war dann auch jeder gleich geboren.

Gehen wir von seiner Historizität aus, so lebte und wirkte Konfuzius kurz vor 500 vor Christus in der Zeit der Streitenden Reiche. Jahrhunderte später wurde seine Lehre zur offiziellen Reichsideologie; wegen der Betonung von Harmonie, Pflicht und Hierarchie war sie dazu auch gut geeignet. Konfuzius selbst war genau darauf bedacht, Offizielle von unterschiedlichem Rang auch verschieden zu behandeln.22 140 vor Christus wurde ein Prüfungssystem auf Grundlage seiner Ideologie eingeführt, das jeder Bewerber für ein Amt im Kaiserreich durchlaufen musste. Dieses System war so erfolgreich, dass es zweitausend Jahre Bestand hatte. Erst während der Kulturrevolution ordnete Mao Zedong an, alle Chinesen sollten »Konfuzius kritisieren«, und zwar wegen der Unterwürfigkeit, die er verlangte. Diese Kritik war auch insofern berechtigt, als der Weise recht explizit seine Lehre an die Elite richtete und nicht an »das Volk«.23 Über dieses nämlich hatte Konfuzius lediglich zu sagen, es müsse fügsam an seinem Platz gehalten werden. Doch so mächtig Mao auch war, sein Wünschen half nicht: Bis heute ist der Konfuzianismus in China so einflussreich wie eh und je.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?