Gleichheit. Das falsche Versprechen

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Ebenfalls nicht gleichgestellt waren die perioikoi oder Periöken, wörtlich »die um das Haus herum wohnen«. Sie waren frei, aber nicht gleichberechtigt; zwar dienten sie im Heer und später auch zu Schiff, aber sie durften weder Vollbürger heiraten noch besaßen sie politische Rechte.20 Doch damit noch nicht genug: In mehreren Kriegen errang Sparta im Lauf des 6. Jahrhunderts schrittweise die Herrschaft über die gesamte Peloponnes. Wahrscheinlich über ein System unterschiedlicher Abkommen, wie es später auch die Römer nutzten, um zunächst Latium und dann Italien insgesamt zu beherrschen, wurde es zum Zentrum des Peloponnesischen Bundes. In unseren Quellen, die überwiegend aus dem mit Sparta verfeindeten Athen stammen, werden die Spartaner gemeinhin als Lakedämonier bezeichnet. Offenbar bezog sich dieser Begriff unterschiedslos auf Vollbürger, Periöken und abhängige Bundesgenossen. Gelegentlich umfasste er sogar einige der Heloten, die als Träger und sonstige Zivilisten im Heer dienten.

Die Peloponnesische Gesellschaft war also als Pyramide mit sehr steilen Seiten und flacher Spitze organisiert. Von allen Mitgliedern der Hierarchie waren nur die Spartiaten, die diese Spitze stellten, in gewissem Sinne »gleich«. Und selbst bei ihnen implizierte Gleichheit, wie Lykurg selbst betonte, keine wirkliche Demokratie, also das Recht zur gleichen Mitwirkung an der Regierung. Wiederum nach Plutarch gab es ursprünglich 9000 Spartiaten und 30 000 perioikoi. Zählt man noch die abhängigen Bundesgenossen und die Heloten hinzu – ganz abgesehen von Frauen und Kindern –, so zeigt sich, dass die »Gleichen« nur einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtzahl stellten, nämlich gerade einmal drei bis vier Prozent. Außerdem war das der Anfang der Geschichte und nicht ihr Ende. Herodot zufolge war zu Beginn der Perserkriege 490 bis 480 vor Christus die Anzahl der Spartiaten auf 8000 gefallen.21 Plutarch berichtet, dass Lykurg vorsah, jedes neugeborene männliche Kind von den »Ältesten der Gemeindegenossen«, zu denen sein Vater gehörte, untersuchen zu lassen. Wurde es für gesund befunden, durfte es weiterleben und bekam eines der 9000 Flurstücke zugewiesen.22 Um die Anzahl der Spartiaten stabil zu halten, hätte durchschnittlich jeder Vater genau einen Sohn hinterlassen müssen. Ob das tatsächlich Lykurgs Absicht war und wie diese gegebenenfalls in die Praxis umgesetzt wurde, wissen wir nicht einmal im Ansatz.

Um die Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus beschleunigte sich das Tempo, in dem die Zahl der Spartiaten abnahm. Zitieren wir wieder den unverzichtbaren Plutarch: »Aber unter der Regierung des Agis [König Agis, gestorben 401 v. Chr.] strömte zuerst wieder das Geld nach Sparta hinein, und mit dem Gelde kam Habsucht und Streben nach Reichtum ins Land durch die Schuld des Lysandros [des spartanischen Feldherrn, der die Athener besiegte und den Peloponnesischen Krieg beendete], der zwar selbst unbestechlich war, aber das Vaterland mit der Gier nach Reichtum und Üppigkeit versuchte dadurch, dass er Gold und Silber aus dem Kriege heimbrachte.«23 Neben der Kriegsbeute kam zusätzliches Geld aus Persien. Damals subventionierte das persische Reich Sparta, und das machte es möglich, dass Gelder vom Staatshaushalt in private Taschen wanderten. Wer auf diese Weise reich wurde, konnte seinen Mitbürgern deren kleroi (Flurstücke) abkaufen und machten damit die einstigen Besitzer zu einem Proletariat ohne Landbesitz, womit ihnen auch die Bürgerrechte entzogen wurden. Die andauernden Kriege mit ihren vielen Todesopfern machten die Dinge noch schlimmer. Aristoteles zufolge konzentrierte sich in Sparta der Landbesitz zunehmend in der Hand reicher Witwen.

Zur Zeit von Aristoteles (384–322 v. Chr.) waren weniger als 1000 Spartiaten übrig. Laut Plutarch bestand das Heer der Lakedämonier in der Schlacht bei Leuktra 371 vor Christus aus 11000 Soldaten. Stimmt das, dann bildeten die Spartiaten selbst innerhalb des Heeres nur mehr eine kleine Minderheit. Bei Regierungsantritt von König Agis IV. im Jahr 244 vor Christus war die Zahl auf nur 700 gesunken. Im Verlauf des 3. Jahrhunderts wurden mehrere Versuche unternommen, diesen Niedergang aufzuhalten. Zu diesem Zweck wurden Periöken und Heloten emanzipiert, das Land beschlagnahmt und unter den Vollbürgern neu aufgeteilt. Doch wie unschwer zu erahnen, fanden diese Reformen nicht überall Zustimmung; einer von Agis’ Nachfolgern, Nabis (der von 207 bis 192 v. Chr. regierte), ließ sogar die letzten verbliebenen Mitglieder der beiden traditionellen Königsgeschlechter hinrichten. Zudem zwang er die Frauen in Sparta, die neu emanzipierten Männer zu heiraten.24 Doch das war zu wenig und zu spät.

Setzen wir den Zeitpunkt der wichtigsten Reformen etwa um 650 vor Christus an, so währte die Gleichheit in Sparta, soweit davon eben die Rede sein kann, bis gegen Ende des Peloponnesischen Krieges, also etwa 250 Jahre. Von da an begann ihr Niedergang. Einerseits kam neue Ungleichheit auf; andererseits hatte die Beibehaltung der Gleichheit, ohne die Zahl der homoioi zu erhöhen, fatale Auswirkungen auf die Macht des Staates. Am Ende war von der berühmten spartanischen Tapferkeit nichts übrig als eine Handvoll Jugendlicher. In einer eigenen, von Touristen besuchten Zeremonie ließen sie sich zu Tode peitschen.

Blicken wir jetzt von Sparta nach Athen. Hier stellen wir fest, dass die Gleichheit, die so genannte isonomia (wörtlich »Gleichheit vor dem Gesetz«), erst gegen Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus zu greifen begann. Wir assoziieren sie vor allem mit den Namen zweier berühmter Reformer, Solon (etwa 638 bis 558 v. Chr.) und Kleisthenes, der kurz vor Ende des 6. Jahrhunderts aktiv gewesen sein muss. Wie bei Lykurg betrafen Solons Reformen sowohl die Wirtschaft als auch die Politik – in unserem Kontext beides hochinteressant.

Die Reform, die damals wie später am meisten von sich reden machte, war die seisachtheia, wörtlich die »Lastenabschüttelung«.25 Was die Phrase bedeutet, ist nicht zur Gänze geklärt, doch scheint sie sich auf Landbesitz zu beziehen. Zuvor war Grund und Boden dem Athener Gesetz zufolge unveräußerlich, musste also im Besitz der Männer jedes Stammes bleiben. Ein ähnliches Arrangement wird im alttestamentarischen Buch Numeri beschrieben.26 Das Ergebnis war, dass Schuldner, die ihre Ländereien weder verkaufen noch verpfänden konnten, mit ihren Gläubigern eine Art proto-feudales Verhältnis eingehen oder gar sich und ihre Familien als Sklaven verkaufen mussten. Genau diese Praxis wurde wahrscheinlich durch die seisachtheia verboten. Ausstehende Schulden wurden erlassen, und wer bereits eine der genannten Beziehungen eingegangen war, wurde rückwirkend davon entbunden. Freilich wurde damit nicht etwa die Sklaverei abgeschafft. Sowohl die Athener als Einzelne als auch der Staat konnten weiterhin Sklaven besitzen und taten das auch. Neu war lediglich, dass diese Sklaven keine Athener Bürger mehr sein konnten. Von diesem Zeitpunkt an waren also alle Athener per Definition frei.

Damit extreme wirtschaftliche Ungleichheit gar nicht wieder aufkommen konnte, erließ Solon eine Reihe von Luxusgesetzen, nach denen die Reichen ihr Vermögen nicht offen zur Schau stellen konnten. Noch bedeutender war die Maßnahme, die Landfläche zu begrenzen, die ein Einzelner besitzen durfte. Dennoch bestand weiterhin die Gefahr einer urbanen »Lumpenproletarisierung« derer, die zwar jetzt frei waren, aber doch ihr Land verloren hatten. Offenbar aus diesem Gedanken heraus bemühte sich Solon, die Wirtschaft neu aufzustellen, und förderte Industrie, Handel, Schiffsverkehr und den Umlauf von Geld. Einige Althistoriker schreiben ihm auch die erste Einführung von Münzgeld zu. Das ist so wahrscheinlich falsch; doch um mit Aristoteles zu sprechen, es besteht kein Zweifel, dass ohne ungefähre wirtschaftliche Gleichheit und ohne eine starke Mittelklasse weder die griechische Demokratie noch die Polis selbst möglich gewesen wären.27

Die genauen Details sind umstritten, für uns aber nicht sonderlich relevant. Vor Solon war die wichtigste Institution der Areopag, ein Adelsrat, der wie der römische Senat alle ehemaligen Beamten vereinte. Die tägliche Regierungsarbeit oblag neun Archonten oder Herrschern. Sie dienten ein Jahr lang und wurden nach dem Stand ihrer Geburt und/oder ihres Reichtums ausgewählt. Wer freilich die Auswahl vornahm und die Prüfung durchführte, der die Archonten sich bei Beendigung ihrer Amtszeit zu stellen hatten, ist unklar. Offenbar war aber alles darauf ausgelegt, dass die wahre Macht beim Areopag und den »wohlgeborenen« Adligen blieb. Solon aber entzog dem Areopag die Kontrolle über die Archonten und übertrug sie der Volksversammlung. Möglicherweise verlieh er sogar den untersten Klassen das Stimmrecht, ganz gesichert ist das aber nicht. Außerdem richtete er ein neues Organ ein, den so genannten Rat der 400, der die Debatten und Abstimmungen der Volksversammlung vorzubereiten hatte. Auch ob hier die Angehörigen der niedrigsten Klassen vertreten waren, ist unklar.

Durch diese Maßnahmen wurde insgesamt die Regierungsbasis verbreitert – ein klarer Schritt in Richtung Gleichheit; allerdings wird auch argumentiert, dass Solons wirkliches Ziel der Erhalt der Ungleichheit war, weshalb er einigen Forderungen der unteren Klassen nachgab.28 Dazu unterteilte er die Bürger nach ihrem Besitz in vier Klassen. Je reicher jemand war, in desto höhere Ämter konnte er gewählt werden; damit waren die niedrigeren Klassen weiterhin ausgeschlossen. Nach seinen Reformen – die er wahrscheinlich nicht alle auf einmal durchführte – verließ Solon ganz wie vor ihm Lykurg seine Heimat. Kurz danach kam es zu inneren Unruhen, in deren Folge schließlich der Tyrann Peisistratos, ein Verwandter Solons, an die Macht kam. 527 starb Peisistratos nach 19jähriger Herrschaft und seine Macht ging auf seinen Sohn Hippias über. 514 wurde dieser von den zwei jungen Männern Harmodios und Aristogeiton ermordet. Eine zeitgenössische Inschrift rühmt sie dafür, das Land »isonomisch« gemacht, also die Gleichheit vor dem Gesetz eingeführt zu haben.29 Ein athenisches Trinklied, das bei einem sehr viel späteren Historiker überliefert ist, erklärt, den beiden, die Athen zu einem Ort der isonomia gemacht hätten, werde ewiger Ruhm zuteil werden.30

 

Einige moderne Historiker argumentieren, isonomia habe damals nicht mehr bedeutet als Gleichheit unter Adligen.31 Doch selbst in diesem Fall entwickelte sich das Konzept bald parallel zur Demokratie. Den nächsten wichtigen Schritt in dieser Richtung unternahm Kleisthenes. Mit ihm betreten wir die große Ära der Athener Geschichte und seine unvergleichlich großartigen Leistungen in allen Lebensbereichen. So wie die Solon zugeschriebenen Reformen wahrscheinlich mit dem Aufkommen des Hoplitenkampfes zusammenhingen, verdankten die Reformen des Kleisthenes viel der Entwicklung der athenischen Flotte und ihrer berühmten Kriegsschiffe, den Trieren. Für den Antrieb der Trieren wurden Tausende Ruderer gebraucht. Rekrutiert werden konnten diese nur unter denen, die dem Staat nichts zu bieten hatten außer ihre Muskelkraft. Als Gegenleistung mussten sie das Stimmrecht erhalten und in die Volksversammlung zugelassen werden – wenn das nicht bereits Solon so eingerichtet hatte. Auch die Gesetze, nach denen die Mitglieder der unteren Klassen keine Ämter übernehmen durften, wurden über Bord geworfen.32

Durch eine neue Gliederung der Bevölkerung nach Wohnort statt nach Phylenzugehörigkeit förderte Kleisthenes auch den Prozess, in dem alle Bürger zu einem einzigen Verband verschmolzen. Der Areopag verlor weiterhin an Macht zugunsten des Rats, dessen Mitgliedszahl Kleisthenes auf 500 erhöhte. 462 vor Christus, also vierzig Jahre nach Kleisthenes’ Reformen, verlor der Areopag auf Betreiben des radikal demokratischen Politikers Ephialtes schließlich fast alle seine noch verbleibenden Funktionen. Wohlgemerkt geschah das alles weder in einem Zug noch unwidersprochen; vielmehr waren die Reformen von heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen den »konservativen« Adligen und den »progressiven« Demokraten begleitet. Eines der Opfer dieser Kämpfe war Ephialtes, der 461 vor Christus ermordet wurde.

Ephialtes’ Nachfolger wurde der große Perikles. Unter seiner etwa dreißig Jahre andauernden Führung nahm die Athener Demokratie ihre klassische Form an. Ein Hinweis darauf war neben der isonomia (von iso, gleich, und nomos, Brauch, Sitte, Gesetz) das Aufkommen mehrerer eng miteinander verknüpfter Konzepte. Das waren unter anderem die isogeria, also das gleiche Rederecht aller Bürger vor den verschiedenen politischen Gremien; isopsephos, gleiches Stimmrecht für alle; und isokratia oder Gleichheit der Macht. Die isonomia selbst lässt Herodot einen persischen Adligen als »den schönsten aller Namen«33 bezeichnen. Demokratie war nie zuvor versucht worden. Und über viele, viele Jahrhunderte hinweg sollte dieser Versuch auch der einzige bleiben.

Der Souverän war die Volksversammlung. Nur sie hatte die Macht, Gesetze zu verabschieden, Bündnisse zu schließen, Krieg oder Frieden zu erklären und die wichtigsten Beamten zu bestellen (die übrigen wurden per Los bestimmt, so dass jeder männliche Bürger die Chance hatte, an der Regierung mitzuwirken). Alle Beamten dienten ein Jahr lang und mussten bei Amtsende vor der Versammlung Rechenschaft ablegen. Um sicherzustellen, dass die Mitwirkung in der Regierung wirklich allen offenstand, wurden die Beamten und Richter aus dem öffentlichen Haushalt bezahlt. Doch mehr noch -, die Athener verstanden die isonomia explizit auch als Gleichheit vor dem Gesetz. Sowohl zuvor als auch danach galten in den meisten Staatswesen für verschiedene Volksschichten auch verschiedene Gesetze; die Mächtigsten, ob Könige, Kaiser oder Tyrannen, waren sehr häufig an gar kein Gesetz gebunden. Nicht aber im klassischen Athen: Dort wurde absolute Gesetzestreue ohne Unterschied von allen gefordert.

Um die isonomia noch weiter zu treiben, durften keine Anwälte mehr verpflichtet werden. Zwar konnte niemand daran gehindert werden, sich seine Reden von anderen schreiben zu lassen, aber vor Gericht musste man für sich selbst sprechen. Dass das Gericht selbst unparteiisch und unbestechbar blieb, garantierte schon allein die große Zahl von Richtern, die jeden Fall begutachteten – nämlich 500 oder bei den wichtigsten Fällen sogar 1000. Auch sie wurden per Los bestimmt, wozu auch eine eigens zu diesem Zweck entwickelte raffinierte Losmaschine zum Einsatz kam. Alles das wirkte ganz nach Plan zugunsten der Gleichheit und einerseits gegen Vetternwirtschaft, andererseits gegen Korruption. Laut Thukydides kam so jeder Einzelne an sein »ebenmäßig Stück um Stück«.34

Damit gründeten sich also sowohl Sparta als auch Athen jede auf ihre Weise auf die Gleichheit. Dennoch, das zeigt allein schon die unterschiedliche Terminologie, die in den beiden Städten in Gebrauch war, waren sie alles andere als ähnlich. Die homoioi einerseits und die der isonomia Unterstellten andererseits entwickelten zwei radikal unterschiedliche politische, ökonomische, soziale und kulturelle Systeme. Der Kontrast durchdringt das gesamte Werk des Thukydides und insbesondere die Reden, die er verschiedenen Leitfiguren auf beiden Seiten in den Mund legt. Die bei weitem wichtigste davon ist die Gefallenenrede des Perikles, gehalten relativ früh im Peloponnesischen Krieg, in den er Athen führte und der in einer Niederlage endete.35 Gemeinsam zeichnen die Reden ein klares, wenn auch vielleicht allzu überzogenes Bild beider Systeme. Die Spartaner waren spezialisiert auf Kampf und Gewalt, die Athener dagegen vielseitig (obwohl auch selbst im Kampf keineswegs zu unterschätzen). Die Spartaner schotteten sich ab und lebten in relativer Isolation im Zentrum ihrer Halbinsel, während Athen Fremden aus aller Welt offenstand. Die Spartaner waren konservativ, die Athener immer auf der Suche nach Neuem. Die Spartaner waren zurückhaltend und diszipliniert, die Athener risikofreudig. Die Spartaner waren stur und abwartend, die Athener waren berühmt für ihre zupackende Auffassungsgabe. Obwohl die Athener tapfer und zur Kriegsführung durchaus in der Lage waren, war ihre Stadt alles andere als ein Heerlager. Vor allem aber, so Perikles, bestand die Athenische Demokratie anders als jede andere Polis aus freien Männern, die unter ihrer eigenen Herrschaft lebten. Das garantierte nicht nur allen Bürgern gleiches Recht, sondern ermöglichte es zugleich auch allen, die es wollten, dem Staat so weit zu dienen, wie es ihren Fähigkeiten entsprach.

Nehmen wir als wirklichen Startpunkt die Reformen des Kleisthenes kurz vor 500 vor Christus, so dauerte abgesehen von einer kurzen Phase um 400 die Athenische Demokratie und die isonomia, auf der sie beruhte, bis 338. In diesem Jahr geriet die Stadt unter die Herrschaft der Makedonier und büßte ihre Unabhängigkeit ein, blieb aber noch über Jahrhunderte ein Zentrum von Bildung und Kultur. Sowohl die spartanische als auch die Athener Version der Gleichheit wurde bereits von den Damaligen und wird bis heute ausführlich erforscht. Was dabei herauskam, wollen wir nun betrachten.

In den letzten rund 2500 Jahren fand Sparta allgemein und im Besonderen die Form der Gleichheit, die seinen Bürgern zustand, eine sehr gemischte Presse. Für Xenophon, einen Athener, der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts eine Zeitlang in Sparta lebte, war Lykurg »ein äußerst weiser Mann«, der mit seinen Gesetzen »seine Vaterstadt zu außerordentlichem Glück« führte;36 besonders begeisterte ihn das Militärsystem. Um 400 bewunderte auch Platon die Stadt, freilich weniger für ihre militärische Stärke als für ihre Form sozio-ökonomischer Gleichheit unter den homoioi, in der er eine Voraussetzung sowohl für Stabilität als auch für Gerechtigkeit sah. Daher nutzte er sie gar als Modell für das Staatswesen, das er in seinem größten Meisterwerk, der Politeia, entwarf. Auch Plutarch scheint Spartas Niedergang zu bedauern. Das zeigt sich nicht nur in seiner Lykurg-Vita, sondern auch in den vielen exemplarischen Aussprüchen »wahrer« Spartaner und Spartanerinnen in seinen Moralia.

Andere waren kritischer. Um ein paar der bekannteren Historiker zu nennen: Herodot stieß die Macht der beiden Könige auf, die ihre Stellung – ungewöhnlich für die griechischen Stadtstaaten – ererbten. In einer Passage, in der bereits die Gleichheitskritik unserer heutigen Zeit steckt, erwähnt er auch den »Despotismus« des Gesetzes, das nötig ist, um die Gleichheit durchzusetzen und zu erhalten.37 Ähnlich lässt sich Polybios, der griechische Historiker aus dem 2. Jahrhundert vor Christus, über die Verbrechen des Königs Nabis aus, als der versuchte, in Sparta wieder Gleichheit herzustellen und dafür reihenweise Menschen umbrachte.38 Etwa 1700 Jahre später befand Machiavelli, die Hauptschwäche Spartas im Vergleich zu Rom habe in seiner selbst nach griechischen Standards extremen Ablehnung gegen die Aufnahme Außenstehender in die Bürgerschaft bestanden. Gleichzeitig war Machiavelli aber klar, dass der Ausschluss von Fremden eine unbedingte Voraussetzung dafür war, die Gleichheit, wie sie zwischen den homoioi bestand, aufrechtzuerhalten. Sparta ruhte also auf einem Widerspruch, der nur in seinem Niedergang enden konnte – wozu es schließlich auch kam.39

Während der Aufklärung lehnten die meisten französischen und britischen Denker Spartas Militarismus ab. Wie Herodot (und Thukydides) vor ihnen verwiesen sie auf die Unterdrückung des Individuums durch den Staat, seine vollständige Unterordnung unter dessen Ansprüche und damit den Verlust der Freiheit sowie die Tendenz, Literatur und Kunst zu vernachlässigen. Natürlich war alles das zugleich Ursache und Folge der berühmten spartanischen Kombination von Genügsamkeit und Gleichheit, insbesondere auch der materiellen Gleichheit.40 Angesichts seines späteren Rufs als Urvater von Kommunismus wie Faschismus mag es vielleicht erstaunen, dass unter den Angreifern der spartanischen Version der Gleichheit auch der große Philosoph Georg Friedrich Hegel (1770–1831) war. Für ihn zerstörte sie die »freie Individualität«, die oberstes Ziel jedes Staatswesens war oder sein sollte.41

Doch diese Ansicht war keineswegs Gemeingut. Für Abbé Gabriel Bonnot de Mably (1709–1785), einen weiteren bekannten Autor der Aufklärung, sollte die von Lykurg auferlegte wirtschaftliche Gleichheit freie Menschen schaffen; natürlich nicht in dem Sinn, dass sie frei von den Forderungen des Staates waren, sondern frei von dem Streben nach Reichtum und damit offen für das Streben nach Tugend.42 Am bekanntesten freilich war Mablys Zeitgenosse Rousseau. Er benutzte Sparta als Waffe in seinem lebenslangen Kampf gegen die Ungleichheit, die er als typisches Merkmal der modernen Welt verstand. Die kraftvollen, scharfen Worte und Taten der Spartaner, schrieb er, seien dem Geschwätz der Athener eindeutig vorzuziehen.43

In einer Rede vor der Nationalversammlung im Mai 1794 würdigte sogar Robespierre das alte Sparta. Vor einem historischen Hintergrund aus Ungleichheit, Egoismus und Gier, so Robespierre, scheine Sparta »hell wie ein Stern«.44 Zwei Monate später wurde Robespierre abgesetzt und hingerichtet. Für das 19. Jahrhundert könnte die Liste der Publizisten, die ihrer Bewunderung für Sparta Ausdruck verliehen, unendlich weitergehen. Für viele Militaristen beidseitig des Rheins war die Gleichheit, wie sie in der Stadt herrschte, eine notwendige, wenn auch unter modernen Bedingungen impraktikable Voraussetzung für die Erlangung ihrer außergewöhnlichen militärischen Schlagkraft. Besonders in Frankreich hielten auch viele republikanische Radikale sie hoch in Ehren. In direkter Nachfolge Rousseaus sahen sie in Sparta den Inbegriff der bürgerlichen Tugend. Allzu häufig ließen sie sich dabei freilich nicht von der Tatsache stören, dass die Gleichheit erzwungen und das gesamte Leben bis ins Kleinste reglementiert war.

Wie so oft fügten die Nationalsozialisten der Sache ihre ganz eigene Note bei. Für sie war die Athener Version der Gleichheit, besonders in Begleitung der Demokratie, verweichlicht und unmännlich. NS-Historiker erklärten die Spartaner zu nordischen »Doriern« und behaupteten, sie hätten ihre Gleichheit und damit auch ihre Größe für die Zeit ihrer Blüte dadurch gesichert, dass sie die Angehörigen niederer Rassen ausschlossen und sich weigerten, sich in irgendeiner Form mit ihnen zu mischen.45 Für sie waren die homoioi also ein Vorbild. Die Heloten verdienten es, wie Hunde behandelt, versklavt, ausgenutzt, gar getötet zu werden. Bei all dem standen die Nationalsozialisten auf der ganz anderen Seite als Machiavelli. Tatsächlich bescherten sie ihrem Land das gleiche Schicksal wie Sparta, indem sie es in einen Krieg gegen die ganze Welt führten; und den konnten sie, so hervorragend ihre Wehrkräfte auch sein mochten, wegen ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit nicht gewinnen.

 

Im Fall Spartas werden Kritiken an den homoioi, ihrer Lebensführung und dem Preis, den sie dafür bezahlten, häufig von der Haltung bestimmt, die ihre Autoren zum Militarismus und der Kampfkraft des Stadtstaates einnehmen. Ob wir uns einig sind oder nicht, dass die Stadt von eunomia, also »guten Gesetzen« gelenkt wurde – die Gleichheit in Sparta war die, die normalerweise in Heerlagern herrscht. Persönliche Freiheit gab es nicht. Jeder wurde auf einen gemeinsamen Nenner erhoben oder, je nach Gesichtspunkt, erniedrigt. Das eröffnete ganz sicher keinen Weg in Richtung Demokratie; politisch gesprochen gab es keine gleichen Rechte. Bewertungen der Gleichheit in Athen dagegen lassen sich immer schwer trennen von der Bewertung der dortigen Demokratie. Schon bei Herodot werden die beiden häufig in eins geblendet und sogar miteinander verwechselt. In Athen führte die Gleichheit zu einer impliziten Demokratie, während die Demokratie wiederum die Gleichheit beförderte.

Lange vor Anatole Frances Ausspruch von »der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen«, kritisierten mehrere antike Autoren, die Athenische Gleichheit gehe nicht weit genug. Besonders prominent waren dabei Phaleas von Chalkedon und Hippodamos von Milet. Beide schrieben in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts vor Christus. Phaleas, den wir nur von Aristoteles kennen, wies darauf hin, es sei zwar eine gewisse bürgerliche und politische Gleichheit erreicht, sozio-ökonomische Gräben aber dadurch nicht geschlossen worden. Eine Ungleichheit auf diesem Gebiet sei das unvermeidliche Ergebnis einer Gesellschaft, die die Landwirtschaft und das System aufgab, nach dem jedermann sein eigenes Stück Land besaß und für seine eigene Familie aufkam, um stattdessen Industrie und Handel zu betreiben. Er schlug daher vor, alle Handwerker zu öffentlichen Sklaven zu machen, womit sie auch aus der Bürgerschaft ausscheiden würden. Vervollständigt wurde sein Entwurf durch zwei weitere Reformen: erstens die graduelle Umverteilung von Landeigentum durch die neue Regel, dass Mitgiften von Armen nur empfangen und von Reichen nur gespendet werden durften; und zweitens – vielleicht eine Anleihe aus Sparta – die gleiche Erziehung für alle.46 Dafür freilich seien alle anderen Arten von Gleichheit belanglos.

Viel bekannter als Phaleas war Hippodamos von Milet, ein Architekt, auf den die Anlage von Städten mit einem nach Rasterlinien verlaufenden Straßenverlauf zurückgeführt wird. Bis heute kann man seine Arbeit in den Straßen des Athener Vororts Piräus besichtigen. Wie in vielen modernen amerikanischen Städten spiegelte der Plan den Wunsch nach einer Art von Gleichheit zwischen den Einwohnern wider. Auch Hippodamus wollte das sozio-politische Ungleichgewicht durch die Einführung einer Art kommunalen Besitzes korrigieren. Der Unterschied war, dass die Bürgerschaft und damit das Recht sowohl auf Bürgerrechte als auch auf politische Teilhabe unberührt bliebe. Land, das weiterhin als bedeutendste Ressource galt, war stets Gemeinschaftsbesitz. Ein Teil davon sollte den Göttern gewidmet werden, ein zweiter die Soldaten ernähren, ein dritter die Bauern.47 Aristoteles wandte dagegen ganz zurecht ein, dass Hippodamus vergessen hatte zu sagen, wer das Land der Soldaten bebauen sollte. Zudem könne eine funktionale Aufspaltung von Soldaten und Bauern nie funktionieren. Der Plan sah nichts vor, um zu verhindern, dass Erstere die Bauern unterdrückten.

Auch in der Schule der Kyniker (von kynos, Hund) hoffte man im 4. Jahrhundert, Gleichheit herzustellen, indem man Besitz abschaffte. Allerdings handelte es sich dabei um die Gleichheit von Armen und Bettlern, die nichts besaßen und nichts zu verlieren hatten. Einer von ihnen war Diogenes, der Philosoph, der in einer Tonne lebte und Alexander den Großen bat, ihm aus der Sonne zu gehen; er sagte, die Menschen sollten sich durch nichts anderes voneinander unterscheiden als allein durch ihre Tugend.48 Das Unternehmen hätte zu einer Zerlegung der Polis oder jeglicher organisierten Staatsform geführt. Den Kynikern war das klar, sie freuten sich gar darauf.49 Noch andere Kritiker, insbesondere Thukydides, schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Für sie war das Problem an Demokratie und isonomia–wie gesagt weitgehend Synonyme –, dass sie viel zu weit reichte. Plutarch prägte die vortreffliche Metapher, der Fehler an Athen sei vor allem, dass es ihm an einem stabilisierenden Anker mangele. Ohne ihn schwanke die Volksversammlung, in großen Teilen Besitzlose, die sich leicht von Demagogen beeinflussen ließen, bald in die eine, bald in die andere Richtung. Ständig drohe sie in das eine oder andere Extrem zu fallen. Wie sich an vielen Ereignissen vor allem im Peloponnesischen Krieg zeige, sei es sehr schwer, ja vielleicht unmöglich, eine gesunde, ausbalancierte, kontinuierliche Politik zu entwerfen und auf Kurs zu halten.

Die schärfste Kritik schließlich kam von Platon. Er unterschied sich insofern von den anderen, als er die Frage von beiden Seiten betrachtete. Einerseits teilte er die damals weit verbreitete Meinung, ökonomische Ungleichheit würde zwangsläufig zu Konflikten oder gar zum Bürgerkrieg führen, weshalb er für ihre Beseitigung plädierte. Sein Wächterstand sollte alles, auch Frauen und Kinder, als Gemeinschaftsgut betrachten, so dass die Unterscheidung zwischen »mein« und »dein« verschwände. Nur so ließe sich eine wahrhaft geeinte Stadt errichten. Doch Platons Wächter sind scharf zu trennen sowohl von den Arbeitenden unter ihnen und den Philosophenherrschern, die über ihnen standen. Wie auch die Dinge genau eingerichtet werden sollten – das ist alles andere als klar –, sollte es ganz offensichtlich Gleichheit weder für Rechte, für Pflichten, noch für Funktionen geben. Die ganze Sache sollte vielmehr auf einer »durchaus wohlgemeinten Lüge« beruhen: dass nämlich die Aufteilung in Stände nicht künstlich, sondern natürlich sei.50 Der lupenreine Aristokrat Platon stimmte Thukydides auch in seiner Kritik an der Kehrseite der Demokratie bei. Das betraf ihre »Fiebrigkeit«, ihre Förderung des ungebremsten Wettbewerbs zwischen individuellen (und gleichen) Bürgern, sowie ihre Unfähigkeit, auf stabilem Kurs zu bleiben. Er verglich den Herrscher in einer Demokratie mit einem Dompteur, der sich um ein großes, gefährliches Untier zu kümmern hat. Um nicht gefressen zu werden, muss er sich für immer jeder Laune des Untiers beugen.51

Wir können hier nicht alles nachzeichnen, was seit der Antike und bis heute über die griechische Version der Gleichheit gesagt wurde. Hinweisen wollen wir aber darauf, dass die antiken Kritiker sich vor allem dafür interessierten, was die Gleichheit mit denen machte, die sie besaßen. Entweder ging sie ihnen nicht weit genug oder sie brachte bestimmte Probleme auf oder beides. Die moderne, vor allem die liberale und sozialistische Kritik dagegen konzentrierte sich auf die Exklusivität der griechischen Gleichheit. In Sparta stellten die homoioi lediglich einen kleinen und obendrein schwindenden Anteil der Bevölkerung. In Athen kamen wahrscheinlich mehr Menschen in den Genuss der Gleichheit – vielleicht 50 000 bzw. 10 Prozent bei einer geschätzten Bevölkerung von einer halben Million. Weder in Sparta noch in Athen (noch in irgendeinem modernen Staat) hatten dort ansässige Fremde politische Rechte. Sowohl private als auch staatseigene Sklaven hatten überhaupt kaum Rechte. Zwar tat Solon viel dafür, Athen egalitärer zu machen, aber er brachte auch ein Gesetz ein, nach dem Sklaven keine Gymnastik praktizieren durften.52 Frauen unterlagen fortgesetzt der Vormundschaft; von ungebundenen Witwen und Kurtisanen abgesehen, konnten sie nur unter männlicher Protektion leben.