Gleichheit. Das falsche Versprechen

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Natürlich funktionierte das alles in der Theorie besser als in der Praxis. Sowohl in den griechischen Epen als auch in der weiten Welt waren Gewalt und Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen häufig und ihr Verlauf brutal. Beteiligt sein konnten daran Menschen ein und derselben Klasse oder auch Angehörige unterschiedlicher Klassen. Allein schon wegen der Polygamie des Häuptlings und seiner Angehörigen war dessen Verwandtschaft sehr umfangreich, so dass Streit und Kampf um den Thron eher die Regel als die Ausnahme waren. Besonders der Tod eines Häuptlings löste mit großer Wahrscheinlichkeit einen Konflikt aus, und Dynastien hielten sich selten länger als über zwei oder drei Generationen. Zeitweise fühlten sich die Angehörigen der unteren Klassen derart geknechtet, dass sie sich mehr oder weniger spontan – und mehr oder weniger erfolgreich – gegen die Obrigkeit erhoben. Auch benachbarte Häuptlingstümer gerieten in Konflikt miteinander; Streitpunkte waren Wasser, Ackerland, Weiden, jede Form von Besitz und Frauen. Sofern nicht eine Seite die andere ganz auslöschte, führte ein siegreicher Krieg üblicherweise zu noch größerer Ungleichheit als zuvor.

Die Regel in der Tierwelt ist ganz eindeutig nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit. Bei in Verbänden lebenden Säugetieren und insbesondere bei Primaten hatten nie zwei Individuen exakt denselben Status. Falls es doch dazu kam, blieb es nicht lange dabei. Das Leben an sich, so erklären Zoologen, ist ein einziger langer Kampf, um so bald wie möglich die höchste Position zu erlangen, sie so lange wie möglich zu besetzen und sich die Privilegien in Ernährung und Sexualität zunutze zu machen, die damit einhergehen.42 Ausgetragen wird dieser Kampf mit allen Mitteln, häufig auch mit Gewalt. Abgesehen von der angenehmen Seite dieser Privilegien werden die Sieger durch Reproduktionserfolg belohnt.43 Was den Menschen angeht, zeigt sich, dass sowohl die Philosophen des 18. Jahrhunderts mit ihrer Bewunderung für die »Wilden«, als auch die Ethnografen des 19. Jahrhunderts mit ihrer tiefen Verachtung falsch lagen. Alles ist relativ, doch selbst in den einfachsten bekannten Gesellschaften ist die Gleichheit durchaus nicht vollkommen. Kein Volk, nicht einmal die Andamaner, lebte offenbar in einer Gesellschaft, in der der Zugriff auf Ressourcen gleich war, in der alles allen gehörte und in der kein Individuum die Autorität besaß, Befehle zu erteilen, oder die Pflicht hatte, zu gehorchen. Jegliche je existierende Gesellschaft beruhte nicht nur auf Ungleichheit, sondern bestand geradezu daraus.

Zusammengefasst erkennen alle menschlichen Gesellschaften Unterschiede in Alter und Geschlecht an, die sich in unterschiedliche Fähigkeiten bei der Nahrungsproduktion sowie in unterschiedliche Rechte und Pflichten übersetzen. Abgesehen von diesen Faktoren scheint die Vermutung vernünftig, dass einige der ältesten Rechtfertigungen für Ungleichheit auf Magie, Geisterkult, Religion oder andere Auffassungen vom Übernatürlichen zurückgingen. Diese These vertraten Ende des 19. Jahrhunderts etwa Anthropologen wie James Frazer in Der goldene Zweig (1890). Ihrer Theorie nach konnten als erstes Propheten, Schamanen und vergleichbare Wundertäter ihr Wissen in Einfluss ummünzen. Indem dieser Einfluss stufenweise zu Autorität wurde, Autorität zu Macht und Macht zu Eigentum und Privilegien, bildeten sich Häuptlingstümer heraus. Freilich ist der Geschichte zu entnehmen, dass das nicht immer so einfach und geradlinig ablief. Ausgrabungen in Russland zeigen etwa, dass bereits vor 30 000 Jahren, also lange bevor die sogenannte Neolithische Revolution Sesshaftigkeit ermöglichte, einigen Menschen relativ großer Reichtum ins Grab gelegt wurde; andere dagegen wurden mit kaum irgendeiner Beigabe bestattet. Erstere waren wahrscheinlich Häuptlinge, Letztere aus dem gemeinen Volk.44 Wie es dazu kam, wissen wir nicht. Außerdem war sowohl bei Menschen, als auch bei vielen Tieren Ungleichheit in Begleitung von Unterwürfigkeit – das heißt also anerkannte Ungleichheit – genau der Faktor, der die Gemeinschaft oder Gruppe zusammenhielt. Anderenfalls hätten Individuen, die um materielle und sexuelle Ressourcen konkurrierten, einander wohl in Stücke gerissen. Und das nicht nur gelegentlich, sondern ständig.

KAPITEL 2

Das erste Volk, das sich an die Gestaltung einer Gesellschaft machte, die in gewisser Hinsicht auf Gleichheit basierte, waren die Einwohner im archaischen Griechenland. Leider haben wir über diese Zeit insgesamt nur sehr spärliche Informationen; überwiegend beschränken sie sich auf archäologische Funde und auf die Dichtungen von Homer und Hesiod. Dazu kommen viele Mythen über Götter, Ungeheuer und übernatürliche Heldentaten. Wegen ihres mythologischen Charakters sowie der Tatsache, dass sie erst Jahrhunderte nach den angeblich beschriebenen Ereignissen niedergeschrieben wurden, sind sie freilich in ihrem dokumentarischen Wert problematisch. Schließlich gibt es noch einige zufällige Bruchstücke in den Schriften griechischer Historiker der klassischen Ära. Und dass im so genannten dunklen Frühmittelalter nicht geschrieben wurde, macht die Sache auch nicht gerade einfacher.

Diesen wenigen Quellen zufolge wohnten zwischen etwa 1100 und 700 v. Chr. in Griechenland Gruppen in einem Zwischenstadium zwischen Hordengesellschaften und Häuptlingstümern. In der Ilias heißt der oberste Anführer Agamemnon. Um noch einmal Thersites zu zitieren: »Reich mit Erz sind [Agamemnons] Zelte gefüllt, und Weiber in Menge Sitzen in deinen Gezelten«. Wann immer eine Stadt erobert wurde, beanspruchte er die beste Beute für sich selbst, wie es ihm kraft seines Ranges auch zustand. Er war umgeben von rangniederen Anführern, von denen Odysseus, gemessen an der Anzahl von Kriegern, die er mobilisieren konnte, zu den eher unbedeutenden gehörte. Sie werden als »großzügig« beschrieben; er erhielt »Geschenke« von ihnen, und er besaß eine gewisse Autorität über sie; so viel jedenfalls, dass die anderen Anführer um seinetwillen ihre Heimat verließen, sich ihm an einem vereinbarten Treffpunkt anschlossen und zehn Jahre lang mit ihm Krieg führten, obwohl keiner von ihnen persönlich von den Trojanern behelligt worden war – wirklich keine geringe Leistung.

Dabei war Agamemnon kein Despot. Besonders interessant ist seine Beziehung zu Achilles. Als individueller Krieger war Achilles dem Agamemnon haushoch überlegen, das wussten sie beide. Und doch konnte Agamemnon ihm drohen, er werde notfalls in Achilles Lager einfallen und sein Ehrengeschenk rauben, das Mädchen Briseis. Damit würde er Achilles beibringen, »wie viel höher ich sei als du, und ein anderer zage, gleich sich mir zu dünken und offen zu trotzen ins Antlitz!«1 Schließlich befehligte er mehr Krieger und besaß, um sie zu bezahlen, wahrscheinlich größere Schätze als jeder andere; doch als Achilles sich aus dem Krieg zurückzog, konnte Agamemnon ihn nicht daran hindern. Um ihn zurückzulocken, musste er ihm schmeicheln, Versprechungen machen und wertvolles Eigentum übertragen. Ihre Beziehung beruhte also weder auf Autorität noch auf Gleichheit, sondern auf einem gewissen Interessensausgleich. Zudem ging nach Ende des Krieges jeder Unter-Anführer zurück in seine asty, was sich am treffendsten mit »Zitadelle« übersetzen lässt. Nichts weist darauf hin, dass irgendeiner von ihnen weiterhin Agamemnons Autorität unterstand oder ihm gar Tribut zahlte. Da diese Heimatstädte von Pylos im Westen der Peloponnes und im Osten bis nach Kreta verteilt waren und zudem manche von ihnen nicht nur durch Land, sondern auch durch das Meer voneinander getrennt waren, wäre das auch höchst unwahrscheinlich gewesen.

Die Anführer werden bald als anax, bald als basileus bezeichnet. Über die gesamten Dichtungen hinweg werden die beiden Termini wahlweise verwendet, häufig für dieselbe Person. Allerdings fällt der Titel anax vor allem den mächtigeren Anführern wie Zeus und Agamemnon zu. Sie verdankten ihre Stellung drei Faktoren, nämlich ihrer politisch-militärischen Leistung, ihrem Reichtum und ihrer Abstammung. Dass man sich der Abstammung erinnern muss, erklärt, warum das 2. Buch der Ilias sie in einem so detaillierten Katalog vorführt. Aus diesem Grund werden auch all die Völker genannt, die von ihnen beherrscht wurden, sowie die vielen Schiffe, die jeder von ihnen für seine Kriegszüge aufbringen konnte. Und jedes Mal, wenn ein griechischer Anführer auf dem Schlachtfeld einem Trojaner gegenübersteht, brüsten sich als erstes beide ihrer Vorfahren. Manche von ihnen beanspruchen göttliche Abstammung, obwohl ihnen diese Tatsache an sich offenbar keinen besonderen Vorrang vor den anderen verleiht: Dass etwa Sarpedon Zeus’ eigener Sohn ist, schützt ihn nicht davor, von Patroklos getötet zu werden. Andere, die zwar nicht von Göttern abstammen, werden gleichwohl als »göttergleich« bezeichnet.2

Von Gleichheit, egal ob sozial, ökonomisch, politisch oder vor dem Gesetz, konnte ohnehin nicht die Rede sein. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass sowohl in der Ilias, als auch in der Odyssee abgesehen von Unterhaltungen mit göttlichen Wesen praktisch alle Begegnungen, seien sie friedlicher oder feindlicher Natur, zwischen Aristokraten stattfinden. Das gemeine Volk, das sie so zahlreich anführten, kommt äußerst selten ins Bild. Zwar spielt es eine größere Rolle in der Odyssee als in der Ilias. Das liegt jedoch nur daran, dass der Held, der über Jahre fern der Heimat und fern von anderen Anführern umherreist, stärker von ihm abhängt als das normalerweise der Fall wäre. Wir begegnen so Bauern, Hirten, Handwerkern, Ärzten und Wahrsagern, die das Epos allerdings nur selten beim Namen nennt. Das geschieht nur dann, wenn sie wie im Fall des unseligen Thersites gegen einen Anführer aufbegehren oder ihm helfen wie einige von Odysseus’ Bediensteten nach der Heimkehr von seiner Irrfahrt.

 

Will man die homerischen Epen als historische Quellen nutzen, so stößt man sich daran, dass sie wie die Sagen und Mythen ihre endgültige Form erst Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen erhielten. In diesen Jahrhunderten verschwand mit der Mykenischen Kultur eine ganze Zivilisation von der Erde. Das Land wurde wiederholt besetzt, und die sozio-politischen Organisationssysteme erfuhren radikale Veränderungen. Von Hesiod, der wahrscheinlich kurz nach Homer lebte, hören wir, dass einige Menschen reich und mächtig waren, andere arm und demütig. Häufig unterdrückten die Reichen die Armen, und in der Tat kann man sein Lehrgedicht Werke und Tage als Protestschrift gegen diese Unterdrückung lesen. Freilich fordert der Dichter nicht, Gleichheit durch- und die Anführer abzusetzen, allerdings verlangt er von letzteren Gerechtigkeit.3 Abgesehen davon liefert er wenige Details über das Funktionieren der Gesellschaft.

Dass es diese Häuptlingstümer einst wirklich gegeben hat, beweist am besten die Tatsache, dass selbst in der klassischen Ära viele Balkanstämme sich noch nicht per synoikismos zusammengeschlossen hatten, der »Zusammenlegung von Haushalten« zu einer einzigen Polis. Völker wie die Illyrer, die Thraker und die Ätolier lebten weiterhin in so genannten ethne, was sich als Volksstamm, Haufen oder Schar übersetzen lässt. Jedem »Volk« stand ein ethnarch vor, was ziemlich genau Stammesfürst, also Häuptling bedeutet. Die städtischen Griechen sahen auf sie herab und befanden sie für rückständig. So bezeichnet Thukydides die Ätolier als streitbares Volk, dem es freilich an befestigten Städten fehle: Sie lebten in offenen Dörfern und hätten nur eine leichte Bewaffnung.4 Und die New Cambridge Ancient History sagt von den Thrakern, sie bildeten ein Häuptlingstum von »quasi feudalem Charakter« samt »Vasallenherrschern«.5 Sie hinterließen allerdings kaum schriftliche Zeugnisse, so dass über sie nur wenig bekannt ist.

Ein weiterer Hinweis sind die Namen der untergeordneten Volksabteilungen (Phylen), die in vielfältiger Form in vielen klassischen Stadtstaaten, auch in Sparta und Athen, noch Jahrhunderte nach deren Herausbildung weiter existierten. Diese Gruppen hießen Stämme, Geschlechter, Abstammungsgruppen und Gattungen. Wie egalitär oder unegalitär diese Gemeinschaften und ihre Mitglieder waren, bevor sie sich zusammenschlossen und zu einer polis verschmolzen, lässt sich unmöglich feststellen. Ihre tatsächliche Rolle in der Polis verschob sich ständig und ist schwer nachzuvollziehen. Doch wie auch immer sie organisiert waren, ursprünglich bestanden sie jedenfalls offenbar aus Anführern und deren Gefolge. Ein moderner Forscher versuchte nachzuweisen, dass sie nicht ausschließlich aus Verwandten bestanden, und übersetzte das Wort phylon mit Führergruppe. Damit meinte er eine temporäre Vereinigung, die ein Anführer willkürlich formte, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.6

Wie schafften es die griechischen Häuptlingstümer vor diesem wenig vielversprechenden Hintergrund, sich nicht zu noch ungleicheren bürokratischen oder feudalen Staatswesen weiterzuentwickeln – dieser Prozess nämlich war, wie wir sehen werden, das übliche Schicksal zahlloser ähnlicher Gesellschaften weltweit. Sicher ist, dass die Idee der Gleichheit mit all ihren komplexen sozio-ökonomisch-politischen Implikationen jedenfalls nicht aus dem Orient nach Griechenland gelangte. Dabei war der Nahe Osten in dieser Zeit in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht sehr viel weiter fortgeschritten als das kleine und relativ arme Griechenland. Wir wissen auch, dass zumindest seit 1200 vor Christus Waren und Ideen in beide Richtungen ausgetauscht wurden. So importierten die Griechen etwa das Alphabet, das sie wohl im Lauf des 8. Jahrhunderts vor Christus erreicht haben dürfte. Aber was sich aus dieser Quelle lernen ließ, war doch begrenzt. Bereits seit dem 3. Jahrtausend waren sowohl Ägypten als auch Mesopotamien von einem der ungleichsten, hierarchischsten Despotismen unterjocht, die es auf der Welt je gab. Um sich das klarzumachen, braucht man nur die Pyramiden zu betrachten. Wenn die Macht der Pharaonen oder auch der assyrischen, babylonischen und persischen Könige irgendwelche Grenzen kannte, dann waren sie nur technischer und keinesfalls gesetzlicher Natur. Noch die Griechen selbst bezeichneten den persischen Herrscher als »Großkönig«. Zumindest bis zu Alexander dem Großen und seinen Nachfolgern hatten sie selbst nichts Vergleichbares vorzuweisen.

Womöglich spielte die Geografie mit den vielen durch Bergketten voneinander abgetrennten Tälern eine Rolle dabei, dass Griechenland nicht auch unter einer solchen imperialen Herrschaft geeint wurde. Allerdings sind andere Teile der Welt mindestens genauso gebirgig; einige, wie das präkolumbische Peru, waren trotzdem unter einer ebenso hierarchischen und absoluten Zentralmacht geeint wie fast alle Reiche in der Alten Welt. Andere Regionen wie Tahiti blieben in eine Vielzahl von Häuptlingstümern zersplittert. Und wenn Völker in ausgedehnten Ebenen lebten wie die australischen Aborigines oder die nordamerikanischen Ureinwohner, führte das nicht unbedingt von sich aus zur Entstehung von Imperien. Der Jahrtausende dauernde Widerstand der Mongolen gegen die chinesische Herrschaft zeigt schließlich, dass große offene Räume genauso gut dazu genutzt werden konnten, einer Zentralmacht zu entkommen wie sie einzurichten. Kurz, die Topografie und die dazugehörige Biosphäre kann viel erklären; doch sie allein begründet nicht, warum einige Gesellschaften sich in eine gewisse Richtung entwickelten und andere nicht.

Städte, also permanente Siedlungen mit einem erheblichen Bevölkerungsanteil, der nicht von der Landwirtschaft lebt, sondern von Industrie und Handel, entwickelten sich an verschiedenen Orten der Erde. Doch abgesehen von den phönizischen Städten, über die wir nur sehr wenig wissen, und denen in Italien, auf die wir später zu sprechen kommen, herrschten dort nur unbedeutende Könige. Ihre soziale und politische Struktur war mindestens so ungleich wie die der Häuptlingstümer. Viele von ihnen waren keineswegs unabhängig, sondern standen im Zentrum eines hoch entwickelten Häuptlingstums. In der griechischen Welt gab es zumindest eine solche und sehr bedeutende Stadt, nämlich Pella, Hauptstadt der makedonischen Könige, die am Ende in ganz Griechenland einfielen.7 Die Aussage eines Historikers: »der [griechische] Stadtstaat entstand aus Spannungen innerhalb einer landwirtschaftlich geprägten Welt heraus« und sein Aufkommen »wurde wohl erheblich durch die andauernde Schlichtheit ökonomischer Muster und durch immer noch primitive Sozialstrukturen der Epoche ermöglicht«, hilft da auch nicht wirklich weiter.8

Es wurde versucht, die Entstehung der klassischen Polis im Laufe des 7. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Kriegsführung mit Hopliten in Verbindung zu bringen.9 Diese Kriegsführung in eng geschlossenen Formationen erforderte eine sehr gute Zusammenarbeit unter ähnlich bewaffneten, ähnlich geschulten Infanteristen in schwerer Rüstung, die im Gleichschritt manövrierten. Nicht einmal die Anführer traten mehr in gesonderten Duellen gegeneinander an wie noch in der Ilias, sondern kämpften häufig wie alle anderen.10 Damit vergrößerte sich die Macht der Gemeinschaft, während die der Anführer abnahm. Problematisch an dieser Interpretation ist die Tatsache, dass Phalanx-ähnliche Kampfformationen, die von den Monarchen oder ihren Vertretern organisiert, bezahlt und vermutlich auch kommandiert wurden, sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien zumindest seit dem 3. Jahrtausend vor Christus verbreitet waren. Schließlich erfordert es keine allzu große intellektuelle Anstrengung zu erkennen, dass im geeigneten Gelände vereinte, disziplinierte Truppen bestimmte Aktionen durchführen können, die bloßen Einzelkämpfern unmöglich sind. Bis hin zu ihren Symbolen wirkten solche Truppen als Instrumente der königlichen Macht. Dabei waren sie weit davon entfernt, den Weg zu Gleichheit oder Demokratie zu ebnen.

Andere versuchten, das Aufkommen der griechischen Demokratie in einen Zusammenhang mit der Monogamie zu stellen.11 Dass griechische Männer nur eine Frau haben durften, so ihre Argumentation, bedeutete, dass mehr von ihnen heiraten konnten. Das wiederum bewirkte weniger ungleichmäßige Reproduktionsraten und größere Gleichheit unter den Bürgern. Wie bereits erwähnt, ignoriert diese Erklärung jedoch, dass in der Praxis Anführer wie Agamemnon und Odysseus so viele Frauen haben konnten (und hatten) wie sie wollten. Die Römer waren nicht weniger monogam als die Griechen, und in der Republik nicht strenger als im Kaiserreich. Trotzdem konnte das nicht verhindern, dass das Modell, das am Tiberufer als Stadtstaat begonnen hatte, sich allmählich zu dem am stärksten hierarchisch organisierten Imperium der gesamten Geschichte entwickelte. Überdies bildete der Untergang Roms die Grundlage für den europäischen, also christlichen Feudalismus. Dabei verlangte das Christentum immer, dass jeder Mann und jede Frau zu einem Zeitpunkt nur einen legitimen Ehepartner hat. Und doch ähnelte der christliche Feudalismus dem römischen Kaiserreich insofern, als es absolut kompatibel war mit den krassesten Formen der Ungleichheit, ja sich sogar auf diese gründete.

Eine dritte, in der Literatur nur selten genannte Erklärung ist ein Wandel in der religiösen Organisation. Wir haben bereits festgestellt, dass die Religion, also eine Art Anspruch auf Nähe zu den Göttern, möglicherweise die früheste Grundlage für Ungleichheit und daraus folgernd für Herrschaft gewesen ist. Das aber gilt nicht für die Welt, wie sie sich in den homerischen Epen darstellt. Vielmehr präsentiert uns die Ilias zwei Priester, Chryses (der Vater der Chryseis) und Kalchas. Beide dienen den Göttern, beten zu ihnen und erhalten gelegentlich Antwort auf ihre Gebete. Keiner von beiden ist freilich göttlicher Abkunft, und keiner von ihnen herrscht über irgendwen oder irgendetwas. Mit seinem Flehen, Agamemnon möge ihm seine Tochter zurückgeben, gibt insbesondere Chryses eine geradezu klägliche Figur ab. Die homerischen Heerführer dagegen, und das gilt auch für die, die angeblich von Göttern abstammen oder göttergleich sind, begründen ihren Herrschaftsanspruch keineswegs explizit mit dieser Tatsache. Genauso wenig verhalten sie sich als ihre eigenen Hohepriester. Ihre Autorität ist weltlich, nicht religiös.

Wann, warum und wie die homerischen Anführer ihre besonderen Bindungen an die Götter aufgaben und ihre weltliche Herrschaft nicht länger mit göttlichem Rückhalt rechtfertigten, ist völlig unbekannt. Eindeutig aber war es ein Schritt, und zwar ein sehr wesentlicher Schritt, hin zum klassischen Stadtstaat und der Art von Gleichheit, die dort manchmal vorherrschte. Die Amtsträger, die die Stadtstaaten regierten, verdankten ihre Stellung in der Regel nicht den Göttern. Und griechische Priester wiederum waren meist Amtsträger wie alle anderen.12 Die Liste der Erklärungsversuche für die Entstehung der Polis ist damit noch lange nicht vollständig, doch keiner ist so überzeugend, dass er jedem Widerspruch standhalten würde. So sollten wir denn die Polis, den selbstverwalteten Stadtstaat, als gegeben nehmen und daran die Natur und die Entwicklung unseres Themas Gleichheit nachzeichnen.

In der Praxis konzentrieren wir uns dabei auf zwei von mehreren hundert Stadtstaaten: Sparta und Athen. Sparta, weil dort in gewissem Sinn die Gleichheit weiter vorangetrieben wurde als irgendwo sonst – eine Leistung, für die es neben der viel gefeierten militärischen Stärke in ganz Griechenland berühmt war; und Athen, weil relativ umfassende Zeugnisse zugänglich sind und weil es in seinen eigenen und in den Augen anderer häufig als »Schule von Hellas« galt. Außerdem verstand man schon in der Antike die beiden Städte als radikal unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Systeme und Lebensformen. Eine Untersuchung beider Städte ist das beste Mittel, sie auch beide zu verstehen.

Sowohl in Athen als auch in Sparta bestand der große Schritt in Richtung Polis vor allem im plötzlichen oder auch nur schrittweisen Abbau früherer, auf Abstammung beruhender Organisationsformen. An ihre Stelle trat eine einzige Regelung auf Grundlage von geografischer Lage und Bürgerschaft. In Sparta wurden diese Reformen angeblich von Lykurg durchgeführt. Ob er wirklich existiert hat und wenn ja, wann, ist völlig unklar. Obwohl aristokratischer Abstammung, war er kein Herrscher; Plutarch, der etwa 800 Jahre nach den Ereignissen wirkte, erklärt: »in ihm aber erkannten sie die echte Führernatur und die Fähigkeit, die Menschen zu leiten.«13 Über das Leben in Sparta vor Lykurg wissen wir ebenfalls sehr wenig. Herodot und Thukydides deuten beide an, um die Mitte des 7. Jahrhunderts habe es eine Zeit der Unruhe und des Bürgerzwists gegeben; Herodot zufolge war Sparta vor der Reform»die am schlechtesten regierte Stadt ganz Griechenlands«.14

 

Was die Gründe dafür angeht, verfügen wir über das Zeugnis des Thukydides, eines gut informierten Realisten ersten Ranges. Er erklärt: »von je war ja in Sparta der Sinn fast aller Maßnahmen die Sicherheit vor den Heloten«, also jener halb versklavten Volksgruppe, die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Christus in der Folge der Kriege gegen eine andere peloponnesische Stadt, Messenia, entstanden war. Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert, die geknechteten, misshandelten Heloten in Sparta »lauern gewissermaßen ständig auf deren Unglücksfälle«.15 Um sie an dem Versuch einer Selbstbefreiung zu hindern, machten die Spartaner ihre Stadt zu einem einzigen Wehrlager. Sie müssen sich ganz zurecht gefühlt haben, als säßen sie auf einem Pulverfass.

Immer noch nach Plutarch, dessen Bericht bei Weitem am detailliertesten ist, bestand der kritischste Punkt zur Gleichstellung der homoioi (»die sich gleichen«) oder Spartiaten darin, allen privaten Landbesitz zu enteignen und dem Staat zu übergeben. »Denn da eine furchtbare Ungleichheit bestand, viele besitz- und erwerbslose Menschen dem Staat zur Last fielen und der Reichtum in ganz wenige Hände zusammengeflossen war, so ging er daran, Übermut, Neid, Verbrechen, Schwelgerei und die noch bedeutsameren und größeren Gebrechen eines Staates, Reichtum und Armut, auszutreiben. Er überredete die Bürger, den gesamten Grund und Boden zur Verfügung zu stellen und ganz neu aufzuteilen, um danach alle gleich unter gleichen Lebensbedingungen zu leben und einen Vorrang nur durch Tüchtigkeit zu erstreben, da kein Unterschied und keine Ungleichheit unter ihnen bestehen sollte außer derjenigen, welche der Tadel schlechter und das Lob guter Taten bewirkt.«16 Jedes Flurstück war groß genug, um einen Mann und seine Frau zu ernähren, aber mehr auch nicht.

Zu jedem Flurstück kam eine Anzahl von Heloten, die für ihren spartiatischen Herrn das Land bebauten. Damit konnten die Spartiaten ihr Leben vollständig dem militärischen Training widmen. Sie lernten das Vorrücken, den Rückzug und den besten Einsatz ihrer Waffen und wurden damit »die größten, bewährtesten Meister in allen Künsten des Krieges«.17 Da Lykurg sich nicht mit halben Sachen zufriedengab, ließ er auch beweglichen Besitz sammeln und umverteilen. Um die Rückkehr der Ungleichheit durch Handel und Vorratshaltung zu verhindern, wurden Gold und Silber verbannt. Fortan mussten die Spartaner eine eiserne Währung verwenden, die unhandlich und nur für die kleinsten Käufe verwendbar war. Außerhalb Spartas war sie wertlos und wurde dort auch bald mit Hohn und Spott bedacht. Mit der Abschaffung des Grundeigentums, so Plutarch, verschwand auch jede Art von Laster. Nicht nur Genusssucht, sondern auch Wegelagerei, Hurerei, Täuschung durch Wahrsager und andere Gesellschaftslaster waren im Nu Vergangenheit.

Lykurgs Gleichheitsstreben führte zudem direkt zu einer weiteren, »erlesenen« Reform: nämlich der Einrichtung von Tischgemeinschaften (syssitia) oder, um einen Begriff aus der modernen Anthropologie zu verwenden, von Männerhäusern. Hier nahmen die Spartiaten ihre Mahlzeiten ein und verbrachten die Nächte. Diese Gewohnheit mussten sie sogar nach ihrer Hochzeit noch eine Zeitlang beibehalten und ihre Frauen also heimlich besuchen. Voraussetzung für die Aufnahme in die Syssitien und allgemein für die Anerkennung als Vollbürger war die Absolvierung eines langjährigen Erziehungssystems, der so genannten agoge. Sie begann im Alter von sieben Jahren und dauerte bis etwa zwanzig. Dort ging es so rau und beschwerlich zu, dass Aristoteles befand, diese Zucht eigne sich eher für Tiere als für Menschen. Um die eigene Tischgemeinschaft zu unterstützen, musste jedes Mitglied seinen Nahrungsbeitrag leisten. Männer, die aus dem einen oder anderen Grund ihr Flurstück verloren hatten und nichts mehr beitragen konnten, fielen aus dem System heraus. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie ihren Status als Spartiat verloren.

Lykurg erachtete die Gleichheit für so wichtig, dass er sie sogar auf den Tod anwendete. Er verbot nicht nur die Bestattung jeglicher Gegenstände bei ihrem Eigentümer, sondern auch die namentliche Kennzeichnung der Gräber. Einzige Ausnahmen von dieser Regel waren Männer, die in der Schlacht getötet worden waren, und Frauen, die den Tod im Wochenbett gefunden hatten. Seine sozio-ökonomischen Reformen ergänzte Lykurg auch durch politische. Sparta, so Plutarch, war lange von zwei basileis beherrscht worden. Doch »die Könige, so meinten [die Spartaner], hatten ja vor der Menge nur den Namen und die Ehre, sonst nichts voraus« und erlagen derselben menschlichen Schwäche.18 Daher neigte die Stadt bald zu den Exzessen der Tyrannei, bald zur Instabilität der Demokratie. Um dieses Problem zu beheben, richtete Lykurg einen Ältestenrat ein, dem achtundzwanzig Männer über sechzig Jahren auf Lebenszeit angehörten. Wenn einer von ihnen verstarb, bestimmte die Volksversammlung, also alle männlichen spartanischen Vollbürger, per Akklamation einen neuen. Sie sollte stabilisierend auf das Staatsschiff wirken, es in ruhiger Fahrt halten.

Schließlich setzte Lykurg oder einer seiner Nachfolger – in dieser Hinsicht sind die Quellen uneins – die Ephonten oder Aufsichtsbeamten ein. Die fünf Männer wurden jährlich gewählt und hatten zur Aufgabe, die Könige zu kontrollieren. Ältestenrat und Könige besaßen das alleinige Recht, die Volksversammlung einzuberufen und dort Anträge einzubringen. Versuchten sie freilich, Themen zu behandeln, die die Ephoren nicht billigten, so konnten diese die Volksversammlung vertagen. Die größten Abweichungen von der Gleichheit bestanden insgesamt darin, dass Privatpersonen nicht individuell vor der Volksversammlung sprechen konnten, dass nur alte Männer in den Rat gewählt werden konnten und dass die Königswürde weiterhin erblich war und lediglich den Mitgliedern zweier Geschlechter offenstand, den Agiaden und den Eurypontiden. Als Lykurg einmal hierzu befragt wurde, kanzelte er den Frager in typischer »lakonischer« Kürze und Prägnanz ab: »Führ du erst mal in deinem Hause die Demokratie ein!«.19 Wichtig ist hier festzuhalten, dass laut Platon die tatsächliche Macht bei den Ephoren lag. Sie wurden zwar jährlich demokratisch gewählt, doch ihre Herrschergewalt hatte ein »erstaunlich tyrannisches Gepräge«. Die Könige, so Platon, waren eher Generäle.

Viele moderne Historiker sind der Ansicht, dass die Reformen nicht von einer Einzelperson, sondern schrittweise über einen viel längeren Zeitraum hinweg durchgeführt und erst im Nachhinein Lykurg zugeschrieben wurden. Selbst falls dieser tatsächlich gelebt hat, musste er mit Sicherheit beträchtlichen Widerstand überwinden und konnte nicht alles auf einmal durchsetzen. Für unsere Belange ist aber viel wichtiger, dass die Gleichheit unter den Spartiaten nur auf Kosten der Heloten erreicht werden konnte. Diese waren nicht nur versklavt, sondern überdies erklärten ihnen die Beamten noch Jahr für Jahr formal den Krieg. Daraufhin lauerte die spartiatische Jugend ihnen mit Dolchen bewaffnet auf und tötete, wen sie wollte. Auch auf vielfache andere Weise wurden sie gedemütigt, wobei alles von fest verankerten Gesetzen gedeckt war, die beinahe als heilig galten. Die Heloten waren einer so schlimmen Behandlung ausgesetzt, dass Plutarch einmal bezweifelte, ob die betreffenden Gesetze wirklich von Lykurg selbst eingerichtet worden sein konnten; er meinte, sie müssten später hinzugefügt worden sein.