Täubchen alla Boscaiola

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3. Kapitel

Die Nacht war kaum vergangen, der Himmel erhellte sich bereits, und wie von den Schreien der ersten Schwalben verjagt, verschwand der letzte Stern, da saß der Pfarrer von Castellina al Monte Largo in der Stille des Morgens am Bach, auf einem Felsen am Ufer, unbeweglich, die leichte Bambusgerte in der Hand, denn der Pfarrer war gekommen, um den Fischen aufzulauern, womöglich dem Berghecht.

Diesmal war der Pfarrer nicht allein beim Fischen. An diesem Morgen saß am anderen Ufer, wie sie es verabredet hatten, Signor Botello, und hielt die Angelrute vor sich wie eine Axt. Der schöne klare Morgen erschien ihm nach der letzten schlaflos verbrachten Nacht nicht jung und verheißungsvoll, sondern eher wie ein trüberer Abend, nur kühler und blasser.

Neidisch schaute Signor Botello mit einem Auge auf den eigenen Kork, mit dem anderen auf den Kork des Pfarrers, der diesmal eine schöne glitzernde Forelle aus dem Wasser gezogen hatte. Als alter ehemaliger Fischer war Signor Botello an ganz andere Fänge auf dem weiten Meer gewöhnt, bei den großen Fischdurchzügen.

Wenn an Bord die Salzbrühe hergerichtet und das Eis im Laderaum zerhackt wurde, waren so viele Fische da, daß sie einem zum Ekel wurden, und jetzt war es so schwer, ein gutes Mittagessen für zwei Personen zusammenzubringen, von denen der eine noch dazu mehr aß als eine ganze Bruderschaft. Gegen die Menschen allerdings war der Alte, dank der Einladung des Pastors, an diesem Morgen sanft gestimmt wie der Karpfen, der friedlich und ahnungslos am Bachufer grundelte.

So saßen sie, jeder auf einer Seite des Baches, und es entspann sich ein merkwürdiges Gespräch. Das heißt, ein wirkliches Gespräch war es nicht. Signor Botello hatte wenig zu sagen, noch weniger ließ ihn der Pastor zu Wort kommen. Der, welcher redete, war der Pastor, häufig unterbrochen von Geräuschen, einem dumpfen Zürnen, das vom anderen Ufer kam. Der alte Mann hörte zu und betrachtete dabei den tanzenden Kork, um sich an irgendetwas festzuhalten, und sei es auch nur an diesen verschwimmenden Kreisen um den Korken herum, im durchsichtigen Wasser. Dann wieder sah er den Pastor wegen seines eigenen mageren Fischzugs scheel und neidisch an. Es sah wirklich nicht so aus, als ob der eine Fischer im Beichtstuhl kniete und der andere der Beichtiger war. Und doch war es so, oder wenigstens sehr ähnlich.

„Hmm! Das sollte ich alles vergessen haben?“, sagte Signor Botello. Der Pfarrer nickte.

„Die Leute haben recht, wenn sie sagen, daß mir die Vögel das Gedächtnis ausgepickt haben!“

„Wirklich?“

„Teufel auch! - Verzeihung, Pastor . . . !“ Er kratzte sich nachdenklich den Kopf, „Gestern hast du mir gesagt . . . “

„Ich sprach von der Liebe, ich weiß . . . “, sagte der Pfarrer. Der alte Botello brauste auf,

„Was weißt du denn von der Liebe - und von der Eifersucht? Du . . . “ Er verschluckte den Rest des Satzes, der jedenfalls die Worte 'Kaftan' und 'Weiberrock' enthalten sollte.

„Mehr, als du dir vorstellen kannst . . . “, entgegnete der Pfarrer ruhig.

„Ach!“ lachte der Alte. Beim Lachen mußte er husten. Während er lachte und hustete, konnte er den Pfarrer nicht ansehen, und als er ihn wieder klar mit den Augen erfaßt hatte, war es ihm mit einem Male, als verstünde er endlich die Worte des Pastors, die ihn zum Nachdenken aufforderten und zur Verzeihung mahnten und dieses Leben auf beständiger Lauer, wie er es führte, aufzugeben.

Es war so, als würde die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen beiden auf einmal wieder lebendig. Signor Botello wollte versuchen, sich ruhig dieser Vertraulichkeit überlassen, ohne es nötig zu haben, jedes einzelne Wort, das er hörte oder sprach, wie auf der Goldwaage abzuwägen. Und wieder - und genauso unerwartet wie tags zuvor auf dem Klostervorplatz - überkam ihn der Wunsch, von den Herbstblättern zu erzählen, die er in seinem Hut gesammelt hatte, wie einen Schatz. Von dieser ungewohnten Stimmung brummte ihm leicht der Kopf. Er machte Anstalten, sich bequemer hinzusetzen, um wenigstens seine Angelrute besser halten zu können.

„Hör einmal", begann der Alte endlich etwas mühsam, „Weißt du, ob ich bezahlen muß, damit die Glocken läuten - beim meinem Tode?“ Es war nicht das, was er sagen wollte, aber er fand keine anderen Worte.

„Natürlich mußt du bezahlen!“

„Ich möchte gern, daß eine Glocke - wenn auch nur eine winzig kleine - wenn auch nur für wenige Schläge . . . “ Signor Botello lächelte verlegen.

„Ich kann jeden Abend,“, sagte der Pfarrer trocken, „wenn du zur Messe in die Kirche kommst, ein paar Lire von der Kollekte beiseite packen, und behaupten, du hättest sie mir zu diesem Zweck in den Opferstock geworfen . . . “

„Ich fürchte, da wird nicht viel zusammen kommen!“, brummte der Alte.

„Sie war doch noch fast ein Kind damals!“, sagte der Pfarrer jetzt.

„Meinst du Luisa?“, erwiderte Signor Botello, der Pfarrer nickte.

„Ich war freilich ein ganz anderer Kerl als jetzt,", fuhr der Alte fort, „auch noch recht jung . . . “

„Luisa war noch viel jünger! Überleg einmal!“

„Ich hätte besser aufpassen sollen!“

„Man kann eine junge Frau nicht gut einsperren. Außerdem: vergiß nicht! Sie wurde dir schließlich anvertraut!“

„Und wie hat sie das Vertrauen belohnt?“ Der Alte brauste auf.

Die Erinnerung an die erlittene Ungerechtigkeit verlieh ihm Kraft. Und nun bekannte sich dieser Pfarrer, sein alter Kamerad, der doch ein abgeklärtes und friedliches Leben führte, sogar noch zu einem Leben in der Ungerechtigkeit, das aber er, Botello, ertragen sollte? Er fühlte sich nackt und wehrlos und betrogen und sah in dem Pfarrer schon wieder seinen Feind.

„Hast du ihr denn eigentlich jemals vertraut?“, sagte der Pfarrer jetzt.

„Ja, wenn ich die Wahrheit wüßte . . . “, antwortete der Alte ausweichend, denn er fand die Bermerkung seines Freundes hinterhältig.

„Würdest du ihr dann vergeben können?“, bohrte der Pfarrer weiter.

„Wenn ich sie wüßte! - “

„Vergeben ist immer schwer. - Vergessen ist leichter.“, sagte der Pfarrer.

„Kannst du selbst denn - wirklich vergeben?“, fragte Signor Botello und sah den Pfarrer prüfend an.

„Ob ich es wirklich kann,“, antwortete dieser, „Das weiß ich nicht, aber es gab einen, der es konnte.“

„Das ist lange her!“

„Lange zwar, aber nicht so lange, daß es vergessen wurde.“

Signor Botello schwieg, und dabei kam ihm ein anderes, neueres Unrecht in den Sinn, etwas, das sich immer wieder ereignete hatte und weiter ereignete. Beim Denken daran fing er an, sich erneut zu erregen, bis es endlich aus ihm herausbrach:

„Weißt du,“, sagte er mit ärgerlicher Stimme „daß Toccabellis Schweine schon wieder in meinem Kohlgarten waren?“

„So?“ murmelte der Pfarrer wenig interssiert und starrte auf das Wasser hinab.

„Wenn das noch einmal passiert, werde ich etwas tun müssen!“

„Was denn?“, fragte der Pfarrer.

„Ich habe schon eine Idee!“

„Ach, - und welche?“

„Das werde ich dir gerade verraten.“, sagte Signor Botello listig, und malte sich in Gedanken aus, was er zu tun gedachte.

„Wie du willst! Was habe ich mit Toccabellis Schweinen zu tun?“

„Du - nichts! Aber ich! Drei Kohlköpfe haben die Schweine gestern gefressen!“

„Von wievielen?“, fragte der Pfarrer.

„Das spielt keine Rolle!“, erwidert Signor Botello aufbrausend und rüttelte an seiner Angel, als sei diese eine Waffe, „Außerdem fressen sie die Eicheln in meinem Eichenwäldchen!“

„Laß sie fressen!“, sagte der Pfarrer gleichmütig, „Du ißt sie doch nicht! Aber du lenkst ab. Was ist nun mit Luisa? Wirst du dich mit ihr versöhnen?“ Eine Zeitlang herrschte Schweigen, nur das sanfte Murmeln des Wassers war zu hören, und ab und zu der Gesang einer Lerche hoch oben im Himmel.

„Ich traue den Menschen nicht mehr!“, sagte der Alte endlich, „Oder anders gesagt: ich traue ihnen alles zu!“

„Auf diese Weise kommt man dazu, Freundschaft mit den Steinen zu schließen.“, sagte der Pfarrer.

„Wenn ich die Wahrheit wüßte!“ wiederholte der Alte und fühlte sich ertappt.

„Das würde auch nichts ändern! Die arme Luisa hat nun lange genug gelitten.“

„Ich habe mehr gelitten . . . “

„Vielleicht noch nicht genug!“

Bei diesen Worten überkam den Alten wieder die Erinnerung und die Wut und die Scham und die Empörung und der alte Schmerz und er kam sich auf einmal wie frisch betrogen vor.

„Genug! Herr Pastor!“ rief er, „Soll ich etwa in Deinen Orden eintreten?“ Der Pfarrer blieb ganz ruhig,

„Das ist nicht notwendig!“

„Du redest von Dingen, die nur Dichter und Heilige verstehen können.“ Der alte Mann sprang auf, warf seine Angelrute wütend über die Schulter, „Ich kann nicht vergeben! Ich kann nicht verzeihen!!“ und stapfte ohne Gruß davon.

Der Pfarrer begriff, daß er die Schraube überdreht hatte. Nun würde es eine ganze Zeit dauern, bis er wieder mit dem alten Botello würde reden können. Er war einen Moment lang unwillig, wunderte sich über die schroffe Art und Weise, in der sein Kamerad verschwunden war, sah ihm nach, ruhig, neugierig, was nun geschehen würde. Es geschah nichts. Er zuckte mit den Schultern und wendete sich zum Bach, sah voller Geduld auf den Kork, der im Wasser schwamm. Dann erhellte sich seine Miene, ein überirdisches Leuchten verschönte seine Züge, sein Kork hatte begonnen, irrsinnige Kreise zu ziehen und er wußte, - endlich hatte der Berghecht angebissen!

4. Kapitel

Pauline hatte zum ersten Mal, in all den Wochen, seit sie hier oben in diesem ehemaligen Bauernhof lebte, schlecht geschlafen. Immer wieder hatte sie wachgelegen. Der Boiler im Bad hatte geknistert, eine Mücke gesirrt im Zimmer. Trotz der Steinböden hatte es ständig irgendwo in dem weitläufigen Haus geknarrt, hatte es unerklärliche Geräusche gegeben, eine zitternde Unruhe die ganze Nacht hindurch. Erst gegen Morgen war sie etwas fester eingeschlafen.

 

Die Pferde hatten sie dann geweckt mit ihrem Wiehern. Noch im Nachthemd und Morgenmantel ging sie hinaus in den Garten. Draußen war es frisch und auf dem Gras lag noch Tau. Rasch pflückte sie ein paar kleine Blümchen, und eilte zurück in ihr Zimmer, immer in Sorge, Raphael in diesem Aufzuge zu begegnen.

„Guten Morgen, Philipp!“, begrüßte sie das Foto ihres Sohnes auf dem Nachttisch, „Herzlichen Glückwunsch!“, und legte die kleinen Blumen davor. - Nachher mußte sie ihn anrufen! Unbedingt! Nicht vergessen! -

Ihr Sohn, der jetzt in den Ferien bei seinem Vater war, war heute zehn Jahre alt geworden; - der erste Geburtstag, den er ohne seine Mutter erlebte. Wie würde das sein für ihn? Wahrscheinlich würde sein Vater mit ihm im Motorsegler an die Ostsee fliegen, nach Rügen, das war des Jungen sehnlichster Wunsch gewesen. Jahrelang hatte sie sich dagegen gewehrt, daß er den Jungen in diesem zerbrechlichen Gerät zum Fliegen mitnahm, jetzt war es nicht mehr zu verhindern.

Diese Ferien in Sizilien hatte sich Pauline so schwer erkämpft, auch gegen eigene innere Widerstände erstritten, - wenigstens für ein paar Wochen die Pflichten loszuwerden, sich einmal für lange Zeit, - sechs Wochen waren es! - ganz der Kunst, ihrer geliebten Bildhauerei und der Malerei widmen zu können, diesen alten Traum endlich einmal leben, nicht immer nur davon träumen!

Schnell machte sie sich fertig und ging wieder hinaus. Alles war wie neu an diesem Morgen; alles in dem weiten Gelände war, als ob sie es zum ersten Mal sah. Die Pferde kamen neugierig angetrabt und schnupperten an ihr. Die Tiere, die Kette der Berge im Morgendunst, die frische Luft gaben ihr eine Erlaubnis, ja, eine Freude am Leben, wie sie sie selten empfunden hatte.

Vorsichtig ging sie um das Haus herum, sah suchend die kleine steile Treppe hoch, die zu Raphaels Zimmer führte, seinem Schwalbennest, - die Tür und das Fenster daneben standen offen. Er war also schon aufgestanden!

Vorsichtig lief sie ein wenig weiter in den Garten hinein, und da hatte sie Raphael auch schon entdeckt. Unter einer der Pinien, an ihrem Frühstücksplatz, saß er und las die Zeitung. Eine Kanne stand schon da, wohl mit heißem Kaffee, und ein Tablett mit Geschirr. Offenbar hatte er selbst das Geschirr geholt und hierher geschleppt. - Alles war bereit für ein Frühstück hier draußen, unter den Pinien, angesichts der Bergkette, der Ausläufer des Ätnamassivs. Und - er hatte noch nicht angefangen, hatte also auf sie gewartet!

Da blickte er auf, sah sie kommen, faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Nach der Begrüßung sagte sie streng:

„Wie kann man angesichts dieser Natur, dieser Schönheit eine Zeitung lesen?“ Raphael lachte nur,

„Ich muß schließlich wissen, wie das Wetter ist! - Nein,“, gestand er dann, „Das ist leider Arbeit, die Rohstoffnotierungen.“

„Sind Sie schon lange auf?“

„Oh, ja, ich habe die Pferde begrüßt und begutachtet. - Wir sollten einmal zusammen ausreiten!“ Pauline geriet in Verlegenheit, denn sie konnte nicht reiten. Schließlich erwiderte sie zögernd,

„Man kann hier Reitstunden nehmen …" Anscheinend hatte er sie verstanden, denn er sagte,

„Es ist nicht so schwer!“

„Wie schön, daß Sie wir draußen frühstücken können!“, sagte sie.

„Ja,“, erwiderte er, „ich wollte es einmal anders haben als sonst! - Auch Sie sollen es anders haben, als es alle Tage war!“

„Dann hätte ich, wie jede Frau, wenigstens erwartet, daß Sie den Frühstückstisch mit Rosen dekoriert hätten. Dazu einen großen Zettel, mit einem Pfeil an einem Baumstamm befestigt: 'Für Pauline!' “ Raphael grinste nur frech und beobachtete, wie sie das Geschirr und das Besteck auf dem Tisch verteilte.

„Mir gefallen Ihre raschen Bewegungen,“, sagte er unvermittelt, „wie Sie eben auf mich zukamen, - und wie Sie jetzt den Tisch decken.“

„Soll ich jetzt verlegen sein?“ Sie war auf einmal sehr verwirrt, ging mechanisch weiter um den Tisch herum, stellte die Tassen ab, es war ein tapferes Sich-Stemmen gegen diesen Überfall! Gab es denn dagegen, gegen diese männlichen Überfälle, keinen Schutz? Mißtrauisch sah sie ihn an.

Er war schon wach, schrecklich wach, während es ihr auf einmal vorkam, als würde sie sich noch zusammensuchen müssen, - aus den Stücken, die die schlaflose Nacht von ihr übrig gelassen hatten. Dabei war er doch gerade angekommen, und sie hatte sich schon vier Wochen lang erholen können!

„Erst einmal den Kaffee bitte,“, sagte sie, „vorher findet noch gar kein richtiger Tag statt bei mir!“ Mit halboffenen Lidern beobachtete sie, wie er mit vollkommen sicherer Hand - ohne zu zittern! - ihr Kaffee einschenkte. Er redete auch schon, er hatte Pläne, - dabei war doch alles viel zu früh! Obwohl die frische Luft so aussah, sich so anfühlte, so atmete, als sei es schon hell, und als sei es wirklich der Morgen, nicht nur ein verlängerter heller Traum.

Pauline kam morgens erst langsam zu sich. Bis dahin mußte sie sich verstecken, so tun als ob. So tun, als ob sie Appetit hätte, Interesse an seinen Worten, am Tag, an sich selbst, an all dem, was mit ihr vorging, - es war ein großes Versteckspiel, jeden Morgen, und niemand merkte es, normalerweise!

Da machte Raphael den Mund auf und wollte etwas sagen.

„Noch nicht fragen, bitte!“, sagte sie. Er lachte belustigt. Und sie hielt ihm die Tasse hin, die er wieder mit Kaffee auffüllte.

Aus lauter Verlegenheit tat Pauline so, als sei sie schon konzentriert im Anschauen der Landschaft, sei schon dabei, sich auf neue Bilder vorzubereiten, - doch, wenn sie ehrlich war zu sich, mußte sie immer vorbeisehen an ihm, um ihn nicht immerzu anzusehen, - denn das wäre doch nicht gut, oder?

Und es kam ihr unwirklich und geradezu überwältigend vor, daß sie hier draußen saßen, unter den wirklichen Pinien, angesichts dieser wunderbaren wirklichen Berge, wirklichen Kaffee tranken, - alles ganz einfach, als ob nichts geschehen sei. Und es war ja auch nichts geschehen. - Und soviel!

„Milch?“ Sie schüttelte heftig den Kopf,

„This is not good for me!“

Es schien ihm zu gefallen, merkwürdigerweise, wie sie etwas ablehnte: „This is not good for me!“, wie sie Wünsche äußern konnte, etwas verwarf oder annahm, - dabei ahnte er nicht, daß sie oft, wie ein Falter zwischen ihren eigenen Strebungen hin- und hertaumelnd, - ohne jedes Konzept, aber stur, völlig zufällig Entscheidungen traf, - und sich so ihrer eigentlichen Willenlosigkeit überließ.

Sie erzählten jetzt beide von sich, und da fiel ihr plötzich etwas auf: Sie hatte nur einen Lebenslauf zu berichten, aber Raphael mußte deren mehrere haben, immer gab es, wenn er von sich erzählte, kleine Überraschungen. Wenn er Kindheits-erinnerungen auspackte, waren es die Ferienwochen, die er schon als Kind mit der Familie regelmäßig, - nein immer! - am Meer verbracht hatte, jedes Jahr! - 'Ohne das Meer könnte er es nicht aushalten!' - zeigte dann aber Ferienfotos von dem kleinen Jungen, der er gewesen war, vor einer Bergkulisse.

Stolz berichtete er, wie er als Junge die Haare immer lang getragen habe, und deswegen von den andern Jungen gehänselt worden sei, - sie nahm das Foto noch einmal zur Hand, und auf dem Foto waren seine Haare ganz kurz geschnitten, ein Igelschnitt.

Als junger Mann hätte er angeblich nur Klavier gespielt, war nicht wegzubringen gewesen vom Klavier, 'laß doch das Klimpern!', habe es in der ganzen Familie geheißen, von Musik hätte er geträumt, von Musik hätte er leben wollen, - dann behauptete er plötzlich, daß er eigentlich am liebsten habe Medizin studieren wollen, nach Afrika, nach Lambarene gehen, oder anderswohin, wo den Menschen noch zu helfen wäre, eine Mission erfüllen, eine Sendung, - egal ob es gefährlich wäre oder nicht.

Etwas war geblieben davon: Er hatte ein Patenkind in Venezuela, das hatte er einmal besucht, dort ein Vierteljahr in Armut und im Dreck gelebt.

Ihr eigenes Leben kam ihr jetzt so geradlinig vor, mit dem Studium, und ihrem Dasein als Lehrerin, die sich allerdings weiß Gott was für ein Leben erhofft hatte, - mit ihrem Aussehen, mit ihrer erstklassigen Intelligenz, mit ihrem Einserabitur und ihrem Einserexamen, ihrer Promotion, - und sich nun nach einer gescheiterten Ehe und als alleinerziehende Mutter in einer kleinen Wohnung in Berlin-Lichtenrade wiederfand.

„Sie sind also Lehrerin!“, fragte er.

„Ja! Ich bin Lehrerin, - aus Kindern Menschen machen, oder es jedenfalls versuchen!“

„Eine Lehrerin, ja, das dachte ich mir, gleich beim ersten Mal! - Welches Fach? Kunst?“

„Nein, Mathematik und Deutsch!“

„Da haben Sie ja eine große Verantwortung.“ - Sie lächelte,

„Ja, es ist wirklich eine, und eine, der ich mich nicht entziehen kann, wenn ich in der Schule bin, aber wenn ich das ausspreche, schäme ich mich, denn es kommt mir so klischéehaft vor.“

Jetzt war endlich auch ihr Hunger gekommen, und während sie aß, erklärte er ihr etwas über seine Arbeit, - aber da sie nichts davon verstand, hörte er bald wieder auf damit.

Plötzlich machte er ihr den Vorschlag, nach Agrigento zu fahren, ja, die Tempel dort! - „Nein, bitte nicht!“ widersprach sie heftig. - Mit wem sie die Tempel früher gesehen hatte, - es war ihr Mann, auf ihrer Hochzeitsreise, das ging ihn doch eigentlich nichts an, oder? Deshalb sagte sie es ihm auch nicht, sie wolle sie einfach nicht noch einmal sehen, er sei nicht der Grund dafür. Sie hätte genug Tempel gesehen in diesem Leben, nun seien Bäume dran, Berge, und Felsen, das Meer. Man müsse gelegentlich die Objekte der Anschauung wechseln.

Allein habe er keine Lust, gestand er enttäuscht; das sei einfach ein bißchen viel Kultur für ihn! Schnell lenkte sie ein, „Die Tempel, vielleicht später . . . Heute nicht!“, sie mußte das jetzt ablehnen, - sie wollte ihm doch nicht zeigen, wie schnell sie ihren Wunsch, allein zu sein, vergessen hatte, - wie sehr sie in Gefahr war, sich an ihn zu gewöhnen, in dieser kurzen Zeit.

„Ich will ein bißchen hier in der Gegend herumstreifen und malen, dort oben vielleicht, am Kamm!“, und als sie die Augen wieder hob, um den Weg zu messen, den sie heute zurücklegen wollte, fühlte sie sich tatsächlich vom Zauber dieses Himmels umfangen, und war darüber sehr erleichtert, von diesem Himmel, der jetzt glasklar war und grün erglänzte, - und wie stark war der Kontrast zu den dunklen violetten Bergketten davor, die in der klaren Luft wie mit dem Messer ausgeschnitten erschienen.

„Nun gut!“, sagte er, schien aber kaum berührt zu sein von ihrer Absage, und sie ärgerte sich ein wenig darüber. „Ich denke, die Leute werden das abräumen . . . “ Er verabschiedete sich, stand auf, stieg in seinen Wagen und fuhr davon.

Verwirrt blieb Pauline zurück, sie kam sich plötzlich so verlassen vor! - Da fiel es ihr glücklicherweise ein: Sie mußte, bevor sie zum Malen ging, zum Arbeiten, wie sie es gern nannte, noch ihren Jungen anrufen! - Jetzt waren sie vielleicht schon auf Rügen oder auf Hiddensee, und würden bei den Freunden dort übernachten; - bei gemeinsamen Freunden, den Altendorfs.

Im Restauranthaus, hinten in der Küche, hörte sie am Telefon erst die Stimme ihres getrennten Mannes, des Kindsvaters, wie sie immer sagte, dann die kleine dünne Stimme ihres Jungen, „Ja, Mammi, gut, Mammi, wir waren heute baden, nein, im Schwimmbad; ich habe ein Fernglas bekommen und eine Lederhose . . . “, und während sie dem Jungen zuhörte, der aufgeregt dieses Ferngespräch mit seiner fernen Mammi führte, und alle seine kleinen wichtigen Neuigkeiten aufzählte, dachte sie über Raphael nach.

Diese Leichtigkeit, mit der sie sich trotz ihrer Verlegenheit verständigen konnten, die Leichtigkeit, die dieser große kräftige Mann um sich verbreitete, diese Unkompliziertheit als Lebensform, konnte ihr vielleicht einen Teil ihrer verloren gegangenen Leichtigkeit zurückgeben. - Als sei irgendetwas weit Zurückliegendes, Verschüttetes wieder aufgefunden worden. Etwas, was zu ihr gehörig gewesen war. Was sie schon lange nicht mehr geglaubt oder erlebt hatte. Etwas, was in Vergessenheit geraten war, weil es so einfach war. - Gerade diese Einfachheit machte sie glücklich.

 

Plötzlich, mitten im Ferngespräch mit ihrem kleinen Philip, war da eine Hoffnung, glücklich sein zu können, denn das war sie ja, sofort glücklich mit ihm! Sie wagte es kaum, sich das einzugestehen.

„Tschüs, Philip,“, sagte sie zerstreut, „Bleib gesund und grüße deinen Papa!“

Als sie das Gespräch bezahlte, lächelte die Frau des Hauswarts sie verständnisvoll an, sie hatte es ihrem Gesicht angesehen, ja, sie hatte es sofort gesehen!

„ . . . mille trecento . . . “, sagte die Hauswartsfrau. Pauline bezahlte wie unter einer Betäubung; mille trecento, es war sehr billig.