Das Corona-Rätsel

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Samstag, 15. Februar, bis Sonntag, 23. Februar

Ich bin mit meiner Familie in Tirol Skifahren. Auf den Pisten und in den Gondeln ist sehr viel los. Ich verfolge zwar das Fortschreiten der Epidemie in Asien, eine Bedrohung für Europa oder Österreich sehe ich aber so wie Anschober nicht. Tagsüber sind wir oft bei meinen Eltern, die in einem renovierten, über 300 Jahre alten Bergbauernhof auf fast 1.300 m leben. Beide sind 86 Jahre alt und trotz diverser Wehwehchen noch ziemlich fit. In der Lombardei und Venetien wurden bislang 29 Erkrankungen und ein zweiter Todesfall gemeldet. Anschober meint in einem Interview, dass in Österreich erhöhte Aufmerksamkeit und Vorsicht gelten, es aber nach wie vor keinen Grund zur Panik gibt. Österreich ist eines der am besten vorbereiteten Länder der EU. Die Staatengemeinschaft unternähme unter Anleitung der WHO alles, damit aus der regionalen Epidemie keine globale Pandemie wird. Ich stimme ihm in allen Punkten zu.

Mit Interesse lese ich ein Interview von Martin Haditsch in den Oberösterreichischen Nachrichten. Haditsch ist Grazer, hat Medizin und Biologie studiert und ist ein anerkannter Experte. Er hat 2015 mit Herwig Kollaritsch, der ebenfalls Facharzt für Hygiene, Mikrobiologie und Tropenmedizin und Mitglied des Beraterstabs der Corona-Taskforce im Gesundheitsministerium ist, eine Firma gegründet, die Fortbildungen für Reise- und Tropenmedizin, Infektiologie und Migrationsmedizin anbietet. Im Gespräch mit der Tageszeitung gibt Haditsch vorsichtig Entwarnung, beurteilt das Virus als nicht besonders gefährlich und findet die Erregung rund um Covid-19 rational nicht nachvollziehbar. Er vermutet eine sehr hohe Dunkelziffer und eine Infektionssterblichkeit von 0,3%. Das höchste Sterberisiko haben hochbetagte Menschen mit chronischen Erkrankungen. Der Ursprung vieler Virus-Epidemien in Asien ist für ihn kein Zufall. Im »Dreieck Mensch, Vogel und Schwein« steigt die Wahrscheinlichkeit für das Überspringen eines Virus vom Tier auf den Menschen. Vor allem wenn Tiere und Menschen unter schlechten Hygienebedingungen eng zusammenleben. Regelmäßiges Händewaschen sei der wichtigste Schutz, das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes hält Haditsch nur für nützlich, wenn dieser mit dem Gesicht eng abschließt, was aber meistens nicht der Fall ist, da man dann schlecht Luft bekommt.

Mittwoch, 26. Februar

Meine Haupteinnahmequelle ist die Lehrtätigkeit an diversen Fachhochschulen und Universitäten quer durch Österreich. Ich bin in diese Tätigkeit eher zufällig hineingerutscht, nachdem ich 2002 nach dem Abschluss einer postgradualen Masterausbildung in Public Health von Neuseeland nach Österreich zurückgekehrt bin. Es hat mir von Anfang an Spaß gemacht, und ich habe auch sehr darauf geachtet, dass das so bleibt. Vor Neuseeland war ich ein Workaholic, der bis zu 300 Stunden pro Monat im Krankenhaus als Notarzt und Stationsarzt verbrachte. Eine verrückte, aber auch schöne Zeit. Eher zufällig bin ich im Sommer 2000 auf ein Stipendienprogramm vom Land Steiermark gestoßen, das 30 Personen mit Interesse an einer Public-Health-Ausbildung umgerechnet 10.000 Euro Unterstützung versprach. Eine solche Ausbildung ist seit Jahrzehnten in vielen Ländern eine Grundvoraussetzung für Führungstätigkeiten im Gesundheitssystem, existierte aber damals in Österreich noch nicht.

Spontan schrieb ich eine Bewerbung, und einige Monate später reisten meine damalige Frau und ich für 20 Monate ins Land der langen weißen Wolke. Es war eine großartige Zeit, in einem fantastischen Land mit damals noch uneingeschränkten Möglichkeiten, wild zu campieren, bergzusteigen, zu klettern, und einsame Gegenden tagelang zu durchwandern. Die Masterausbildung war spannend und neu, aber die wiedergewonnene Freiheit und das Gefühl, nach Jahren endlich wieder einmal ausgeschlafen zu sein, war lebensverändernd. Ich fuhr im Herbst 2002 mit drei Vorsätzen zurück nach Österreich. Erstens, nie mehr in einem hierarchischen System zu arbeiten, wo mir jemand sagt, was zu tun ist. Zweitens, nur mehr Tätigkeiten anzugehen, die mich interessieren, und drittens, sukzessive immer mehr Zeit zu gewinnen, über die ich frei verfügen kann. Zeit wurde zur wichtigsten Ressource in meinem Leben.

Am Aschermittwoch gestalte ich einen ganzen Tag im Universitätslehrgang für Führungskräfte im Gesundheitswesen im Schloss Sankt Martin bei Graz. Die WHO hat gerade ihren 37. Situationsbericht veröffentlicht.6 Weltweit gibt es bereits 81.109 bestätigte Fälle von COVID-19, davon 2.918 außerhalb von China, 379 in Europa, davon 18 in Deutschland, 13 in Großbritannien, 12 in Frankreich und zwei in Österreich. Italien ist mit 322 Fällen bereits am stärksten betroffen. Aufgrund der wachsenden Bedeutung des Themas für das österreichische Gesundheitssystem starte ich damit in den Vormittag. Die Studierenden sind alle erfahrene Führungskräfte im steirischen Gesundheitssystem. Rasch wird klar, dass in den Krankenhäusern und Pflegeheimen zu wenig Schutzausrüstung vorhanden ist und deren Beschaffung ein fast unlösbares Problem darstellt. Wir diskutieren ausführlich über Eindämmungsmaßnahmen und die Notwendigkeit, Personen mit hohem Risiko gut zu schützen. Ich bin noch immer der festen Überzeugung, dass es den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemeinsam gelingt, die Epidemie einzudämmen und die Zahl der infizierten Personen klein zu halten. Was für ein Irrtum!

Freitag, 28. Februar

Ich poste folgenden Text in das Public Health Forum:

»Das Coronavirus SARS-CoV-2 ist in Österreich angekommen. Zeit für ein Zwischenfazit aus der Public-Health-Perspektive:

1) Noch nie wurde einer Erkrankung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie COVID-2019, noch nie hat ein Thema die Weltbevölkerung so dominiert. Es wird in den Medien live-getickert, es gibt ein Live-Update im Internet, in den sozialen Medien brodelt die Gerüchteküche, und viele wissenschaftliche Journals, aber auch führende Gesundheitsorganisationen haben Informationsplattformen eingerichtet.

2) Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht nach wie vor von einer Epidemie, und alle Maßnahmen zielen darauf ab, das Virus zu eliminieren, bevor es sich, so wie die Influenza, zu einem saisonalen globalen Ereignis bzw. einer Pandemie ausweitet. Darum auch diese drastischen Maßnahmen, wie Zwangsquarantäne, Betriebs- und Schulschließungen, die Suche nach Kontaktpersonen, Flächendesinfektionen, Polizeieinsätze, Zuganhaltungen usw. Bei welchem Szenario diese Strategie aufgegeben und mit SARS-CoV-2 ähnlich umgegangen wird wie mit der saisonalen Influenza bleibt offen. Interessant dazu das Interview mit Cornelia Lass-Flörl, Direktorin des Departments für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie der Medizinischen Universität Innsbruck. 7

3) Die Zahl der infizierten Personen im Ursprungsland China geht inzwischen leicht zurück. Derzeit wurden zirka 80.000 positiv getestet, und bei zirka 3.000 wird SARS-CoV-2 als Todesursache angegeben. Das scheint einer Letalitätsrate von 3,8% zu entsprechen. In Wirklichkeit dürfte sie viel niedriger liegen und hat viele potentielle Verzerrungen, wie Demografie, Gesundheitszustand, Raucherstatus, Qualität der Krankenversorgung etc.

4) In Österreich erfolgen die Risikobewertung und Risikokommunikation recht gut. Die Politik agiert besonnen, und auch alle interviewten ExpertInnen informieren sachlich und unaufgeregt. Die AGES hat eine informative Website eingerichtet. Auf Seiten der Medien ist Ö1 wie immer ein verlässlicher Fels inmitten einer vor allem vom Boulevard zelebrierten, irrationalen Medienhysterie. Wie dadurch die öffentliche Wahrnehmung beeinflusst wird, erklärt Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz in Berlin. 8

5) In Österreich gibt es nach über tausend negativen Testungen sechs positive Fälle. SARS-CoV-2 assoziierte Todesfälle sind bis dato nicht aufgetreten. Ich wage wieder einmal eine optimistische Prognose und rechne hierzulande mit weniger als 1.000 positiv getesteten Fällen und weniger als 10 bis 20 SARS-CoV-2 assoziierten Sterbefällen im Jahr 2020. Das entspräche einer Letalitätsrate von 0,1 bis 0,2%. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Infektion von besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen, v. a. Hochbetagten mit mehreren chronischen Erkrankungen oder Menschen mit Immunschwäche, zu verhindern. Also exakt jenen Personen, für die auch die anderen 300 bis 400 Erkältungsviren mehr oder weniger gefährlich werden können. 9 Das RNA-Virus SARS-CoV-2 wird uns, wahrscheinlich in genetisch modifizierten Formen, wohl noch mehrere Jahre begleiten.

6) Genau deshalb wird es, so wie bei der Influenza, schwierig sein, einen effektiven Impfstoff zu entwickeln. Bis dieser verfügbar ist, werden noch Monate vergehen. Und so wie bei der Influenza ist auch der Nutzen von antiviralen Medikamenten aufmerksam und kritisch zu bewerten. Einen zweiten Milliardenflop und Datenschwindel wie beim Neuraminidase-Hemmer Tamiflu® sollte die wissenschaftliche Community verhindern. 10

7) Österreichs Krankenhäuser hatten zwei Monate Zeit, sich auf die ersten nationalen Fälle vorzubereiten. Gesichtsmasken sind zwar schon knapp, aber ansonsten scheinen die Prozesse gut zu laufen. Auf die Primärversorgung wird hierzulande wie immer so lange vergessen, bis Land oder Österreichische Gesundheitskasse bemerken, dass auch im Falle einer Epidemie dort 90% aller Kontakte mit dem Gesundheitssystem stattfinden und ­DistriktsärztInnen keine unwichtige Berufsgruppe sind. Auf Empfehlungen bzw. Leitlinien für HausärztInnen oder Infomaterial für die Ordinationen wurde lange vergessen. Bleibt zu hoffen, dass alle Gesundheits- und Sozialberufe in der Primärversorgung zumindest ausreichend Schutzausrüstung erhalten haben.

 

8) Mit zweimonatiger Verspätung reagieren auch die Börsen. Der wirtschaftliche Schaden ist enorm. Wie die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 andere Determinanten von Gesundheit in den betroffenen Ländern beeinflussen und wie hoch der gesundheitliche (Kollateral-)Schaden dieser Maßnahmen ist, hat bis dato noch keine Studie erhoben. Mit Sicherheit werden diese gesundheitlichen Auswirkungen weit länger andauern als jene von SARS-CoV-2.« 11

So falsch ich mit meiner viel zu optimistischen Einschätzung bei den österreichischen Erkrankungs- und Todesfällen lag, so korrekt erkannte ich schon damals die Dimension möglicher indirekter Schäden und Nebenwirkungen, die durch die Eindämmung der Pandemie entstehen.

Samstag, 29. Februar

Am Freitag hat Claudia Wild, Leiterin des Austrian Instituts of Health Technology Assessment (AIHTA), über die Methoden und Anwendungsgebiete von Technologiefolgenabschätzung im Gesundheitsbereich referiert. Ich kenne Claudia schon lange und schätze sie sehr. Gemeinsam haben wir einige Texte verfasst und zwei Pandemien wissenschaftlich begleitet. Zuletzt die vom H1N1 Influenzavirus ausgelöste Schweinegrippe im Winter 2009/2010.

Nach Kontaktaufnahme mit Epidemiologen auf der Südhalbkugel stellten wir schon im Sommer 2009 fest, dass dieser H1N1 Influenzavirus nicht so tödlich ist, wie manche Virologen, darunter auch Christian Drosten, nicht müde wurden zu betonen. Drosten hatte damals der Süddeutschen Zeitung gesagt: »Bei der Erkrankung handelt es sich um eine schwerwiegende allgemeine Virusinfektion, die erheblich stärkere Nebenwirkungen zeitigt, als sich irgendjemand vom schlimmsten Impfstoff vorstellen kann.«12

Am Ende der Virensaison waren in Deutschland offiziell 257 Menschen an den Folgen der Schweinegrippe gestorben. In Österreich waren es 40. Alle verstorbenen Personen hatten Vorerkrankungen. Im Sommer 2010 erklärte die WHO die Pandemie für offiziell beendet und zählte 18.500 Tote in 200 Ländern, bei denen im Labor der H1N1 nachgewiesen wurde.

Im März 2010 erschien das von Claudia Wild und Brigitte Piso herausgegebene Buch »Zahlenspiele in der Medizin«, zu dem ich zwei Kapitel, unter anderem eines zur Schweinegrippe, beitragen durfte. Das Fazit dieses Kapitels lautet: »Da Politik ›aktivitätsgetrieben‹ ist, ist ein ›vernünftiger/angemessener‹ und kosteneffektiver Umgang mit heutigen und zukünftigen Risiken notwendig. Eine Kultur von evidenzbasierter Risikokommunikation ist dringend zu empfehlen und jedenfalls kosteneffektiver, als ›Getriebene von Bedrohungen‹ zu sein. Zu einer Risikokommunikation gehören die in diesem Buch immer wieder gesagten Dinge: Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Zahlen, Hinterfragung der Datenqualität, Risiken in Relation betrachten, alternative Mittelverwendung bedenken, Interessen der Hauptakteure erkennen, Profitierende sehen und benennen. Denn in einem Jahrhundert, in dem die private und geschäftliche Reisetätigkeit hoch ist, wird jedenfalls ab jetzt wohl öfter von Pandemien die Rede sein.«

Am Freitagabend chauffiere ich Claudia zum Bahnhof nach Graz. Wir haben uns über viele Dinge unterhalten, das neuartige Coronavirus war nur kurz Thema. Am Samstag bin ich wieder im Führungskräftelehrgang an der Reihe. Der Lehrgangsleiter liegt mit einer Lungenentzündung im Landeskrankenhaus Salzburg. Schuld ist, trotz Grippeimpfung, ein Influenzavirus. Im Lehrgang reden wir wieder über das Coronavirus, aber nur kurz. Am Abend gehen meine Lebensgefährtin und ich wieder in das Grazer Schauspielhaus und schauen uns das Stück »Vögel« von Wajdi Mouawad an. Es ist ausverkauft.

Sonntag, 01. März

Ich poste folgenden Text in das Public Health Forum:

»Im aktuellen New England Journal of Medicine (NEJM) erschien ein Update zur Situation in China. 13 Dazu wurden 14,2% (n=1.099) von gesamt 7.736 Patientinnen und Patienten analysiert, die in Krankenhäuser aufgenommen wurden. Das Durchschnittsalter lag bei 47 Jahren, 42% waren weiblich, 58% männlich. 5% mussten intensivmedizinisch behandelt werden, 1,4% (n=15) verstarben. Die mittlere Verweildauer betrug 12 Tage. Nachdem bei allen nicht verstorbenen Personen von einer vollständigen Genesung – zumindest in Bezug auf COVID-2019 – ausgegangen werden kann, sollte der Fokus auf den Charakteristika dieser 15 Personen liegen. Leider liefert die Studie »Clinical Characteristics of Coronavirus Disease 2019 in China« trotz ihres vielversprechenden Titels dazu keine detaillierten Angaben. Anzunehmen ist, dass es sich ausschließlich um hochbetagte, multimorbide, immunschwache Personen handelt. Die aktualisierte Letalitätsrate von 1,4% entspricht somit jener von hospitalisierten, aber noch immer nicht jener aller infizierten Personen. Das erwähnen die Autorinnen und Autoren auch im Diskussionsteil der Studie. So wurden sicher auch in China viele asymptomatische und milde Verläufe in kein Krankenhaus aufgenommen und damit auch nicht Teil der Auswertung in dieser Studie (Selektionsbias). Sollte diese Gruppe 50% bzw. 90% der Infizierten ausmachen, läge die Letalitätsrate bei 0,7% bzw. 0,2%.

Was heißt das für Österreich? Hierzulande sind wir auf COVID-2019 viel besser vorbereitet, als es China war. Allein die rasche Ausbreitung deutet darauf hin, dass die Anzahl der asymptomatischen und milden Verläufe deutlich über den immer publizierten 81% liegt. Damit würde auch der Prozentsatz der intensivmedizinischen Fälle deutlich sinken. Letztendlich wird auch die im Vergleich bessere intensivmedizinische Versorgung in Österreich die Letalitätsrate weiter senken. Erst im Rückblick werden wir feststellen können, wie hoch sie in China oder anderen Ländern wirklich war. Für Österreich erscheinen 0,1 bis 0,2% durchaus plausibel. Dieser Einschätzung folgt auch das Editorial in der gleichen Ausgabe des NEJM. 14 Sollten sich also in den nächsten Wochen 10.000 Menschen in Österreich mit SARS-CoV-2 infizieren, müssten wir mit 10 bis 20 SARS-CoV-2 assoziierten Todesfällen rechnen. Bei 100.000 Infizierten wären es 100 bis 200 Todesfälle. Eine noch höhere Anzahl von Infizierten erscheint uns bei der derzeitigen hohen Aufmerksamkeit und Intensität der Gegenmaßnahmen sehr unrealistisch. Zum Vergleich: Jährlich sterben zwischen 50 und 500 Personen an der Influenza (2009/2010 waren es exakt 40) und 2.500 bis 3.000 an einer im Krankenhaus erworbenen (nosokomialen) Infektion.«

Innerhalb von zwei Tagen habe ich meine Glaskugel neu kalibriert, und plötzlich liege ich mit meinen damaligen Prognosen nicht mehr ganz so falsch.

Montag, 02. März

Das Public Health Forum erwacht, und es ergibt sich eine intensive Debatte darüber, ob das neue Coronavirus mit den bekannten Influenzaviren verglichen werden kann. Ich eröffne diesen wissenschaftlichen Austausch:

»Normalerweise sollten wir uns bei der Influenza-spezifischen Mortalität auf das Todesursachenregister verlassen können. Aber aus mehreren, empirisch noch nicht wirklich gut erhobenen Gründen ist das nicht so. Also modellieren wir. In der Regel nach EuroMomo – www.euromomo.eu. Vereinfacht gesagt: Die Übersterblichkeit (Excess Mortalität) an Influenza wird aus der Differenz zwischen beobachteter Gesamtmortalität während einer Influenza­saison und der Mortalität, die in der gleichen Periode ohne erhöhte Influenzaaktivität zu erwarten wäre, berechnet. Und plötzlich ist die Influenza-spezifische Mortalität 100-mal so hoch wie im Todesursachenregister. Ein echter Zaubertrick.

Kritik an diesen Modellierungen gibt es erstaunlich wenig, obwohl sie natürlich viele Limitierungen haben. Die Diskussion belebt hat die Influenza­saison 2009/2010, in der wir, dank Pandemiegesetz, die Influenza-spezifische Mortalität relativ genau bestimmt haben. Jeder Verdachtsfall wurde serologisch abgeklärt. Zwischen Oktober 2009 und April 2010 waren es exakt 40 Influenza-assoziierte Sterbefälle. Alles schwer vorerkrankte Personen. Haben wir einfach nur Glück gehabt? Oder war unsere Aufmerksamkeit trotz Pandemiegesetz nicht hoch genug? Ich glaube nicht.

Die großen Unterschiede zwischen prognostizierten und tatsächlichen Influenza-assoziierten Sterbefällen in der Saison 2009/2010 führten zu einigen Diskussionen. So schreibt der kanadische Mediziner Kumanan Wilson vom Department für Medizin in Ottawa 2012 im European Journal of Public Health: ›Die großen Unterschiede zwischen prognostizierten und tatsächlichen Influenza-assoziierten Sterbefällen lässt annehmen, dass es ein grundsätzliches Problem gibt, wie Influenzasterblichkeit geschätzt, gezählt oder verglichen wird.‹ 15

2017 hat eine Systematische Übersichtsarbeit verschiedene Modellierungsmethoden zur Influenza-spezifischen Mortalität verglichen. Wenig überraschend: ›Die Schätzungen stiegen mit dem Alter und variierten sehr von -0,3 bis 1,3 respiratorischen Todesfällen pro 100.000 Kindern und 0,6 bis 8,3 pro 100.000 Erwachsenen, bis zu 4 bis 119 respiratorischen Todesfällen pro 100.000 älteren Menschen.‹ 16

Die Ergebnisse der Modellierungen variieren also um den Faktor 10 bis 100! Mein persönliches Fazit: Ich traue diesen Modellierungen nicht. Auch nicht der Modellierung der AGES. Aber ich hätte, neben dem oben angeführten Review, natürlich auch gern mehr belastbare Evidenz, die mein Misstrauen gut belegen.«

Auch andere Wissenschaftler im Forum stellen Vergleiche mit der Influenza an, und ich beende das Match zwischen den beiden Erkältungsviren mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit eines Risikomanagements:

»Letztendlich ist es immer eine Frage der Risikobewertung und Risikokommunikation. Es ist aber ein sehr großer Unterschied, ob ich die Situation als verantwortlicher Gesundheitspolitiker bewerte und kommuniziere oder als Expertin im Nachrichtenstudio oder in einer relativ geschützten Public Health Google Gruppe.

Es ist für eine abschließende Bewertung viel zu früh. Trotzdem sehe ich schon ein Muster, das sich bei diesen epidemiologischen Großereignissen wiederholt. Anfangs ist die Wissenschaft vorsichtig. Es gibt wenig Daten und eine Vielzahl an Szenarios. Die Wissenschaft kommuniziert diese Unsicherheit. Ungeachtet dessen beginnt sich in den Medien (v. a. sozialen Medien) die Eskalationsspirale hochzuschrauben. Tausende Tote werden aufgrund der H1N1-Pandemie oder Ebola prognostiziert. Im weiteren Verlauf werden die Informationen immer besser und genauer. Gezielt beantwortet die Wissenschaft wichtige Fragestellungen. Aber auch wenn diese wissenschaftliche Bewertung professionell kommuniziert wird, dauert es unendlich lange, bis auch in den Medien und der Bevölkerung die Deeskalation beginnt. Statt Tausender Tote nur mehr Hunderte – und am Ende sind es, auch dank erfolgreicher wissensbasierter Gegenmaßnahmen, bei H1N1 in Österreich 40 und bei Ebola in ganz Europa 0 (null).

Ganz das Gleiche passiert jetzt wieder. Anfangs herrschte auch in der Wissenschaft große Unsicherheit, wie das Risiko aufgrund dieses neuen Coronavirus zu bewerten ist. Inzwischen haben wir aber deutlich mehr Informationen über das Virus und wichtige epidemiologische Kennzahlen. Die Letalitätsrate sank von 7% auf inzwischen 0,1% (über alle Bevölkerungsgruppen und Infizierten gerechnet), die Zahl der Neuinfektionen ist in manchen Regionen rückläufig, die Zahl der prognostizierten Sterbefälle in Österreich wird auch bald sinken. Wäre einmal eine Public-Health-Tagung wert; ›Risikobewertung und Risikokommunikation im Kontext des Public Health Action Cycles‹. Da könnten wir auch ausführlich über die Influenza debattieren.«