Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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2.3.5 Nichtteilnehmende Beobachtung
2.3.5.1 Instrument

Als weiteres qualitatives Instrument diente die Beobachtung, ein «methodisch kontrolliertes Fremdverstehen», das darauf abzielt, Handlungsabsichten, -gründe und -erklärungen von untersuchten Subjekten zu rekonstruieren.[312] Um dieses Ziel zu erreichen, ist der Forscher angehalten, gegensätzliche Ansprüche auszubalancieren. Er ist angehalten, sich von sich selbst, seiner Alltagswirklichkeit zu distanzieren, um sich mit dem Standpunkt der Beobachteten zu identifizieren. Umgekehrt muss er sich von den untersuchten Subjekten distanzieren und mit seinen Forschungsfragen identifizieren, um das Handeln beschreiben und verstehen zu können.[313] Die Methode der Beobachtung bot sich gerade für das vorliegende Projekt an, weil sie erlaubt, näher und anders an die gelebte Praxis der Besucherinnen und Besucher heranzugehen und auf diese Weise die Kurzinterviews zu ergänzen: Die Logik der Praxis kann sich von den erzählten subjektiven Theorien (der handelnden Subjekte) über ebendiese Praxis unterscheiden, die ihrerseits beeinflussbar ist durch das Moment der sozialen Erwünschtheit.[314]

Die Beobachtung erfolgte systematisch, unstrukturiert und strukturiert, mit geringem oder keinem Partizipationsgrad.[315] Besonders die Frage der Strukturierung ist bedeutsam: Sie läuft der für diesen qualitativen Zugang zentralen Haltung einer grossen, voraussetzungsfreien Offenheit entgegen, die nötig ist, um das untersuchte soziale Feld in seiner Eigenheit und in theorieentdeckendem Sinn zu erfassen. Dieser Anspruch einer möglichst detailreichen Wahrnehmung resp. Niederschrift der Praxis birgt jedoch die Gefahr in sich, vor lauter Details das für die Fragestellung Relevante zu übersehen. Demgegenüber würde ein vorab festgelegtes, detailliertes Kategoriensystem der methodischen Grundintention zuwiderlaufen. Deshalb wird empfohlen, vor der Feldarbeit allgemeine Richtlinien in Form grober Hauptkategorien als Beobachtungsrahmen zu formulieren, was Kelle/Kluge als «theoretische Sensiblisierung» bezeichnen.[316] Vor diesem Hintergrund entstanden – wiederum auf der Basis von Hettlings «Erlebnisraum»-Konzept – zwei Beobachtungsfokusse, die den Forschungsprozess kanalisierten: Wie nehmen die Besuchenden das Denkmal wahr? Inwiefern werden Auseinandersetzungen mit dem Ort sichtbar und welcher Art sind sie?

Neben der Frage der Strukturierung stellte sich bei der systematischen Beobachtung auch diejenige der Partizipation. An sich wäre eine Teilnahme des Forschenden an individuellen Rütlibesuchen denkbar gewesen, dennoch sprachen im Wesentlichen zwei Gründe dagegen. Zum einen war es nicht erforderlich, grundsätzliches Wissen über das beforschte soziale Feld zu generieren.[317] Zum anderen, auch wenn eine partizipative Begehung praktisch möglich gewesen wäre, hätte sie wohl den in der Regel wortlosen, privaten und auch politisch grundierten Besuch gestört. Deshalb erfolgte die Beobachtung ohne Interaktion mit dem Feld und ohne dessen Wissen, beobachtet zu werden. Gleichzeitig ergab sich daraus eine statische – anstelle einer dynamischen – Vorgehensweise. Ein Rütli-Rundgang führt zu mehreren inszenierten Stellen, die sich aufgrund der Besuchsfrequenz als Beobachtungsposten eignen: die Schiffstation, der Schwurplatz und die Rütliwiese. Um die schriftliche Fixierung der Beobachtungen zu erleichtern, entstand im Verlauf der Vorstudie ein Beobachtungsplan, welcher die drei Beobachtungsposten mit Verhaltenstypologien (Anschauen, Verstehen, sonstiges Handeln), verhaltensbezogenen Objekten (Info-Tafel, Reiseführer etc.) sowie Zeitdauer kombinierte. Bereits die ersten Versuche zeigten, dass die verfügbare Beobachtungszeit nicht reichte, um die Eindrücke kriterial vollständig zu verschriftlichen. Für die Hauptuntersuchung wurde deshalb der Plan auf zwei Ebenen reduziert: auf die quantitative Erfassung allgemeiner Verhaltensweisen sowie auf offene, detaillierte Beobachtungen (Feld «Notizen»; Darstellung 9).


Darstellung 9

In der Hauptuntersuchung blieben der Beobachtungsort und das statische Vorgehen unverändert, wobei sich die Schiffstation in der Vorstudie als am wenigsten ergiebig erwiesen hatte. Der Beobachtungsplan wiederum fand nur beschränkten Einsatz, die darin explizierten Fokusse dienten jedoch auch weiterhin als implizite Leitplanken, als Sensibilisierungsraster. Die Verschriftlichung erfolgte nunmehr in freier Form – aus zwei Gründen: Die Beobachtung sollte, wie erwähnt, möglichst diskret, also von den Besuchenden unbemerkt, erfolgen, da ansonsten die Präsenz des Forschenden das Verhalten seiner Untersuchungspersonen hätte beeinflussen können. Ein grösseres elektronisches Schreibgerät oder ein physisch sichtbarer Notizblock schied deshalb, nicht zuletzt aufgrund der kleinräumigen Verhältnisse auf dem Rütli, aus. Geeignet erwies sich deshalb das Mobiltelefon, das als Notizblock diente.[318] Der zweite Grund bestand darin, dass sich auch im vereinfachten Raster die Beobachtungen nicht genügend rasch in die vorgegebenen Rubriken eintragen liessen oder das Beobachtete andere Eigenschaften aufwies.

2.3.5.2 Stichprobe und Erhebung

Die nichtteilnehmende Beobachtung erfolgte sowohl in der Vor- als auch in der Hauptstudie. Die Vorstudie von 2013 ergab zwei halbtätige Beobachtungsphasen Mitte Juli (unter der Woche) und Mitte August (Sonntag), beide Male bei hochsommerlichem Wetter. Zusätzliche Beobachtungsnotizen entstanden anlässlich der Bundesfeier am 1.8. sowie des Rütlischiessens am 6.11.

Die Hauptuntersuchung von 2014 gestaltete sich umfangreicher. Um die verschiedenen Erhebungen in situ arbeitsmässig bewältigen zu können, fand die Beobachtung oft abwechselnd mit den Kurzinterviews und den Kurzfragebogen statt. Wie bei den Kurzinterviews wurde darauf geachtet, dass sowohl der Wochentag als auch die Tageszeit variierten und die Beobachtungsphasen unterschiedlich lang dauerten. Unter diesen Prämissen entstanden 11 Beobachtungssequenzen, die sich von einer Stunde bis zu mehr als einem halben Tag erstreckten. Die in Echtzeit angefertigen Notizen wurden am Abend redigiert und abgelegt. MAXQDA diente anschliessend dazu, die verschriftlichten Beobachtungen auszuwerten, gemäss dem Vorgehen, wie es für die Kurzinterviews in Kapitel 2.3.1.1 beschrieben wird.[319]

2.4 Darstellungsgang

Gemäss der konzeptionellen Zweiteilung der Untersuchung, wie sie das visualisierte Theoriegerüst und die Fragestellungen ausweisen (Darstellungen 3 und 4, Kapitel 1.10), geht der Analyse des Denkmalgebrauchs die Untersuchung des Denkmals als Gegenstand voraus. Das auf ersten Blick vertraute und natürliche Erscheinungsbild der Denkmalanlage bedarf einer minutiösen Beschreibung – erst der zweite Blick zeigt, wie dicht und intensiv das Gelände gestaltet und wie facettenreich dessen Deutung ist. Methodisch führt dies zu einem zweistufigen Verfahren (Kapitel 3.1 bis 3.8). Die detaillierte Beschreibung der Denkmalelemente knüpft an Panofskys Bildinterpretationsschema an, genauer an die vor-ikonografische Beschreibung. Dieser Schritt erfährt eine Historisierung, indem eine vor-ikonografisch synchrone von einer vor-ikonografisch diachronen Perspektive unterschieden wird. Dieser Längsschnitt ermöglicht es, auch die geschichtskulturelle Dynamik zu fassen. Der zweite Analyseschritt kombiniert aus darstellungspraktischen Gründen Panofskys ikonografische Analyse mit ersten Ansätzen ikonologischer Interpretation. Deren weitere Vertiefung erfolgt anhand mehrerer gegenstandsbezogener Theorien, deren Auswahl durch die dem Projekt zugrundeliegenden Konzeption bedingt ist (Kapitel 3.9).[320] Dazu gehört Speitkamps kulturwissenschaftliches Analyseraster, das eine hilfreiche Grundlage bietet, um die öffentliche Wirkung eines Denkmals zu untersuchen. Nipperdeys Typologie der Nationaldenkmäler ihrerseits verallgemeinert die analytische Perspektive weiter, indem sie vom Nationaldenkmal als Ausprägung des Nationalbewusstseins ausgeht. Abschliessend soll das Rütli mit zentralen Elementen der schweizerischen Identitätskonstruktion in Verbindung gebracht werden, mit denen sich insbesondere Marchal intensiv auseinandergesetzt hat.

Die folgenden Hauptkapitel 4, 5 und 6 fokussieren auf den Gebrauch der Anlage. Entlang von Schönemanns Unterscheidung von kollektivem und individuellem Geschichtsbewusstsein – sie ist im theoretischen Gerüst für alle Operationalisierungsdimensionen nach Hettling übernommen worden –,[321] widmen sich in einem ersten Schritt und aus kollektiver Perspektive mehrere Teilstudien den textlichen, danach den bildlichen Darstellungen des Denkmals und des Gründungsmythos. Damit soll aufgezeigt werden, welche Narrative und narrativen Chiffren Behörden (Regierung, Verwaltung), Medien und andere gesellschaftliche Akteure (Wissenschaft, Kunst, Tourismusorganisationen) hervorbrachten. Die textlichen Rütlidarstellungen (Kapitel 4.1) setzen mit jenen Beschreibungen ein, die Chronisten, Historiker und Literaten vor dem Kauf des Geländes 1858 angefertigt hatten. Dazu zählen die traditionsbildenden Texte, welche den Mythos seit Ende des 15. Jahrhunderts geformt haben, genauso wie die wirkungsmächtigste Bearbeitung, die Schiller mit seinem Drama «Wilhelm Tell» vorlegte. Ausschnitte daraus fanden sich sogar in den Reiseführern. Die diachron angelegte Teilstudie zu diesem Gebrauchsmedium spannt den Bogen von der ersten Ausgabe des Baedeker-Führers zur Schweiz von 1841 bis zu aktuellen Publikationen. Entschieden pädagogisch ausgerichtet sind die Lesebücher und die Geschichtsbücher, die unter behördlicher Obhut für den Schulunterricht entwickelt wurden. Die in diesen Unterrichtsmaterialien enthaltenen Rütli-Narrative veränderten sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums stark. Sowohl Behörden als auch Private nahmen schliesslich Einfluss auf Strassen- und Schiffsbezeichnungen, deren geschichtskulturelle Präsenz mit derjenigen von Wertzeichen und Münzen vergleichbar ist.

 

Für die visuelle Repräsentation des Denkmals fiel die Wahl naheliegenderweise auf geschichtskulturelle Medien, die für das Rütli von besonderer Bedeutung sind (Kapitel 4.2). An erster Stelle stehen Stückelbergs Tellskapellen-Fresken, die zur ikonischen Darstellung des Rütli-Schwurs wurden, wie ein Blick auf Postkartenbestände zeigt. Gerade das Verschicken von Postkarten, versehen mit einem ortsspezifischen Stempel, entsprach einer langjährigen Tradition. Damit stehen Abbildungen in touristischen Materialien in Zusammenhang, welche die Innerschweizer Tourismusbüros heute auslegen oder die im Untersuchungszeitraum dreidimensional inszeniert worden waren. Eine pädagogische Absicht ist den Rütlibroschüren eigen, von welchen die SGG im Verlauf des letzten Jahrhunderts vier Fassungen herausgab. Geschichtskultureller Abbildcharakter kommt wegen ihrer alltäglichen Präsenz auch Münzen, Banknoten, Briefmarken und Poststempel zu. Mit diesen Visualisierungen konnten staatliche Behörden für die alltägliche Präsenz von Motiven sorgen – ähnlich dem im Alltag zunehmend präsenten Fernsehen, dessen Rütli-Bilder im diachronen Längsschnitt analysiert werden. Das Beispiel einer kommerziellen Nutzung in Inserateform rundet die Analyse der Visualisierungen ab.

Zu diesen kollektiv produzierten und eingesetzten Narrativen zu Mythos und Denkmal tritt die nach Hettling dritte Komponente, jene des Festes resp. der symbolischen Praxis hinzu. Im Rahmen des vierten Kapitels werden jene Aspekte diskutiert, die sich ausschliesslich auf die kollektive Praxis beziehen. Dazu zählen erstens Frequenz, Umfang und Ausgestaltung der institutionalisierten Gedenkfeiern (Kapitel 4.3), das heisst der staatlich und von privater Seite organisierten Anlässe zum Gedenken an 1291 und an den Rütli-Rapport, sei es in Form grosser Jubiläen, sei es in Form jährlich stattfindender Veranstaltungen, die in ihrer Frequenz und Inszenierung untersucht werden. Eine Teilstudie erlaubt zudem qualitative und quantitative Aussagen zur massenmedialen Berichterstattung über diese Gedenkfeiern im Speziellen und, im Vergleich, zum Rütli allgemein. Kapitel 4.4 wiederum fächert die verschiedenen Kategorien von Gruppen auf, die das Rütli besuchen, und zeichnet die quantitative Entwicklung dieser Besuche nach. Als besondere Gruppenkategorie gelten die Schulklassen – vor allem wegen der oft zitierten Schulreisetradition –, deren quantitative Entwicklung sich anhand verschiedener Quellenbestände skizzieren lässt (Kapitel 4.5). Weitere Facetten der kollektiven Praxis werden in Kapitel 6 zusammen mit denjenigen der individuellen Praxis dargestellt. Diese zweigliedrige Strukturierung ergibt sich sowohl aus inhaltlichen als auch aus erkenntnispraktischen Überlegungen.

Die vielperspektivische Betrachtung des kollektiven Gebrauchs der Anlage wird ergänzt durch die detaillierte Analyse des individuellen Umgangs mit dem Denkmal. Auch sie folgt strukturell den vier Operationalisierungsdimensionen Hettlings. In einem ersten Schritt werden die individuellen geschichtlichen Vorstellungen heutiger Besucherinnen und Besucher besprochen, basierend auf den Kurzinterviews und dem Kurzfragebogen (Kapitel 5.1). Der zweite Schritt fokussiert darauf, wie die Besuchenden den Ort, also das Denkmal wahrnehmen, verbal-beschreibend oder fotografierend (Kapitel 5.2). Mit der Wahrnehmung des Denkmals hängt auch die Frage zusammen, wie sich die Besuchenden gegenüber dem Phänomen positionieren, dass auf dem Rütli kaum ein Denkmalkörper im engeren Sinn zu sehen ist.

Im sechsten Hauptkapitel werden gleichzeitig die individuelle und die kollektive Interaktion zwischen Besuchenden und Denkmal untersucht. So enthält das erste Unterkapitel 6.1 eine quantitative Schätzung der Besuchsfrequenz seit Beginn des 20. Jahrhunderts, begleitet von der Diskussion soziodemografischer und herkunftsspezifischer Merkmale – die Datenbasis umfasst sowohl den Einzel- als auch den Gruppenbesuch. Ein diachroner Längsschnitt und ein synchroner Querschnitt der Kapitel 6.2 und 6.3 zeigen anhand von Quellenmaterial, von Kurzinterviews und Beobachtungsnotizen, wie sich die Interaktion von Individual- und Kollektivbesuchenden mit dem Denkmal gestaltet. Diese Gesamtschau erfolgt aus erkenntnispraktischen Gründen und ist in der Hauptsache nach räumlichen Gesichtspunkten strukturiert. Dem handlungsorientierten Fokus folgen Überlegungen zu Besuchsmotiven, erneut aus diachroner und synchroner Perspektive, ermöglicht durch eine qualitativ-quantifizierende Analyse der Rütli-Gästebücher sowie durch die Kurzinterviews (Kapitel 6.4). Daran schliesst der Versuch an, neben Interaktion und Motivation auch Emotionen zu beschreiben, die ein Besuch des Denkmals zu evozieren vermag.

Kapitel 7 stellt den Gegenstand und seinen Gebrauch gegenüber. Die Ergebnisse der Teilstudien werden hier resümierend und integrierend zusammengeführt, verglichen, kontrastiert, verbunden und dann thesenartig verdichtet. Eine Reflexion des heterogenen Theorie- und Methodensettings beschliesst die Arbeit.

3 Gegenstandsanalyse

Das vermeintlich vertraute und natürliche Erscheinungsbild der Denkmalanlage verrät erst auf den zweiten Blick, wie dicht und intensiv das Gelände gestaltet ist. Deshalb bedarf es zuerst einer minutiösen Beschreibung seines heutigen Zustands und seiner diachronen Entwicklung sowie daran anschliessend einer facettenreichen Deutung. Methodisch führt dies zu einem zweistufigen Verfahren (Kapitel 3.1 bis 3.8). Die detaillierte Beschreibung der einzelnen Denkmalelemente knüpft an Panofskys Bildinterpretationsschema an, genauer an die vor-ikonografische Beschreibung. Dieser Schritt erfährt eine Historisierung, indem eine vor-ikonografisch synchrone von einer vor-ikonografisch diachronen Perspektive unterschieden wird. Dieser Längsschnitt ermöglicht es, auch die geschichtskulturelle Dynamik zu fassen. Der zweite Analyseschritt kombiniert aus darstellungspraktischen Gründen Panofskys ikonografische Analyse mit ersten Ansätzen ikonologischer Interpretation. Deren weitere Vertiefung erfolgt anhand mehrerer gegenstandsbezogener Theorien, deren Auswahl durch die dem Projekt zugrundeliegende Konzeption bedingt ist (Kapitel 3.9).

3.1 Das Rütli im Überblick

3.1.1 Lage und Anlage

Das Rütli bezeichnet ein Gelände, das an der westlichen Uferflanke des Urnersees liegt, eines Beckens des Vierwaldstättersees (Bilder 3 und 4). Geologisch als Schwemmkegel zu deuten, erhebt sich die mit Wald umgebene Wiese über einer steilen Uferböschung. Das heute als Rütli bezeichnete und dem Bund gehörende Grundstück umfasst 62 230 m2.[322] Von Seelisberg wird das Gelände von einer befahrbaren Strasse und zwei Wanderwegen erschlossen, vom gegenüberliegenden Brunnen her besteht eine Schiffsverbindung. Die Übersichtstafel auf dem Gelände (Bild 5) zeigt die einzelnen Elemente: die Schiffstation, von der ein steiler Weg in mehreren Kurven vorbei an der kleinen unteren Scheune vorbeiführt zum Schwurplatz, dann weiter zum Rütlihaus mit angebauter Pergola. Der Rundgang führt weiter zur oberen Scheune, die am Rand der Rütliwiese mit Schweizerfahne steht. Nach einem weiteren kleineren Gebäude biegt der Weg gegen den See, quert den Picknickplatz und führt am Steilufer entlang wieder zum Schwurplatz oder zur Schiffstation.

3.1.2 Von den Ursprüngen zum Landschaftsentwicklungskonzept

Das heutige Rütli umfasst das Gebiet, auf dem sich im Mittelalter ursprünglich drei Rodungshöfe, die Rüti, das Rütli und die Schützenrüti, befanden und die allmählich, um die Nutzfläche zu vergrössern, zu einer Freifläche zusammenwuchsen.[323] Das «Weisse Buch von Sarnen», verfasst um 1470/72, lokalisiert die Wiese erstmals als Ort geheimer Zusammenkünfte Innerschweizer Verbündeter.[324] Die nachfolgenden Schweizer Chroniken und Beschreibungen des Vierwaldstättersees weisen darauf als Stätte des Bundesschwurs hin. Seit Beginn des Spätmittelalters war das von Seelisberg her erschlossene Grundstück landwirtschaftlich genutzt und besass eine kleine Hafenanlage.

Von 1703 bis 1711 ist der Eremit Lorentz Bösch urkundlich nachweisbar.[325] Er hatte die Erlaubnis erhalten, auf dem bisher unbewohnten Rütli ein kleines Wohnhaus zu erbauen; der Bau einer kleinen Kapelle wurde ihm jedoch verwehrt. Im Zuge mehrerer Handänderungen gestalteten die jeweiligen Besitzer die Gebäude um und erstellten über den Quellen ein Waschhaus. Anfang des 19. Jahrhunderts gelangte der Besitz an die Familie Truttmann, deren Vertreter das vorhandene Haus ausbauten, bewohnten und das Rütli bewirtschafteten.[326] Unterdessen waren die ersten Abbildungen entstanden, die ein realistisches Bild des Orts vermitteln. Zu verdanken sind sie dem seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts gesteigerten Interesse, als das Rütli – auch stellvertretend für die Eidgenossenschaft – zum Hort der Freiheit, ja der aufklärerischen Ideale insgesamt stilisiert wurde.[327] Als älteste Darstellung mit dokumentarischem Wert kann das Ölgemälde von Caspar Wolf, 1778 entstanden, gelten, das den Titel «Rütli» trägt (Bild 6). Topographisch nahe an der Realität, zeigt das Gemälde im Zentrum den Vorgängerbau des heutigen Rütlihauses mit steinernem Sockelgeschoss und Holzaufbau. Es liegt auf der von den Landschaftselementen stark betonten Bildachse von oben links nach unten rechts. Seine Fassade ist hell, genau wie der links im Vordergrund liegende kleine Platz mit hölzernem Brunnentrog, seinerseits umgeben von Felsen. Die leuchtende Stelle kontrastiert mit der umgebenden Natur, speziell auch mit dem Holzhäuschen, da am Rand des Platzes steht. Am unteren Rand rechts, am Ufer oberhalb der heutigen Landungsstelle, ist eine imaginierte Schwurgruppe von drei Personen zu erkennen.

Der Tourismus in der Innerschweiz erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen grossen Aufschwung, Seelisberg wurde zum vielbesuchten Kurort.[328] Das Grandhotel Sonnenberg zog eine internationale Gästeschar an. Dies dürfte den damaligen Rütli-Besitzer, Michael Truttmann, motiviert haben, auf seinem Rütli-Grundstück ebenfalls ein Hotelprojekt zu lancieren. 1858 standen bereits Grundmauern.

 

Am 23. September dieses Jahres fuhren die Teilnehmer der Jahrestagung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG), die in Schwyz stattfand, mit dem Schiff von Brunnen nach Flüelen, um die von der Gesellschaft finanzierte Reusskorrektion zu besichtigen.[329] Die Aufmerksamkeit stieg, als das Schiff das Rütli passierte – nur drei Jahre zuvor nämlich, 1855, waren die Mitglieder im Anschluss an ihre Jahrestagung in Luzern auf dem Rütli von der Urner Regierung empfangen worden.[330] Dieses Mal jedoch sah man Fundamente eines offensichtlich in Bau befindlichen Hauses. Nach Rücksprache mit der Urner Regierung beschloss der Vorstand der SGG gleichentags, dass die SGG das Rütli mithilfe einer zu lancierenden Nationalsubskription aufkaufen solle.[331]

Es bleibt unklar, ob der damalige Besitzer, Michael Truttmann, tatsächlich einen Hotelbau geplant hatte, wie es in den SGG-Berichten angeführt wird.[332] Auffällig ist zudem, wie negativ die Person des Verkäufers dargestellt wird. Das mit den Verkaufsverhandlungen beauftragte SGG-Mitglied Amédée-Pierre Pictet de Sergy verteidigte gegenüber der Zentralkommission der SGG in einer Stellungnahme die Höhe des Kaufpreises und dürfte allenfalls ein nuancierteres Bild der Umstände zeichnen, als es die offiziellen Darstellungen der SGG taten.[333] Er konstatierte drei Fehleinschätzungen der SGG-Vertreter, als diese die Grundmauern bemerkten. Sie hätten nämlich vermutet, dass es sich um einen landesfremden Unternehmer handeln müsse, da ein Schweizer aus patriotischen Gründen nie ein solches Projekt realisieren würde. Die Idee, dass ein Hotel gebaut werden sollte, schien ebenfalls nicht zuzutreffen, da der Eigentümer für sich und seine Familie neben dem alten ein neueres Haus errichten wollte, das auch Platz für gelegentliche Gäste bieten sollte. Und schliesslich basierte eine erste, spontane Schätzung des Kaufpreises auf einer angenommenen Grundstückfläche, die lediglich ca. 5 Prozent der effektiven Fläche betrug. Da die zwischen Verkäufer und Präsident der SGG geführten Verhandlungen ins Stocken gerieten, wurde Pictet de Sergy mit deren Wiederaufnahme beauftragt. Der Vermittlungserfolg bestand darin, dass der Verkauf erfolgte, und zwar zu einem um 15 Prozent tieferen Preis, als es das Ehepaar Truttmann verlangt hatte.

Der Aufruf für die «freiwillige Nationalsteuer», unterstützt durch Lehrerschaft und Behörden, richtete sich an erster Stelle an die Schuljugend, aber auch an alle Erwachsenen.[334] Der nationalen Sammlung war ein grosser Erfolg beschieden, kamen doch CHF 95 199 zusammen, die den Kaufpreis von CHF 55 000 fast um das Doppelte überstieg und längst nicht nur von Kindern und Jugendlichen beigebracht worden war.[335] Die notariell beglaubigte Eigentumsübertragung erfolgte am 11.11.1858, dem Geburtstag von Friedrich Schiller. Die SGG schenkte dem Bundesrat per 2.7.1860 die Wiese, deren Verwaltung sie sich von der Bundesregierung im Gegenzug übertragen liess.[336] Zum Dank erhielt die Schuljugend, die sich an der Sammlung beteiligt hatten, ein Rütli-Bild – insgesamt wurden 268 573 Exemplare verteilt (Bild 58).[337]

Als konzeptionelle Grundlage für die Gestaltung kann ein Auszug aus dem Jahresbericht der SGG von 1860 gelten. Demnach muss das Rütli «möglichst in seinem ursprünglichen Zustande erhalten, beziehungsweise wieder in denselben hergestellt, es darf nicht modernisiert werden. Konservierung und Restaurierung der historischen Stätte sind das erste Erfordernis.»[338] Dieses Vorgehen ist zum einen ganz dem Historismus verpflichtet, indem hier das Gedenken materialisiert werden sollte. Dank dieser Materialisierung liess sich Vergangenes, auch vergangene Werte, wiederherstellen. Zum anderen beschreibt die SGG in gleichsam operationalisierter Form den Prozess, den Hobsbawm «Invention of Tradition»[339] genannt hat. Da sich die Gesellschafter «der Kritik des ganzen Schweizervolkes ausgesetzt» sahen, bemühten sie sich in der Folge, für die beabsichtigte Einrichtung der Anlage «die tüchtigsten Fachmänner als unsere Experten» beizuziehen.[340] Für die eigentliche Projektbegleitung setzte die Zentralkommission der Gesellschaft eine vorübergehende, dreiköpfige Spezialkommission ein.[341] Ein Jahr später wurde die Rütlikommission gegründet, die aus Behördenmitgliedern der Urkantone sowie des Kantons Luzern bestand, später des Kantons Zürich und eines Vertreters des Bundes. 2008 wurde sie durch die Rütlidelegation abgelöst.[342]

Auf der Basis der Wiederherstellungsidee erfuhr das Rütli in den darauffolgenden Jahren eine landschaftsarchitektonische Inszenierung mit aufgeforstetem Waldbestand und mehrheitlich neu angelegtem Wegnetz, neu gestaltetem Schwurplatz, neu gebautem Rütlihaus und zwei Scheunen sowie die Schiffstation (erst 1913). Ein Plan, nach 1884 entstanden, gibt schematisiert die Gestaltung wieder, auf die in den folgenden Kapiteln näher eingegangen wird.[343] Die Gestaltungselemente wie Schiffstation, Rütlihaus, Schwurplatz und Picknickplatz, als Ort des Krauer-Greith-Denkmals eingetragen, prägen bis heute das Erscheinungsbild der Anlage. Aussehen, Entwicklung und Deutung dieser Elemente werden in den folgenden Kapiteln ausgeführt.

Die Anlage wurde mehrere Male renoviert, die letzte umfassende Erneuerung (mit Landschaftsentwicklungsmassnahmen) dauerte von 2010 bis 2012 und basierte auf einem jurierten Konzept eines der führenden Landschaftsarchitekturbüros des Landes.[344] Dabei fallen zwei Aspekte besonders ins Gewicht: die regelmässigen und steigenden Investitionen sowie die Geldgeber. Abgesehen von regelmässigen Instandhaltungsarbeiten fanden wiederholt grössere Renovationen statt, teils kombiniert mit neuen Anlagen, und zwar 1941[345], in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre[346], 1989 bis 1991[347], 1998[348] und schliesslich 2008 bis 2012[349]. Die zeitliche Koinzidenz mit Jubiläen springt genauso ins Auge wie die zunehmende Frequenz der Investitionen, die 1998 und 2008/2012 jeweils mehrere Millionen Franken erreichten. Parallel dazu veränderte sich die Bauherrschaft. War es die SGG, welche ab 1860 die Einrichtung der Anlage zahlte, ist 1934 erstmals ein finanzieller Beitrag belegt, den der Bund an Umbaukosten beisteuerte, aber noch die aufwändigen Arbeiten für das Jubiläumsjahr 1941 trug die SGG mehrheitlich selbst.[350] Gemäss SGG-Jahresbericht von 1947 waren dann aber der Bund und die Rütlikommission gemeinsam für den Unterhalt der Anlage zuständig, was vier Jahre später auch personell seinen Ausdruck fand: 1951 wurde ein Vertreter des Bauinspektorates des Bundes Mitglied der Rütlikommission, 1996 dann ein Vertreter des Finanzdepartements.[351] In der Rütlidelegation, seit 2008 Nachfolgegremium der aufgelösten Rütlikommission, ist der Bund zwar nicht mehr vertreten, die Entscheidungsbefugnisse für Infrastruktur- und Gestaltungsfragen liegen aber klar bei ihm.[352]