Demokratie? Frag doch einfach!

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Linktipp | Der Frankfurter Arbeitskreis Politische Theorie bietet auf seinem YouTube-Kanal Videobeiträge zum Thema Kritische Theorien in der Pandemie. Anlässlich der Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie reflektieren Expert*innen in einzelnen Beiträgen deren Auswirkungen auf zum Beispiel die Demokratie, den (black) Feminismus, Wirtschaft, Familie, Sicherheit und Grenzen und vermitteln dabei kompetent und anschaulich Grundlagenwissen kritischer Sozialforschung.

Demokratie: Begriffsbestimmung und Verortung


Demokratie, Nationalstaat, Republik – darum geht es in diesem Kapitel. Was bedeuten diese Begriffe, welche Geschichte haben sie und wie stehen sie zueinander? Auch die spannende Frage nach Alternativen wird geklärt.

Was genau bedeutet Demokratie?

Die Erfindung des Wortes demokratia wird dem antiken griechischen Geschichtsschreiber HerodotHerodot (490/480–430/420 v. Chr.) zugeschrieben. Der Begriff ist eine Komposition aus dem Wort demos (→ Volk) und kratein, was mit „herrschen“ übersetzt wird. Demokratie meint dann Volksherrschaft als ein spezifisches Konzept einer politischen Ordnung.

An Herodot anknüpfend erarbeiteten PlatonPlaton (428/27–348/47 v. Chr.) und AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.) die ersten heute bekannten Systematisierungen verschiedener Herrschaftstypen, von denen die Demokratie jeweils eine spezifische Organisationsform war. Beide unterschieden für ihre Systematisierungen die quantitative Anzahl der Herrschenden und die qualitative Form der Ausübung der Herrschaft, wobei die Demokratie die Herrschaft der Vielen und Armen zu ihrem eigenen Vorteil, also eine nicht an der TugendTugend des GemeinwohlsGemeinwohl orientierte Herrschaftsform war.

Zwischen dem antiken und dem heutigen Verständnis von Demokratie gibt es sowohl Kontinuitäten als auch erhebliche Unterschiede. Heute assoziiert man mit Demokratie gemeinhin ein politisches System, das auf den per VerfassungVerfassung garantierten Prinzipien der VolkssouveränitätVolkssouveränität, der GewaltenteilungGewaltenteilung und der RechtsstaatlichkeitRechtsstaatlichkeit ruht und politische Herrschaft nach dem MehrheitswahlrechtMehrheitswahlrecht zuteilt. Historisch betrachtet war die Demokratie trotz ihres heute guten Rufes jedoch immer auch ein System, das auf dem Ausschluss von Fremden als Nicht-Demokrat*innen sowie von bestimmten Gruppen als Nicht-Teil des zur Politik berechtigten demosdemos aufbaute, allen voran den Frauen. Daran änderten auch die demokratischen RevolutionenRevolution im 18. Jahrhundert, die als Geburtsstunde der modernen Demokratie sowie der Idee der MenschenrechteMenschenrechte gelten, zunächst wenig. Vor allem die Frage, was die „Herrschaft“ konkret bedeuten und wer überhaupt zum Volk im politischen Sinn zu zählen hat und wer nicht, ist bis heute hoch umstritten in den politischen Theorien und der politischen Praxis der Demokratie. Fest steht nur, dass die exkludierenden Praktiken der Demokratie kein zufälliges und ungewolltes Nebenprodukt waren, welches die Demokratie im Laufe ihrer Entwicklung nach und nach wie einen überflüssigen Ballast losgeworden ist, sondern im Begriff der Demokratie stets inbegriffen waren. Verbunden damit ist auch der normative Wert der Demokratie immer schon ein zentraler Streitpunkt in der Geschichte der politischen Ideen gewesen. Dass die meisten Menschen die Demokratie heutzutage als die bei allen Mängeln und Nachteilen doch einzig vorstellbare und wünschenswerte Form politischer (Selbst-)Organisation halten, ist daher keine Selbstverständlichkeit, sondern das kontingente Ergebnis sozialer, politischer und auch wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und KämpfeKampf, die nicht selten von den Ausgeschlossenen initiiert und geführt worden sind.

Die besondere Attraktivität, welche sich der Begriff der Demokratie über die Jahrtausende trotz aller Kritik, Anfeindungen und Angriffe bewahren konnte, liegt dann auch in der Möglichkeit, dass man sich in der politischen Praxis auf die Versprechen der Demokratie nach VolkssouveränitätVolkssouveränität, → GleichheitGleichheit und → FreiheitFreiheit berufen kann, um deren Einlösung einzufordern. Gleichzeitig ist die Demokratie dann aber auch ein effizientes Mittel für politische Eliten, den kritisierten status quo zu verteidigen und Reformbestrebungen marginalisierter Gruppen als antidemokratisch zu brandmarken, um sie so zu delegitimieren. In diesem Sinne ist die Demokratie nicht nur als Beschreibung für ein spezifisch organisiertes politisches System, sondern immer auch als politischer KampfbegriffKampf zu begreifen.

Seit wann gibt es die Demokratie?

Der Ursprung sowohl des Begriffs als auch der Praxis der Demokratie wird von der Forschung auf die Zeit der griechischen Antike datiert. Selbstverständlich kam auch die Demokratie dabei nicht aus dem Nichts, sondern entwickelte sich allmählich aus ihren Vorläufern heraus. Mit Blick auf die Demokratietheorie lässt sich der Beginn des demokratischen Denkens jedoch schon recht eindeutig festlegen. Zwar gab es sowohl politische Ordnungen als auch politisches Denken lange vorher, etwa im babylonischen oder ägyptischen Reich. Auch das Alte Testament lässt sich zudem politisch lesen. Jedoch kennen zumindest die westeuropäische Politische Theorie und Ideengeschichte erst seit den Schriften der griechischen Antike die wirklich systematische Reflexion auf Fragen der Entstehung, Legitimation und Organisation politischer Gemeinschaften und mithin auch der Demokratie. Der Historiker Christian MaierMaier, Christian spricht daher von der „Erfindung des Politischen bei den Griechen“ und dasselbe gilt auch für die Wissenschaft der Politik und Demokratie.

Der griechische Rhetoriker IsokratesIsokrates (436–338 v. Chr.) legte in seiner „Panatenaikos-Rede“ die Übergabe der Macht des mythologischen attischen Königs TheseusTheseus auf die VolksversammlungVolksversammlung im 13. Jahrhundert v. Chr. als demokratisches Ur-Moment fest, meinte mit Demokratie aber eine Form der republikanischen Herrschaft, die sich aristokratischer Elemente bedient, um die vermeintliche Zügellosigkeit der Demokratie zu kontrollieren. Für die Entstehung der Theorie und Praxis der Demokratie gilt heute aber der antike Stadtstaat Athen als so genannte polispolis als Vorbild, von der sich das Wort PolitikPolitik ableitet. Im 7. Jahrhundert v. Chr. wurde dort das Königtum durch die Institution des Archontat als dem höchstem und fortan per Wahl regelmäßig neu zu besetzendem Amt ersetzt. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurden durch die Reformen von SolonSolon bis KleisthenesKleisthenes immer mehr politische Entscheidungs- und Kontrollrechte an eine immer größere Zahl von männlichen Vollbürgern übertragen. AristotelesAristoteles berichtet darüber in dem (ihm zugeschriebenen) Text „Der Staat der Athener“. Hier lässt sich nachverfolgen, wie sich die Idee der politischen → GleichheitGleichheit, im Griechischen Isonomie, der explizit männlichen Bürger als Grundlage des politischen Systems Athens sowie die Idee der VolksherrschaftVolksherrschaft nach und nach durchsetzen konnten. Damit rückte die Idee oder eben Erfindung eines künstlich geschaffenen politischen Verbundes an die Stelle von vermeintlich naturwüchsigen traditionellen Formen der Organisation des Zusammenlebens, etwa der Familienherrschaft.

Die Idee und Praxis der Demokratie waren dabei bereits in der griechischen Antike umstritten. So beginnt auch die Geschichte der Demokratie und der Demokratietheorie, also der systematischen Reflexion auf die Voraussetzungen, Konsequenzen und Gefahren demokratischer Herrschaft, mit der Ablehnung der Demokratie.

Literaturtipp | Die Geschichte der Demokratie und der politischen Theorien lassen sich mit folgenden zwei Büchern vertiefen: Salzborn, S.: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext, Nomos 2017 und Dunn, J.: Setting the people free. The story of Democracy, Atlantic Books 2005.

Welche konkreten Transformationen durchlief der Begriff der Demokratie?

Die erste semantische Transformation hin zu einer Positivierung wird in der Forschung auf die Schriften Baruch de Spinozasde Spinoza, Baruch (1632–1677), Jean-Jacques RousseausRousseau, Jean-Jacques (1712–1778) und deren Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert datiert. Erst hier begann man, der Demokratie einen positiven Wert zuzuschreiben, wenngleich nicht mal Spinoza und RousseauRousseau, Jean-Jacques selber an die Existenz einer wahren Demokratie glaubten. Zudem blieb die Demokratie im allgemeinen Verständnis weiterhin eine Herrschaftsform, die der Vergangenheit angehörte und eher als Kontrastfolie für eine kritikwürdige Gegenwart herangezogen wurde. Dies änderte sich erst mit Alexis de TocquevillesTocqueville, Alexis de (1805–1859) „Über die Demokratie in Amerika“ im 19. Jahrhundert. Ab da galt die Demokratie als ein Projekt, dem die Zukunft gehört, weswegen man in der Forschung von der Futurisierung des Demokratiebegriffs als der zweiten Transformation spricht. Tocqueville war nach seinen Studien der damals recht jungen amerikanischen Demokratie fest davon überzeugt, dass die Idee der Demokratie die → GleichheitGleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen unaufhaltsam vorantreiben werde und aus der politischen Praxis der Moderne nicht mehr wegzudenken ist. Und tatsächlich kann die weitere Entwicklung der Demokratie im Großen und Ganzen als eine Bestätigung von Tocquevilles These der Egalisierung interpretiert werden, wurden doch innerdemokratische Standes- und Klassenprivilegien ebenso erfolgreich bekämpft, wie der systematische Ausschluss von Frauen, wenngleich das Prinzip der Gleichheit zwischen den Geschlechtern und Klassen bis heute nicht vollständig hergestellt ist. Daher muss die Demokratie laut dem französischen Philosophen Jacques DerridaDerrida, Jacques (1930–2004) als ein Projekt verstanden werden, das immer im Kommen bleiben, sich jedoch niemals vollständig verwirklichen wird. So hat sich die Demokratie zwar weltweit als politische Herrschaftsform durchgesetzt und zumindest gegenwärtig seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine ernsthafte Systemkonkurrenz zu befürchten. Gleichzeitig gilt es aber auch, die Schattenseiten der Demokratie nicht zu vergessen und zudem zu berücksichtigen, dass die permanenten Angriffe auf die historischen Errungenschaften der Demokratie aus ihrem Inneren heraus auch Erfolg haben und das demokratische Projekt rückabwickeln könnten.

 

Die dritte Transformation, die sich mehr auf die demokratischen Verfahren bezieht, wird auf das 20. Jahrhundert datiert und hängt eng mit der gegenwärtigen Konjunktur von Krisendiagnosen der Demokratie zusammen. Hier spricht man in der Forschung von der Rationalisierung der Demokratie, womit die Ausrichtung demokratischer Prozesse sowohl in der dominanten Demokratietheorie als auch in der politischen Praxis auf das Prinzip der Effizienz und der Produktion qualitativ guter, eben vernünftiger Ergebnisse im Gegensatz zu der traditionellen Ausrichtung auf einen möglichst maximalen demokratischen Input gemeint ist. In der Konsequenz kommt dann der Demokratie kein intrinsischer Wert mehr zu und auch die Rolle von Affekten und Leidenschaften wird versucht, als undemokratisch auszuschließen. Dies führt manchen Wissenschaftler*innen zufolge zu politischer Apathie, einem enormen Vertrauensverlust in die demokratischen politischen Institutionen und zur Hinwendung zu rechtspopulistischen bis autoritären politischen Kräften.

Die räumlichen Transformationen des Demokratiebegriffs schließlich fanden auf der ersten Stufe vom athenischen Stadtstaat (polispolis) hin zum modernen Flächen- und NationalstaatNationalstaat im Zuge der AmerikanischenRevolutionAmerikanische und Französischen RevolutionRevolutionFranzösische im 18. Jahrhundert statt. In einer zweiten räumlichen Transformation wurde das Prinzip der Demokratie ausgeweitet auf (in der Realität noch nicht vollständig verwirklichte) supranationale Organisationen, wie zum Beispiel die Europäische Union. Ob sich die Demokratie gegenwärtig in einer dritten räumlichen Transformation hin zu postnationalen Ordnungsentwürfen weiterentwickelt, ist eine offene und in der Wissenschaft breit diskutierte Frage.

Literaturtipp | Weiterführende Definitionen von Grundbegriffen der Politik – u.a. Demokratie, Bürger, Sicherheit, Gerechtigkeit, Macht – finden sich in folgenden zwei Büchern: Schwarz, M; Breier, K.-H.; Nitschke, P.: Grundbegriffe der Politik. 33 zentrale Begriffe zum Einstieg, Nomos 2018 und Göhler, G.; Iser, M.; Kerner, I. (Hrsg.): Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, VS Verlag 2012.

Und wer den Zusammenhang zwischen Größe von Staaten und ihrer demokratischen Qualität vertiefen möchte, der kann sich mal folgenden Titel anschauen: Jörke, D.: Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, Suhrkamp 2019.

Gibt es eine wissenschaftliche Definition von Demokratie?

Es gibt sogar sehr viele, die sich zudem mitunter widersprechen. Das ist aber aus wissenschaftlicher Sicht gar kein großes Problem. Im Gegenteil, ist ja gerade der KonfliktKonflikt und demokratische Streit um legitime Definitionen und Interpretationen der demokratischen Werte sehr zu begrüßen. Die jeweilige Definition, die über die Nennung bloßer Prinzipien wie Volkssouveränität oder von Praktiken wie der Mehrheitsentscheidung hinausgeht, hängt einmal davon ab, welchem grundlegenden Politikverständnis sie verpflichtet ist. Also ob etwa die Vorstellung einer assoziativen oder einer dissoziativen Politikvorstellung leitend ist (→ Konflikt und Konsens). Zudem ist entscheidend, welchem Modell oder welcher Theorie von Demokratie man anhängt und worauf der jeweilige Schwerpunkt gelegt wird: auf den Schutz individueller Rechte, die Formierung eines kollektiven politischen Willens, die Beratungen einer politischen Öffentlichkeit oder die Kritik exkludierender Praktiken im Namen der Demokratie? Alle Definitionen stehen dabei immer unter dem Vorbehalt, nur vorläufig und unter Berücksichtigung bestimmter Aspekte Gültigkeit beanspruchen zu können. Neben der wissenschaftlichen Position bestimmt immer auch die politische Haltung oder der zeitgeschichtliche Kontext die Definition dessen, was Demokratie genau bedeuten soll. Hinzu kommt, dass gerade die Demokratie sich dagegen sträubt, auf einen eindeutigen und letztgültigen Begriff gebracht zu werden. Als essentially contested concept ist sie normativ aufgeladen und es gibt verschiedene, sich historisch wandelnde Vorstellungen darüber, worin ihr normativer Kern besteht. Somit kann es keine letztgültige Definition geben. Vielmehr muss gerade in einer Demokratie der Wesenskern dessen, was demokratisch ist, notwendig umkämpft bleiben. Denn mit der unter Rückgriff auf Theorien und Definitionen der Demokratie erfolgenden Diskussion darüber, ob Institutionen, Praktiken, oder bestimmte Handlungen demokratisch sind oder nicht, verbindet sich immer entweder eine KritikKritik an bestehenden Institutionen oder deren Bestätigung und Stärkung. Und diese Kritik ist – gerade in Demokratien – die Voraussetzung dafür, dass eine politische oder soziale Ordnung sich weiterhin demokratisch erhält oder verändert – eben hin zu mehr Demokratie.

Für die Politikwissenschaftlerin Wendy BrownBrown, Wendy (*1955) zum Beispiel ist die Demokratie deswegen vor allem ein „leerer Signifikant“, der zwar enorm populär ist, jedoch keine inhaltliche Substanz mehr aufweise. So würden sich heutzutage alle möglichen Regime und politischen Akteur*innen weltweit und von links bis rechts als Demokratien und Demokrat*innen verstehen, ohne dies wirklich inhaltlich definieren zu können oder zu wollen. Dies befördere eine Instrumentalisierung des Demokratiebegriffs, wodurch Regierungen imperiale Bestrebungen rechtfertigen sowie den Abbau demokratischer Errungenschaften legitimieren können. Unabhängig davon bemüht sich die Wissenschaft selbstverständlich um Arbeitsdefinitionen, derer sich dann auch die politische Praxis bedient. Der Rechtsphilosoph Norberto BobbioBobbio, Noberto (1909–2004) formulierte einmal Minimalkriterien einer modernen Demokratie, auf die immer wieder zurückgegriffen wird. Diese sind die Garantie der grundlegenden Freiheitsrechte, die Existenz mehrerer, miteinander im Wettbewerb stehender Parteien, periodische Wahlen mit allgemeinem Wahlrecht sowie kollektive Entscheidungen, die auf Basis des Mehrheitsprinzips getroffen werden. Für den Soziologen und Philosophen Jürgen HabermasHabermas, Jürgen (*1929) besteht der normative Kern moderner Demokratien darin, die private Autonomie von Bürger*innen, die das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben, mit der Idee demokratischer Staatsbürger*innenschaftStaatsbürger*innenschaft, also der InklusionInklusion freier und gleicher Bürger*innen in die politische Gemeinschaft, und der Existenz einer unabhängigen politischen ÖffentlichkeitÖffentlichkeit als Sphäre der freien Meinungs- und Willensbildung zusammenzubringen. Die Politikwissenschaftler Claus OffeOffe, Claus (*1940) und Phillipe SchmitterSchmitter, Phillipe (*1936) definieren fünf Bedingungen für die Entstehung und das Forstbestehen moderner demokratischer Systeme: Die Anerkennung der Landesgrenzen und einer gemeinsamen politischen Kultur durch die jeweilige politische Gemeinschaft, religiöse Toleranz und die Ablehnung von Theokratie, die Integration verschiedener ethnischer Gruppierungen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer kapitalistischen Produktion und demokratisch-staatlichen Interventionen im Sinne des Großteils der Gesellschaft sowie ein entsprechend hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit, das die relevanten Gruppen und Klassen dazu motiviert, sich an die Regeln des demokratischen Miteinanders zu halten.

Literatur- und Linktipp | Auf fast 2000 Seiten, in 400 Artikeln und von mehr als 200 Wissenschaftler*innen geschrieben umfasst diese Enzyklopädie alle Aspekte der Demokratie: Lipset, S.M. (Hrsg.): The Encyclopedia of Democracy, Routledge 1995.

Die Bundeszentrale für Politische Bildung (BpB, www.bpb.de) ist zusammen mit den Landeszentralen für politische Bildung eine Bundesbehörde, die für die politische Bildung Jugendlicher und Erwachsener zuständig ist. Sie dient dazu, das demokratische Bewusstsein in der Bevölkerung zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu fördern. Dafür bietet sie zahlreiche digitale Inhalte, kostenlose bis relativ günstige Publikationen von renommierten Expert*innen zu allen politisch relevanten Sachfragen sowie Lehr- und Lernmaterialien und Fortbildungsangebote an.

Welche wissenschaftlichen Perspektiven auf die Demokratie gibt es?

Der Politikwissenschaftler Hubertus BuchsteinBuchstein, Hubertus (*1959) unterscheidet vier Typen moderner Demokratietheorien: Historische, empirische, formale und normative. Historische Demokratietheorien zeichnen entwicklungsgeschichtliche Linien nach, um markante Zäsuren identifizieren und Entwicklungen innerhalb der demokratischen Theorie und Praxis nachzeichnen zu können. Dafür befassen sie sich hauptsächlich mit Texten wichtiger Autor*innen aus der politischen Ideengeschichte der Demokratie. Hier lässt sich zum Beispiel rekonstruieren, inwiefern zwischen der antiken und der modernen Demokratie ein fundamentaler Bedeutungswandel stattgefunden oder sich das Verständnis von → FreiheitFreiheit im Laufe der Jahrtausende verändert hat. Die Teildisziplin der Politischen Ideengeschichte wird dabei nach dem Politikwissenschaftler Marcus LlanqueLlanque, Marcus (*1964) in den Funktionen des Archivs und des Arsenals gefasst. Als Archiv bewahrt sie die Traditionen des demokratischen Denkens auf, kategorisiert und sortiert sie. Als Arsenal hält sie die Argumente, Theorien, Modelle und Kritiken für die politischen Debatten und Auseinandersetzungen bereit, die von Zeit zu Zeit die Frage der Demokratie neu stellen.

Empirische Theorien verdichten empirische Befunde zu allgemeingültigen theoretischen Aussagen. Sie beschreiben Systeme, die sich Demokratie nennen und versuchen, Kausalzusammenhänge in diesen herauszuarbeiten. Dafür gehen sie unter Rückgriff auf Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung induktivinduktiv, also vom Konkreten zum Allgemeinen vor. Die empirischen Demokratietheorien interessiert meist die Form der Demokratie, die am besten dazu geeignet ist, rationale Ergebnisse hervorzubringen. Sie klassifizieren verschiedene Typen von DemokratienTypen von Demokratien, benennen deren Funktionsvoraussetzungen, messen deren Leistungsfähigkeit und analysieren die Gefährdungen der Demokratie. Die empirische Forschung unterscheidet klassisch direkte und repräsentative, föderalistische und einheitsstaatliche, parlamentarische und präsidentielle Regierungssysteme sowie Konkurrenz- und Konkordanz- von Mehrheits- und Verhandlungsdemokratien.

Formale Demokratietheorien erstellen Modelle der Demokratie aus bestimmten wenigen Vorannahmen über Akteur*innen und Systemzusammenhänge und gehen dabei deduktiv, also vom Allgemeinen zum Konkreten vor. Anhand der Modelle können spezifische politische Ordnungen auf ihren Grad an Demokratie hin quantitativ und qualitativ gemessen, bewertet und verglichen werden, ohne dass dabei normative Ansprüche erhoben werden. Diese Theorien unterstellen entweder den Akteur*innen, rational zu handeln (vor allem Ansätze der Rational-Choice-Theorien) und erklären dann das Verhalten von Parteien, Verbänden oder Institutionen aus dieser Grundannahme heraus. Oder die Theorien gehen von der Makroebene des Systems aus, das nach rationalen Maßstäben funktioniert, ohne dass die Akteur*innen hier eine besondere Rolle spielen (vor allem die Systemtheorie nach Niklas LuhmannLuhmann, Niklas (1927–1998)). Trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen beanspruchen beide, Rational-Choice wie Systemtheorie, die Leistungsdefizite sowie irrationale Elemente und die Selbstgefährdungen von Demokratien herausstellen zu können.

 

Normative Demokratietheorien schließlich konstruieren, begründen und bewerten Aussagen darüber, wie die Demokratie sein sollte und bieten somit die Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis demokratischer Ordnungen und Gesellschaften. Hier spielen Fragen nach den Voraussetzungen, Bedingungen, Möglichkeiten und Hindernissen einer guten, gerechten, gelungenen und eben im vollumfänglichen Sinne demokratischen politischen Ordnung die maßgebliche Rolle. Durch eine normative Bewertung von demokratischer LegitimationLegitimation und Performanz werden immer auch mögliche Alternativen einer im Vergleich zur Realität „besseren“, weil emanzipierteren, freieren, gerechteren oder demokratischeren Gesellschaft sichtbar gemacht. Als Maßstab normativer Bewertungen gelten heute geteilte moralische Intuitionen, anthropologische Grundannahmen über das Wesen des Menschen oder die in der Kommunikation sich enthüllende Vernunft. Gerade Demokratien zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie die normativen Ansprüche niemals vollständig erfüllen können und daher die normative KritikKritik an der Demokratie in ihr auf Dauer gestellt, also fast schon ein Prinzip ist. Gegenwärtig gibt es eine große Anzahl an normativen Demokratietheorien, neben den klassisch liberalen, konservativen, republikanischen oder sozialistischen Theorien etwa die feministische, deliberative, kosmopolitische oder radikale Demokratietheorie. Normative Demokratietheorien stellen dabei den Boden bereit, auf dem empirische und formale, ja selbst historische Untersuchungen und Forschungen notwendig ansetzen müssen. Gleichzeitig bedürfen normative Theorien stets auch der Rückbindung an empirische Forschung, um nicht zum Selbstzweck zu werden und den berechtigten Anspruch auf eine kritische Reflektion und gegebenenfalls Veränderung gegenwärtiger demokratischer Praktiken anleiten zu können.

Literaturtipp | Mehr zu den Typen von Demokratietheorien findet sich in folgendem Buch: Buchstein, H.: Typen moderner Demokratietheorien. Überblick und Sortierungsvorschlag, VS Verlag 2016.