Das Corona-Rätsel

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Freitag, 13. März



In einem Interview mit dem Standard sagt Anschober:

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 »Das Befürchtete ist passiert. Aus einer regionalen Epidemie, die in China ausgebrochen ist, ist binnen sehr kurzer Zeit, also seit Jahresbeginn, eine globale Pandemie geworden. Das bedeutet eine weltweite Krise, was die Gesundheitssysteme betrifft. Darauf gibt es, so sagen uns die Experten, nur eine Antwort: Wir alle müssen unsere sozialen Kontakte reduzieren, um damit das Ansteckungsrisiko zu verringern.«



In den meisten österreichischen Krankenhäusern und Pflegeheimen wird ein Besuchsverbot verhängt. Auch Spitalsambulanzen sollten nur aufgesucht werden, wenn dies wirklich notwendig ist. Die Österreichische Gesundheitskasse beschließt ein Maßnahmenpaket, das die unbürokratische und sichere Versorgung der Patienten garantieren soll. Eine Medikamentenverordnung nach telefonischem Kontakt und die Abholung in der Apotheke ohne Papierrezept wird ermöglicht. Die Bewilligungspflicht bei den meisten Medikamenten entfällt, eine telefonische Arbeitsunfähigkeits­meldung und Krankschreibung auf Basis einer telefonischen Konsultation wird eingeführt. Was jahrelang undenkbar war, wird plötzlich ganz rasch und unkompliziert Realität.



Auf der Homepage der von Niki Popper mitgegründeten dwh GmbH – Simulation Services und Technical Solutions werden unter dem Titel »COVID-19: Maßnahmen sollten bald Wirkung zeigen« die schon im Taskforce-Meeting kommunizierten Prognosen veröffentlicht:

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»Laut dem Modell sollten erste Auswirkungen – wenn die Einschränkung der Kontakte auch wirklich umgesetzt wird – bereits Ende nächster Woche zu sehen sein. Die Zahl der Neuinfizierten wird trotzdem weiter ansteigen, aber in weitaus geringerem Maße als in den bisher verbreiteten Hochrechnungen (...) Die Schulschließungen werden zu einer Reduktion zwischenmenschlicher Kontakte um etwa 10% in der Gesamtbevölkerung führen. Wenn man annimmt, dass Menschen über 65 ihre Kontakte in der Freizeit um die Hälfte reduzieren, geht die Gesamtzahl der Kontakte in der Gesamtbevölkerung um weitere 8% nach unten. Das reduziert den Peak, also die Maximalzahl an Personen, die gleichzeitig krank sein werden, bereits um 40%. Und was noch wichtiger ist: Die Maximalanzahl der gleichzeitigen schweren Fälle insgesamt reduziert sich laut unserem Modell dadurch sogar um 55% – auf 45% des ursprünglichen Wertes, den wir ohne diese Maßnahmen hätten. Der Grund ist, dass besonders viele Menschen aus der Risikogruppe sich in diesem simulierten Fall nicht anstecken.«





Siegfried Walch vom Management Center Innsbruck hat so wie ich die Bedeutung von Netzwerken in dieser Krise erkannt. Er leitet die Kommunikationsstrategie an seine Kontakte in Tirol und Vorarlberg weiter. In den nächsten Wochen ist er ein aktiver Verbündeter im Westen Österreichs, der mir hilft, wichtige Botschaften zu verteilen und Systemverantwortliche auf die Bedeutung von Risikokommunikation oder den Schutz von Pflegeheimen hinzuweisen.





Samstag, 14. März





Um 07:00 in der Früh schickt Franz Allerberger eine sehr reflektierte E-Mail an alle Mitglieder der Taskforce, in der er empfiehlt, von der Botschaft

»ganz gefährliches Virus«

 wegzukommen. Er weist darauf hin, dass jeden Tag in Österreich im Schnitt 230 Menschen sterben und alle ein Recht auf Begleitung haben. Außerdem sollen die durch das Virus bedingten Kollateralschäden so klein wie möglich gehalten werden.



Ich schicke kurz darauf eine E-Mail an die Gruppe:





»Ich kann die von Prof. Allerberger angesprochenen Punkte nur unterstützen. In den nächsten Wochen (Monaten) wird entscheidend, wie gut es uns gelingt, die sehr gut beschreibbare Hochrisikopopulation vor einer Infektion zu schützen. Ich habe derzeit nicht das Gefühl, dass diese Botschaft schon in allen Bereichen unserer Bevölkerung angekommen ist. Faktum ist, je besser uns dieser ›Schutz‹ gelingt, desto weniger Ressourcen brauchen wir ›downstream‹ in der Krankenversorgung. Es braucht rasche und schlaue Kommunikationsstrategien, v. a. für jene Gruppen, die, aus welchem Grund auch immer, schwer erreichbar sind. Diese Kommunikation braucht es rasch, nicht nur auf Bundes- und Landesebene, sondern vor allem in den Gemeinden, Bezirken und Grätzeln.







Derzeit fühlen sich viele junge und gesunde Menschen bedroht, obwohl für sie das Risiko, schwer zu erkranken, sehr gering ist. Im Gegensatz dazu negieren viele Hochrisikopersonen ihr Risiko oder halten es für sehr gering. Am wichtigsten ist das social distancing zwischen diesen beiden Gruppen. Das muss kommuniziert werden. Innerhalb der wenig gefährdeten Gruppen (Großteil der Bevölkerung) ist das nicht so wichtig und auch deutlich schwerer zu praktizieren. Dazu gehören ja auch Kinder, Jugendliche und aktiv im Berufsleben stehende Erwachsene. Die Immunisierung eines unbestimmten Anteils dieser Bevölkerung wird in einem unbestimmten Zeitraum stattfinden. Das können wir nicht verhindern. ENTSCHEIDEND ist, dass es parallel dazu zu möglichst wenig Infektionen in den Hochrisikogruppen kommt. Idealerweise bis zur Verfügbarkeit einer Impfung.







Jetzt kommt es auf die Solidarität der wenig gefährdeten Gruppen (Großteil der Bevölkerung) mit den höher gefährdeten Gruppen (Kleiner Teil der Bevölkerung) an. Wie das gehen kann, und worauf es dabei ankommt, müssen wir rasch kommunizieren!«





Allerberger war mir schon vor der Corona-Krise ein Begriff. Ich schätze seine mutige, offene Art und seine Expertise schon lange. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass zwischen uns aufgrund der sehr ähnlichen Sichtweisen eine Seilschaft entsteht. Normalerweise tu ich mir auch nicht schwer, auf Menschen zuzugehen, die ich mag. Bei Allerberger ist mir das aus unerfindlichen Gründen nicht gelungen. Er ist auf meine Annäherungsversuche nicht eingestiegen. Aber dafür wird es sicher gute Gründe geben.





Sonntag, 15. März



In der Früh schreibe ich Niki Popper eine E-Mail, in der ich ihn bitte, auch eine Modellierung für die allgemeinmedizinische Versorgung zu erstellen. Diese wäre für die Planung und Vorbereitung der Allgemeinmedizin extrem wichtig. Auf Basis einer solchen Modellierung könnten dann Handlungsanleitungen für die Hausärzte in den kommenden Wochen abgeleitet werden. Popper verspricht Unterstützung, und wir vereinbaren, am Abend bei der Taskforce-Sitzung darüber zu sprechen. Auf der Titelseite der Kleinen Zeitung steht über dem Porträt des Landeshauptmann Schützenhöfer in Größtbuchstaben

»Gnade uns Gott …«.



Genau das braucht’s jetzt, Politiker, die Weltuntergangsstimmung verbreiten, denke ich mir.



Als Nächstes telefoniere ich mit Christoph Pammer. Er ist Sozialarbeiter im Gesundheitszentrum Medius in Graz und hat eine Public-Health-Ausbildung in der Schweiz absolviert. Wir haben mehrere Jahre zusammen im Grazer Public-Health-Lehrgang gearbeitet, und er ist einer dieser seltenen Typen mit starkem Rückgrat, sozialem Engagement, viel Methodenwissen und praktischer Erfahrung sowie einem klaren Blick auf Gewinner und Verlierer. Mit einem Wort, Christoph ist ein echter Allrounder, und noch dazu ein cooler Typ. Wir reden über die Notwendigkeit, vor allem jene Bevölkerungsgruppen zu erreichen und zu informieren, die mit herkömmlichen Kommunikationsstrategien kaum bis gar nicht erreicht werden. Typisch Christoph, werden sofort Nägel mit Köpfen gemacht.



In wenigen Tagen mobilisiert er den Grazer Gesundheitsstadtrat Robert Krotzer von der KPÖ, zahlreiche Einrichtungen und Vereine, wie Jukus, Ikemba, Omega und Zebra, die exakt mit jenen Zielgruppen arbeiten, die wir erreichen wollen. Es entsteht die »Grazer Telefon-Kette gegen COVID-19«. Das Herzstück des Projekts stellt ein Gesprächsleitfaden für ein telefonisches, motivierendes Interview dar, der in Deutsch und acht weiteren Sprachen (Türkisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Rumänisch, Slowakisch, Arabisch, Dari/Farsi, Russisch und Englisch) abgefasst wird.



Wenn Christoph in Fahrt ist, dann geht was weiter:

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»Schon am Ende der ersten Projektwoche standen wir mit zahlreichen lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Organisationen im Austausch. Viele haben sich der Projektidee angeschlossen, nachdem sie sich über die Qualität der Projektmaterialen versicherten und über die Einsatzmöglichkeiten in Telefongesprächen erkundigt hatten. Eines der entscheidenden Konstruktionsthemen des Projekts waren die Bestimmungen der Datenschutzgrundverordnung, die letztlich allesamt eingehalten wurden. Bis 27. März sind große steirische Einrichtungen (Hilfswerk Steiermark, Psychosoziale Dienste, Gerontopsychiatrie) zu Umsetzungspartnern geworden. Österreichweit adaptierten Trägerorganisationen das Projektkonzept, stellten von ›Hotline‹ auf ›präventive Anrufe‹ um, um sozial Schwache und schwierig gelagerte Einzelfälle zu erreichen. Ebenso machten die lokalen Seniorenbünde der ÖVP, SPÖ, Grünen und KPÖ mit. In Oberösterreich (Haslacher Ges-Zentrum) wird das Projekt direkt nachgeahmt. Die ÖGK Steiermark sprang auf und rief chronisch Kranke zu Hause an, die in ihren Kursen (Diabetes-Schulungen etc.) teilgenommen hatten. In Wien erkundigen sich der Fonds Gesundes Österreich und die Hotline 1450 bezüglich der Erfahrungen. Das früh in der Krise bestehende Projekt ›Telefon-Kette‹ initiiert auf diese Art und Weise Nachfolgeprojekte. Der UNHCR empfiehlt das Projekt zur Nachahmung. Letztlich initiiert der FGÖ dieser Tage ein Förderprogramm für Nachbarschafts- und Stadtteilzentren und übernimmt die Projektmaterialien.«





Am Nachmittag fahre ich mit dem Zug nach Wien. Es ist die letzte Sitzung, die noch Face to Face stattfindet. Diesmal moderiert Anschober in seiner ruhigen und sachlichen Art die Sitzung alleine. Das Niveau der Diskussion ist wiederum sehr hoch. Etwas aus der Reihe fallen die Beiträge des Ärzte­kammerpräsidenten Szekeres, der Bundesheersoldaten vor den Ordinationen fordert. Aber ich bin da vorbelastet. Bei diesem Typus von Mediziner und Mensch entwickle ich eine Abneigung, die mich manchmal selber überrascht. Sprenger und Ärztekammerfunktionäre, das ist so wie Tiroler und Wiener, Bayern und Preußen, nur noch viel schlimmer.

 



Niki Popper prognostiziert bei einer Reduktion der Kontaktzahl um 40% eine ausreichende Verflachung der Kurve von positiv getesteten Fällen und meint humorvoll in Richtung Anschober:

»Ich weiß, dass die Politik daraus schließt, dass 80% Kontaktreduktion noch besser ist.«



Fast alle Anwesenden verstehen, dass die täglich von Zigtausenden Menschen angestarrte Kurve auf dem Dashboard überhaupt keine reale Abbildung des Infektionsgeschehens darstellt. Erstens hängt die Anzahl der positiv getesteten Fälle immer von der Anzahl der durchgeführten Tests und der getesteten Bevölkerungsgruppe ab. Zweitens bleibt immer eine unbekannte Dunkelziffer von aus verschiedensten Gründen nicht getesteten Personen, und drittens läuft die Kurve mit den positiv getesteten Fällen dem wahren Infektionsgeschehen immer um die Inkubationszeit, also ein bis zwei Wochen, hinterher.



Das erklärt auch, dass die effektive Reproduktionszahl (Reff) in Österreich

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 ab dem 13. März abnimmt und kurz vor Ostern unter 1 fällt. Einen ähnlichen Verlauf errechnete das Robert Koch Institut (RKI) für Deutschland,

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 wo sich Reff schon Ende März um den Wert 1 stabilisiert und am 09. April bei 0,9 liegt.



Die Hauptgründe für diese erfreuliche Entwicklung sind die abgesagten Großveranstaltungen ab 11. März, das zunehmende Bewusstsein in der Bevölkerung, die schon vor dem Lockdown deutlich abnehmende Mobilität und Kontaktzahl, die zunehmende Aufmerksamkeit für Hygiene, aber auch die erfolgreiche Kontaktverfolgung und Eindämmung durch die Gesundheitsbehörden.



Die Basisreproduktionszahl R0 (R Null) und die effektive Reproduktionszahl (Reff) bleiben die am häufigsten falsch verstandenen, berechneten und präsentierten Parameter in dieser Pandemie. Auch ich habe in der Hitze so mancher Interviews die Begriffe falsch verwendet.



Christa Cuchiero, Professorin für Quantitatives Risikomanagement an der Universität Wien, und Josef Teichmann, Professor für Finanzmathematik an der ETH Zürich, liefern im Falter eine der besten Erklärungen:

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 »Die Basisreproduktionszahl muss kleiner gleich 1 werden, um exponentielles Anwachsen der Gesamtinfizierten zu verhindern. R ist die Anzahl der Personen, die ein infektiöser Mensch während der Ansteckungsperiode im Schnitt ansteckt, zu einem gewählten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort. Zur Bezeichnung: Die 0 in R bezieht sich auf den Zeitpunkt der Messung. Klarerweise ist R zeitlich veränderlich sowie veränderbar: Es hängt zum Beispiel davon ab, wie viele Nichtinfizierte es noch gibt, und welche Maßnahmen wir setzen, weshalb man manchmal auch von Rt oder Reff liest.«



Insgesamt stimmt mich auch diese Sitzung optimistisch, dass Österreich sehr gut durch die Krise kommen und es keine Überlastung der Krankenversorgung geben wird. Diesen Eindruck versuche ich auch allen Personen zu vermitteln, die in diesen Tagen Kontakt mit mir aufnehmen. Darunter auch Führungskräfte aus dem österreichischen Gesundheitssystem, die einen Zusammenbruch der Versorgung prophezeien und sich von mir kaum beruhigen lassen. Um ein Gefühl für die Belastung der hausärztlichen Versorgung zu bekommen, beschließe ich, Prognosen für die nächsten Wochen zu erstellen. Umso mehr freut mich, dass Niki Popper mir nach der Sitzung erzählt, dass es bereits Gespräche wegen eines COVID-Prognose-Consortium gibt und er optimistisch ist, dass sich eine eigene Gruppe für die Primärversorgung bilden wird. Um Mitternacht bin ich wieder zurück in Graz.





Montag, 16. März



Die am Wochenende im Eilverfahren beschlossene COVID-19-Verordnung ist in Kraft getreten. Sie bringt eine enorme Einschränkung der Bewegungsfreiheit, aber auch des gesamten sozialen Lebens. Wie Popper in der Sitzung befürchtet hat, geht die Politik auf Nummer sicher und reduziert die Kontaktzahl auf über 80%, was deutlich über dem modellierten Erfordernis liegt. Sie verstärkt aber auch den Überwachungs­staat.



Auf der Straße angehaltene Personen müssen vor der Polizei glaubhaft machen, dass sie sich gesetzlich erlaubt im öffentlichen Raum aufhalten. Die Verordnung greift massiv in unsere Grundrechte ein. Als Nicht-Jurist kann ich nicht einmal annähernd das Ausmaß abschätzen, was das für eine Demokratie, ihre Verfassung und individuelle Rechte bedeutet.



Obwohl ich viele Details nicht verstehe, sehe ich, dass die Verordnung zeitlich befristet ist. Aber das Ganze ist mir trotzdem unheimlich, und ich hoffe, dass diese Verordnung bald wieder aufgehoben wird. Mit so einer massiven Intervention hatte ich nicht gerechnet.



In der Früh habe ich einen Zahnarzttermin und schaue nach dem Eintreten in ernste Gesichter. Eigentlich hängt ein Zettel an der Tür, dass vor dem Eintritt angerufen werden soll. Den habe ich doch glatt übersehen. Nachdem ich der einzige Patient bin, haben wir rasch eine intensive Diskussion über das Risiko von Zahnärzten und Praxisteams aufgrund der Aerosole, die vor allem beim Kühlen der hochtourig arbeitenden Instrumente entstehen. Diese Suspension aus Flüssigkeit und Feststoffpartikeln mit einem Durchmesser bis zu 50µm, so mein Zahnarzt, können mehrere Meter weit getragen und bis zu 30 Minuten in der Raumluft nachgewiesen werden.



Na bumm, denke ich mir, schon wieder etwas gelernt. Meine Krone wird fachmännisch fixiert, und ich verspreche, mich schlau zu machen und Informationen zu schicken. Zu Hause angekommen, poste ich im Public Health Forum eine erste Prognose für die kommenden Wochen:





Im Folgenden versuche ich, die derzeit wohl wichtig­sten zwei Fragen zu beantworten: Was bedeutet das für die Bevölkerung und die Krankenversorgung in den nächsten 5 Wochen?







(Achtung! Glaskugel)







KW12: Die Anzahl der infizierten Personen wird weiter pro Tag um 40% zunehmen. Hoffentlich steigt der Anteil der infizierten Personen in der Hochrisikogruppe deutlich geringer. Die derzeitigen Quarantänemaßnahmen bleiben aufrecht. Junge und gesunde Personen können sich entsprechend den geltenden Regeln aber im Freien aufhalten und bewegen. Hochrisikopersonen sollten möglichst zu Hause und/oder auf Distanz bleiben und hoffentlich von der Gesellschaft gut unterstützt werden. Auf allen Ebenen der Krankenversorgung wird die Vorbereitung immer strukturierter. Regeln wie Testung und Quarantäne werden sinnvoll angepasst. Schutzausrüstung in ausreichendem Maß im Inland produziert. Es gibt einheitliche Algorithmen für alle Gesundheits- und Sozialberufe. Diese werden von ihren Fachgesellschaften tagesaktuell mit korrekten und praxisrelevanten Informationen versorgt. Das Chaos wird langsam geordnet, die Risikobewertung, Risikokommunikation und das Risikomanagement immer professioneller.







KW13: Die Anzahl der infizierten Personen wird weiter pro Tag um 30% zunehmen, sich der Anstieg aber verflachen. Hoffentlich steigt der Anteil der infizierten Personen in der Hochrisikogruppe deutlich geringer. Die derzeitigen Quarantänemaßnahmen werden für junge und gesunde Personen langsam gelockert. Sie können sich vermehrt entsprechend den geltenden Regeln im Freien aufhalten und bewegen. Hochrisikopersonen sollten möglichst zu Hause und/oder auf Distanz bleiben und hoffentlich von der Gesellschaft gut unterstützt werden. Auf allen Ebenen der Krankenversorgung steigt die Anzahl der COVID-19-Fälle. Vor allem in der Pflege und Allgemeinmedizin gibt es präzise und wissenschaftlich akkordierte Algorithmen, wie mit Verdachtsfällen und Krankheitsfällen umzugehen ist. Die Kommunikation innerhalb der Krankenversorgung wird immer professioneller. Schutzausrüstung ist in ausreichendem Maß vorhanden.







KW14: Die Anzahl der infizierten Personen wird weiter pro Tag um 15% zunehmen, sich der Anstieg also noch mehr verflachen. Hoffentlich bleibt der Anteil der infizierten Personen in der Hochrisikogruppe gering. Die derzeitigen Quarantäne­maßnahmen werden für junge und gesunde Personen weiter gelockert. Hochrisikopersonen sollten möglichst zu Hause und/oder auf Distanz bleiben und hoffentlich von der Gesellschaft gut unterstützt werden. Auf allen Ebenen der Krankenversorgung steigt die Anzahl der COVID-19-Fälle weiter. Vor allem in der Pflege und Allgemeinmedizin wird die Kombination aus Regelversorgung und Versorgung von COVID-19 zu einer immer größeren Herausforderung. In stark betroffenen Regionen fallen pro Woche bis zu 5% des Gesundheitspersonals wegen einer eigenen Infektion mit SARS-CoV-2 aus. Das erhöht die Belastung der anderen. In den Ambulanzen, auf den Stationen ist Hochbetrieb, ebenso auf den Intensivstationen. Die Situation bleibt aber gut bewältigbar. Die zusätzlich errichteten Kapazitäten werden nicht gebraucht.







KW15: Die Kurve mit der Anzahl der infizierten Personen hat den Peak erreicht und ist in manchen Regionen rückläufig.







KW16: Die Kurve mit der Anzahl der infizierten Personen fällt deutlich.





KW17:


Das soziale Leben in Österreich beginnt wieder. Die Bevölkerung atmet sichtbar durch. Auch die Hochrisikogruppe darf unter der Einhaltung bestimmter Regeln wieder am sozialen Leben teilhaben. Die Belastung der Krankenversorgung nimmt auf allen Ebenen spürbar ab.





Sommer und Herbst 2020: Die politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufarbeitung beginnt.





Am Nachmittag halte ich das erste von einer Reihe an Webinaren am Management Center Innsbruck. Die Zusammenarbeit mit Siegfried Walch funktioniert exzellent, und die Diskussion mit den Studierenden via Chat macht richtig Spaß.





Dienstag, 17. März



Ich schicke eine E-Mail an die steirische und österreichische Zahnärztekammer sowie meinen Zahnarzt, in der ich anhand von aktuellen Studien zeige, wie extrem hoch das Risiko von Zahnärzten und ihren Teams ist, sich anzustecken. Auf den Websites der Kammern finde ich dazu keine schnell auffindbaren Informationen. Auch an das Kabinett des Gesundheitsministers schreibe ich eine E-Mail:

»Die Stimmung in der Allgemeinmedizin droht zu kippen, bevor es richtig losgeht. Es braucht jetzt rasch zwei wichtige Botschaften: 1) Neue Testkriterien, die wissenschaftlich akkordiert (haben wir ja schon gemacht), alltagstauglich und im EU-Vergleich konsistent sind. Auch die Schweiz hat bereits neue Kriterien! Diese müssen rasch an alle niedergelassenen Allgemeinmediziner und alle anderen involvierten Akteure kommuniziert werden. Letztendlich auch der Bevölkerung. 2) Es braucht ein offizielles Informationsschreiben betreff Schutzausrüstung für die Allgemeinmedizin. Dieses sollte die aktuelle Situation ehrlich und korrekt kommunizieren. Was, bis wann, wie viel!«



Tanja Stamm vom Institut für Outcomes Research an der MedUni Wien kontaktiert mich mit der Idee einer Erfassung von symptomatischen Personen. Was in der Folge passiert ist ein Musterbeispiel an wissenschaftlicher Vernetzung: Ich hole Angelika Rzepka vom Austrian Institute of Technology (AIT) in die Gruppe, und gemeinsam mit Siegfried Walch haben wir innerhalb kürzester Zeit ein Studienprotokoll, Ethikantrag, App und die Unterstützung der Bürgermeister auf Tiroler und Vorarlberger Seite des Arlbergs.



Bereits eine Woche nach der Idee erfolgt die praktische Umsetzung einer vollkommen anonymisierten Online-Befragung. Solche Studien helfen dabei, Leitsymptome von COVID-19 und deren Verlauf besser zu erfassen. Ich bin begeistert von so viel engagierter Wissenschaft. Genau so etwas braucht es in so turbulenten Zeiten.



In der Süddeutschen Zeitung erscheint unter dem Titel »Die Dunkelziffer« ein sehr verständlicher und gut geschriebener Artikel über die Schwierigkeiten bei der Abschätzung der tatsächlichen Anzahl der Infizierten.

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 Die wesentlichen Botschaften lauten, dass die offiziellen Zahlen zur Corona-Pandemie nur einen Teil der Realität wiedergeben und die tatsächliche Zahl der Infizierten weit höher liegen dürfte. So meint der Mathematiker Thomas Götz von der Universität Koblenz-Landau:

»Ich halte es durchaus für plausibel, dass die realen Fälle um einen Faktor zehn oder mehr über der offiziellen Statistik liegen.«

 



Auch Daten aus China zeigen, dass die Tests dem Krankheitsbeginn um eine gute Woche hinterherlaufen und viele Infektionen unerkannt bleiben.



Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung ist aber zuversichtlich und meint:

»Wir bereiten aktuell einen Bluttest auf Covid-19-Antikörper vor, mit dem wir hoffentlich in einigen Monaten feststellen können, wie sich die Durchseuchung in der allgemeinen Bevölkerung entwickelt hat. Das erlaubt dann bessere Rückschlüsse auf die Dunkelziffer



In dem auf den Gesundheitsbereich spezialisierten Online-Journal STAT hat John PA Ioannidis einen Artikel über das Evidenzdesaster rund um die Corona-Pandemie geschrieben.

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 Ich bewundere Ioannidis schon lange. Er ist Internist, Epidemiologe, Statistiker und einer der weltweit führenden Gesundheitswissenschaftler. Seine Meinung gilt mir viel, umso mehr freut mich, dass er sich in der Pandemie zu Wort meldet.



Der Grundtenor des Artikels ist, dass wir noch viel zu wenig über das neuartige Coronavirus wissen und die drastischen Maßnahmen, die zu dessen Eindämmung empfohlen werden, mittel- und langfristig mehr gesundheitlichen, psychologischen, sozialen und ökonomischen Schaden anrichten als das Virus selbst. Seine Aussage »

Wenn sich das Virus eines Tages als gar nicht so todbringend erweise, wie befürchtet, dann wäre ein Elefant aus Angst vor einer Katze von der Klippe gestürzt«

wird in den kommenden Wochen noch oft zitiert, aber auch kritisiert.



Zeitgleich erscheint eine Modellierung des Imperial College of London unter der Federführung des Epidemiologen und Biomathematikers Neil Ferguson.

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 Er vergleicht für Großbritannien und die USA eine Strategie der Abschwächung (»mitigation«) mit der einer Eindämmung (»containment«). Das Ergebnis ist eindeutig. Großbritannien muss mit mehr als 500.000 und die USA mit über 2.000.000 Todesfällen rechnen, sofern die Regierung nichts unternimmt. Boris Johnson und das Weiße Haus reagieren und kündigen strengere Maßnahmen und Lockdowns an. Auch Holland und die Schweiz, die zunächst ebenfalls einen Kurs der Abschwächung präferierten, folgen. Die einzige Ausnahme bleibt Schweden, das zwar strengere Maßnahmen einführt, aber auf einen Lockdown verzichtet. Das Modell von Ferguson rechnet mit einer Sterblichkeit von 0,9%, einer Reproduktionszahl zwischen 2 und 2,6, einer Inkubationszeit von 5,1 Tagen, einer Infektiösität nach zwölf Stunden, auch bei asymptomatischen Fällen.



Alle diese Parameter können in dieser Phase der Pandemie nur geschätzt werden. Dazu gehört auch die Annahme, dass es keine natürliche Immunität gibt und die gesamte Bevölkerung anfällig für eine Erkrankung ist. Das Papier errechnet eine Lockdown-Phase von bis zu 18 Monaten. Vollkommen irre. Als ob es rund um das Virus kein Krankheitsgeschehen und keine anderen Determinanten von Gesundheit mehr gibt.



Ich stehe solchen apokalyptischen Modellierungen sehr kritisch gegenüber, auch wenn sie von einer renommierten Adresse kommen. Aber ich kenn mich viel zu wenig aus, um wirklich fundiert etwas auszusetzen und die Methode im Detail analysieren zu können. Vielleicht sind solche Studien auch einfach nur Warnungen, den Ernst der Lage keineswegs zu unterschätzen. Bleibt zu hoffen, dass sich die Realität deutlich positiver entwickelt, als es solche mathematischen Modelle prophezeien.



Im Moment scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein. In der Region Bergamo wird die Situation immer dramatischer. Die Berichte und Bilder zeigen ein Krankenversorgungssystem nahe am Kollaps. Was zu dem Zeitpunkt kaum jemand weiß ist, dass die Gesundheitsbehörden massive Fehlentscheidungen getroffen haben. Anstatt mildere Verläufe zu Hause zu versorgen, werden diese in die nächstgelegenen Krankenhäuser gebracht. Diese waren, wie immer um die Jahreszeit, rasch überfüllt, und viele infizierte hochbetagte Menschen wurden in Pflegeheime weiterverlegt. Schutzausrüstung ist Mangelware. Es infizieren sich unzählige Rettungskräfte, Ärzte, Pflegepersonen, Pflegeheimbewohner und Krankenhauspatienten.



Eine Hilfe der Europäischen Union ist nicht vorhanden. Stattdessen kommt sie aus China und Kuba. Während in der naheliegenden Schweiz und Österreich Intensivstationen leer stehen, kollabieren sie in den Städten Bergamo und Brescia. Einsparungen der von der rechten Lega geführten Regionalregierung haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass es in der reichen Lombardei nur 700 Intensivbetten für 10 Millionen Einwohner gibt. Das ist ein Viertel der österreichischen Kapazitäten.



Korruption,

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