Tatort Bodensee: Der Fall Winterbergs

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Christina friert

Tag der Verhaftung

Natürlich war das für mich ein Schock! Wo denken Sie hin? Robert kam im Wagen mit den Beamten von der Brauerei zurück aufs Schloss. Wortlos ging er an mir und der Haushälterin Monika vorbei nach oben. In der ersten Etage hörte ich eine Tür knallen. Der kleine dicke Kommissar und das dünne Etwas an seiner Seite standen verlegen herum.

»Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Ich hätte mich für die blöde Frage ohrfeigen können.

»Danke. Aber wir hatten bereits das Vergnügen.«

»Darf ich fragen, was los ist?«

»Ihr Mann begleitet uns auf den Posten. Haben da noch das eine oder andere zu klären.«

Da standen wir und schwiegen. So eine Szene sieht man ja häufig in Krimis im Fernsehen. Aber wenn man selber drinsteckt, ist es doch ganz anders. Tausend Gedanken, das sag ich Ihnen. Da ging oben zum Glück endlich die Tür und beendete das Schweigen. Robert kam mit einer Reisetasche in der Hand nach unten. Das war ein komisches Signal. Seit wann reist man zu einer Befragung mit Gepäck?

»Bereit.« Im Vorbeigehen gab mir Robert einen flüchtigen Kuss auf die Wange und nickte der Monika zu. Und weg waren die drei. Vielleicht hätte ich da einschreiten müssen. Mit Anwälten drohen, mich vors Auto werfen. Aber der Schock, Sie wissen. Robert war so beherrscht, als hätte ihm jemand den Stecker gezogen. Keine Energie mehr, kein Widerstand. So kannte ich ihn gar nicht.

Natürlich vermutete ich, dass es etwas mit dem »Ableben« der Kuratorin zu tun hatte. Vielleicht eine Befragung wegen des Geldes, schließlich unterstützte Robert das Projekt monetär großzügig. Aber weshalb die Reisetasche?

Der 12. Januar war ein kalter, ungemütlicher Wintertag. Und als Robert Conradsberg verließ, schien die Temperatur noch um einige Grade mehr zu fallen. Mich fröstelte. Monika und ich schauten wortlos dem Auto nach, als es gemächlich die Schlosseinfahrt hinunterfuhr. Ich spürte, dass nun ein neues Kapitel in unser aller Leben aufgeschlagen wurde. Darf ich ehrlich zu Ihnen sein? Der Gedanke gefiel mir.

Fette Schlagzeile

BRAUEREIKÖNIG VERHAFTET

Nach langem Feilschen einigten sich Tschanz und Fromm auf die Schlagzeile der morgigen Titelgeschichte. Tschanz wollte erst den Namen »Winterberg« unterbringen. Fromm riet davon ab. Danach flocht er zusätzlich zweimal den Begriff »Unschuldsvermutung« in den Text ein. Natürlich setzte sich Fromm durch und Tschanz leistete ungewöhnlich wenig Widerstand. »Gute Arbeit, Oliver!« Fromm rang sich nach seinem Kompliment noch ein Lächeln ab. »Da bleiben wir jetzt dran, an der Geschichte. Also ich mein: Du bleibst da dran. Exklusiv. Hörst du? Der Winterberg hängt an deinem Haken. Nach dem Artikel ist er geliefert. Der Schlossherr von Conradsberg hinter Schloss und Riegel. Was für eine grandiose Fallhöhe.«

Tschanz drehte lustlos sein Plastiklöffelchen in der Kaffeebrühe. »Recherchier den aus!« Fromm geriet in Fahrt. »Ich wette, der hat noch mehr Dreck am Stecken. Garantiert!« Da war sie dahin, die Unschuldsvermutung. »Frag Geschäftspartner, ehemalige Angestellte, Geliebte! Dreh jeden Stein um!« Fromm schien nach Jahren der routinierten Lethargie auf der Redaktion einer Lokalzeitung aufzuwachen. Er fühlte sich ein bisschen wie damals, als er mit dem Journalismus begonnen hatte, die Ressourcen noch nicht auf ein Minimum zusammengekürzt waren, es noch Zeit gab, Geschichten zu recherchieren. Heute bestand der Rechercheaufwand großenteils darin, im Internet anderen über die Schulter zu schauen. Der fleißigste Mitarbeiter hieß »copy paste«. Doch jetzt trieben sie für einmal die Sau durch das Dorf. Deshalb irritierte es Fromm, wie wenig Euphorie Tschanz an den Tag legte. »Oder willst du, dass ein anderer die Geschichte weiterverfolgt?«

»Nein, sicher nicht! Ich mach das. Es ist nur …«, Tschanz suchte offensichtlich nach Worten. »Gustav, ich habe grad auch einen persönlichen Trauerfall zu bewältigen.«

Chefredaktor Fromm hielt einen Moment inne und schaute irritiert zu seinem Angestellten. »Sag nur, das stimmt, was alle erzählen.«

»Ja.«

»Die Amélie und du?«

»Befreundet.«

»Eng?«

Tschanz schwieg.

»Wie eng?«

Oliver Tschanz stand auf, verließ das Redaktionsbüro und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Fromm pfiff leise durch seine Zähne, was in etwa mit »verdammt und zugenäht« zu übersetzen war. Er war sich sicher, Tschanz würde nicht allzu lange trauern und schon bald die nächste Schlagzeile im Fall Winterberg liefern.

Monikas Geständnis

Ja gut, ganz sauber war das nicht. Aber es wäre ohnehin rausgekommen, eher früher als später. So ein Winterberg verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche und niemand merkt’s. Und für mich sind 100 Franken viel Geld. Genau: die Augenzeugen-Hotline des Anzeigers. »Sehen Sie etwas, was alle interessiert? Werden Sie Leser-Reporter! Telefonieren und kassieren.«

Wissen Sie, ich werde anständig bezahlt von den Winterbergs. Zweimal im Jahr mach ich kurz Ferien und fahre nach Hause, nach Altötting. Ich habe dort noch einen jüngeren Bruder, der den Hof meiner Eltern übernommen hat. Den besuche ich und kann dort umsonst wohnen. Den Hunderter bekommt er das nächste Mal, weil essen tu ich auch immer gratis. Höchste Zeit, ihm was zu spendieren. Ich bin nämlich ein guter Mensch, im Herzen.

Deshalb habe ich kein schlechtes Gewissen. Das ist doch kein Verrat, das ist, wie soll ich sagen: Monetarisierung von Wissen. Und glauben Sie mir, ich habe lange genug zugeschaut und geschwiegen. Da hat sich ein gewisser Nachholbedarf gebildet, angestaut, wenn Sie wissen, was ich meine. Außerdem habe ich dem Winterberg ja nicht geschadet damit, oder? In die Schwierigkeiten hat der sich schließlich selbst gebracht, Häuptling Silberlocke, wie wir Angestellten ihn halb scherzhaft, halb bewundernd hinter vorgehaltener Hand nennen. »Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht«, das passt doch super zu einem Brauereikönig? Der Journalist am Telefon war übrigens sehr freundlich und hat hoch und heilig versprochen, dass niemand meinen Namen erfährt, auch nicht sein Chef. Der Quellenschutz sei eines der höchsten Güter und so. Ich glaub dem Herrn Tschanz vom Anzeiger. Darum war ich auch einverstanden, mich einmal mit ihm zu treffen, in den nächsten Tagen.

Es wird gerichtet

Fünf Tage nach dem Mord

»Mein Mandant äußert sich nicht weiter zum Tötungsdelikt Cohen.« Bevor der Winterberg vor Gericht eine Szene macht, wollte Sebastian Hess Zeit gewinnen und gleichzeitig die Veranstaltung so kurz wie möglich halten. Gertrud Hofstetter, die zuständige Haftrichterin, schaute über den Rand ihrer Lesebrille. Erst auf Winterberg, der schweigend auf den Boden starrte, dann zu Hess. »Nun gut, wie Sie meinen.« Hofstetter sah sich kurz die Akten durch und fuhr fort: »Wenn ich die Sachlage richtig überblicke, bestreitet Robert Winterberg nicht, am fraglichen Abend …«, sie konsultierte kurz eines der Blätter, die vor ihr ausgebreitet lagen, »… am Donnerstag, dem 10. Januar 2019, im Kunstmuseum Kreuzlingen Amélie Cohen getroffen zu haben. Das beweisen im Übrigen auch die Bilder der Überwachungskamera, die im Eingangsbereich des Museums installiert ist. Beim Inhalt des Gesprächs habe es sich – ich zitiere Robert Winterberg: ›… um Belanglosigkeiten im Vorfeld der Ausstellungseröffnung gehandelt.‹ Einzelheiten der Ansprache, zum Beispiel die genaue Formulierung der Dankesworte et cetera. Nachdem schnell Einigkeit geherrscht hatte, verabschiedete er sich von Frau Cohen. Das spätere Opfer habe sich bester Gesundheit und Laune erfreut, als er das Museum um genau 21.22 Uhr verlassen hatte. Ist das korrekt so weit?« Haftrichterin Hofstetter blickte zu Sebastian Hess.

»In der Tat.«

Winterberg schwieg weiter. »Gut, denn …« Die Haftrichterin rückte ihre Brille zurecht: »Es ergeht folgender Beschluss: Ich ordne eine Verlängerung der Untersuchungshaft gegen Winterberg, Robert, geboren am 20. Januar 1942, wohnhaft auf Schloss Conradsberg bei Seedorf, an. Nach meiner Meinung besteht eine akute Flucht- und Verdunkelungsgefahr. Dieser Entscheid gilt bis Ende Monat. Dann wird eine neue Haftprüfung stattfinden.« Robert Winterberg nahm den Entscheid scheinbar ungerührt entgegen. Sebastian Hess dagegen sagte: »Wir werden eine Beschwerde gegen diese Verfügung prüfen.« Ein Polizist begleitete Winterberg zu einem grauen Lieferwagen, der ihn zurück in seine Zelle fuhr.

Famdöbusonbra

»Also! Der stiehlt sein eigenes Bild? Wie wahrscheinlich ist das denn?« Lisa Lehmann knibbelte gedankenverloren an einem Pickel an ihrem Kinn, der seit Tagen keine Ruhe gab.

»Aber irgendwie …«, fing Hutter an, sein Satz endete so abrupt wie eine Welle, die kurz vor dem Strand in sich zusammenfällt.

»Wer, wie und vor allem warum?« Lehmanns Tage in der Polizeischule lagen noch nicht so weit zurück. »Wer? Winterberg. Ich sehe keine Alternative«, gab sie sich selbst zur Antwort. »Jedenfalls sieht man keine andere Person beim Betreten oder Verlassen des Museums.«

»Hmm!« Mehr als ein halbzufriedenes Grunzen erntete sie nicht von ihrem Chef.

»Wie? Zum Beispiel unter dem weiten Mantel, den er trägt. Und warum? Weil er die Tatwaffe verschwinden lassen muss. Und die zufälligerweise auch noch einige Millionen wert ist.«

»Ja, aber …« Hutter schienen Lehmanns Vorschläge nicht ganz zufriedenzustellen. »Das eigene. Das von sich. Macht doch keinen Sinn. Irgendwie.«

»Ein Ablenkungsmanöver?«

»Ich weiß … nicht … so recht.«

»Famdöbusonbra ist …«, nahm die Praktikantin einen neuen Anlauf.

»Was?«

 

»63,7 Zentimeter.«

»Nein, das vorher.«

Lisa Lehmann war es peinlich. Französisch passte zu ihr wie zu einem Fisch das Leben an Land. So schob sie ihrem Chef den Computerausdruck unter die Nase.

Femme debout, sans bras

65,1 x 11,3 x 21 cm

1958

»Hmm …« Hutter schien nachzudenken, obwohl man ihm das nie so deutlich ansah. »Möglich.« Lehmann sah das als Bestätigung ihrer Theorie, dass der Täter, also Winterberg, die Statue unter seinem Mantel nach draußen geschafft hatte.

»Das Stück Metall ist mehrere Millionen wert, auf dem freien Markt unmöglich zu verkaufen, sagen die Kollegen Kunst-Spezialisten in Zürich. Wird laut ihrer Ansicht irgendwo im Safe eines vermögenden Kunstliebhabers landen. Weshalb nicht auf Schloss Conradsberg?«

Lehmann schaute zu, wie ihre These langsam in Hutter versickerte.

»Hausdurchsuchung!«

Ein Schritt geradeaus

Wie viel ist ein Fick wert? Nicht ein exorbitanter. Eher so einer für eine laue Sommernacht, die man nicht allein verbringen mag. Ich sehe, Sie zögern mit der Antwort. Einige der Leserinnen schütteln sogar empört den Kopf: was für eine Frage! Während die meisten der Herren ernsthaft darüber nachdenken. Machen Sie es sich nicht so schwer. Ich sage Ihnen: Kein Fick der Welt ist jedenfalls das hier wert. Übrigens: Selbstbefriedigung ist möglich. Außer den regelmäßigen Kontrollgängen des Wachpersonals gibt es unbeobachtete Augenblicke. Aber einen Funken Selbstwertgefühl und Anstand haben die einem gelassen, sogar hier. Schmuck, Schuhbändel, Handy, alles muss man abgeben. Aber Scham und Würde, den Schmarren durfte ich mitnehmen in die Zelle.

Ich bin kein schlechter Mensch, hören Sie! Schreiben Sie mich nicht zu schnell ab. Ja, vor allem Sie, meine Damen. Leider sind wir uns nie persönlich begegnet, weil Sie sonst … Was sagen Sie? Zum Glück sind wir uns nie begegnet. Das ist jetzt sehr taktlos. Denn ich mag Menschen, auch Sie. Wo wäre ich denn ohne all die Leute, die Bier trinken? Genau: Menschen sind mein Geschäftsmodell. Darum habe ich alles Interesse daran, dass es ihnen gut geht. Und sie wacker Durst haben.

Sie tut mir wirklich leid, die Amélie. Ich mochte sie: Sie war ehrgeizig, klug und ausgesprochen hübsch. Auch charmant konnte sie sein; und im nächsten Augenblick aufbrausend. Ich wusste nie so richtig, woran ich bei ihr war. Glauben Sie mir: Kaputt machen würde ich so etwas nie, das gebe ich Ihnen jederzeit schriftlich! Jedenfalls war da nie Gewalt. Immer alles einvernehmlich, wie man dem heute sagt. Ich sag es Ihnen, wie’s ist: Amélie war alles in allem großartig. Aber ein Unschuldsengel war sie nicht. Im Gegenteil. Die hat sich genommen, was ihr genützt hat. Da war ich ein Teil davon.

Jetzt ist sie tot. Und ich sitze hier. Außer ich gehe: ein Schritt geradeaus, eine Drehung um 90 Grad nach links, vier Schritte geradeaus, wieder im rechten Winkel nach links, ein Schritt, die Drehung und noch einmal vier Schritte.

Familienidyll

Juni 1942

Mit den Bewegungen eines alten Mannes ging Conrad Winterberg zum Volksempfänger. Seit seiner Verwundung im vergangenen Winter hatte er ständig Schmerzen in seiner Schulter. Ein glatter Durchschuss hatte ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. So war er, mit einem der letzten Verwundetentransporte, der Hölle Stalingrad entkommen, wo er als Freiwilliger gekämpft hatte, für Führer und Vaterland. Winterberg war der Überzeugung, die Zukunft Europas würde von Adolf Hitler gestaltet werden. Dem Mann, der jetzt hysterisch aus dem Radio krakelte, der Feind werde zurück ins Meer geworfen und der Endsieg stünde kurz bevor. Conrad Winterberg hatte Zweifel, wollte es aber glauben, dass der Krieg nicht verloren war. Ihn hatte er mit Stahlgeschäften reich gemacht. Für ihn war der Krieg vorbei. Er hatte zu jenen rund 2.000 Schweizer Männern gehört, die freiwillig in der Waffen-SS gedient hatten. Nach dem Verbot des Söldnerdienstes von 1927 hätte sich Conrad Winterberg eigentlich vor einem Militärgericht verantworten müssen. Doch seine Familie war schon damals einflussreich gewesen, und so war er offiziell als Geschäftsmann im Dritten Reich unterwegs, nicht als mordender Scherge an der Ostfront.

Zurück in der Schweiz konnte er sich unbehelligt seinen Geschäften widmen und seiner jungen Familie. Wobei, eine richtige Familie waren sie eigentlich nicht. Conrad Winterberg hatte im Lazarett vom Tod seiner Frau Hildegard erfahren. Als er nach Deutschland gegangen war, hatte er noch nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst. Die freudige Nachricht, er sei Vater von gesunden Zwillingen, erreichte ihn an der Ostfront, zusammen mit der traurigen Botschaft, Hildegard sei bei der Geburt gestorben. Unter dem Stakkato der Stalinorgeln hatte Conrad eine Träne um seine Frau geweint. Mehr Zeit blieb nicht. Vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb er nach seiner Rückkehr in die Schweiz nie ein inniges Verhältnis zu seinen Söhnen entwickelt hatte. Die Erziehung der Zwillinge Robert und Richard oblag dem Kindermädchen, an dessen Name sich Conrad Winterberg später nicht mehr erinnerte.

Sie hieß Colette und kam aus dem Elsass, aber das sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Für den heutigen Tag hatte sie die Kleinen in Anzüge gesteckt und ihnen die Haare ordentlich gekämmt. Den Hemdkragen des Patrons hatte sie zweimal gebügelt und mit so viel Stärke behandelt, dass er Conrad würgte. Wieder und wieder steckte er den Zeigefinger in den Kragen, zog daran und verschaffte sich so etwas Luft. Eigentlich hätte sich Winterberg lieber um seine Geschäfte gekümmert, anstatt wieder ein paar Stunden in diesem Ohrensessel zu sitzen. Porträtmaler Niklaus Mock hob das angefangene Bild auf die Staffelei. Er prüfte es und arrangierte Winterberg: »Etwas nach links, bitte, nur ein bisschen! Sehr schön.«

Die Zwillinge ließ er am Boden sitzen und mit einem Holzpferd spielen. Sie würde er erst ganz zum Schluss ins Bild einarbeiten. Vielleicht spielend vor dem Salontisch mit der Porzellanvase. Hunderte solcher Familienporträts hatte Mock schon gemalt. Doch hier musste er selbst zugeben, es wäre perfekt gewesen, wenn es auch eine Mutter gegeben hätte. Stilvolle Kleidung, elegantes Ambiente, alles sehr geschmackvoll. Noch bevor der Herbst kommen würde, sollte das Bild fertig sein und Mock hätte für ein paar Monate keine finanziellen Sorgen mehr. Vielleicht ging der Krieg bald zu Ende und es ginge wieder aufwärts. Im Gegensatz zu seinem Kunden glaubte Mock nicht an den Endsieg. Er hoffte auf einen Sieg der Alliierten. Die Nazis waren ihm ein Gräuel, auch wenn sie es waren, die ihm als Porträtmaler in den vergangenen Jahren ein Einkommen garantiert hatten. Mock setzte ein paar feine Striche auf die Leinwand, blickte zu seinen Modellen, ließ ein paar Striche folgen und hätte nie daran gedacht, sein Bild könnte Jahre später bei einem grausamen Verbrechen eine entscheidende Rolle spielen.

Ameisen im Schloss

Sechs Tage nach dem Mord

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen? Wenn Sie mir verraten, was Sie suchen. Ich weiß alles über diesen Haushalt. Sagen Sie mir einfach, was, und ich finde es.« Bei Monika Reuter waren sich die Beamten der Kapo Thurgau nicht sicher, ob es wahre Hilfsbereitschaft oder abgrundtiefer Sarkasmus war. »Aber bitte, wenn die Herren lieber selber …«, meinte sie beleidigt, als sie keine Antwort auf ihr Angebot bekam, und wandte sich wieder dem Abwasch zu.

Eine Etage höher war Christina Winterberg deutlich weniger entspannt als ihre Haushälterin, nachdem sie am frühen Morgen ungebetenen Besuch erhalten hatte. »Verdammt noch mal, nimm ab!«, murrte sie in ihr Handy. Seit Hutter ihr den Durchsuchungsbefehl unter die Nase gehalten hatte, versuchte sie vergeblich, Sebastian Hess zu erreichen. »Wo ist das Arschloch, wenn man es mal wirklich braucht?« Sie saß hilflos im viel zu großen Sessel im Eingangsbereich des Schlosses und schaute den Beamten bei ihrem Treiben zu. Wie Ameisen verschwanden sie in alle Richtungen. Was gesucht werde, könne er leider aus ermittlungstaktischen Gründen nicht verraten, aber sie würden versuchen, die Umstände so überschaubar wie möglich zu halten, erklärte ihr Hutter ungewohnt wortreich.

»Ich bitte Sie: Erst nehmen Sie mir meinen Mann, nun meine Privatsphäre. Was haben wir verbrochen?«

»Genau das wollen wir herausfinden.«

»Und wie lange dauert das hier?«

»In Anbetracht der Größe des Anwesens …«

»Ja?«

»… rechne ich mit dem ganzen Tag.«

Christina Winterberg drückte die Taste für die Wahlwiederholung. Aber Hess reagierte weiterhin nicht. Hutter sah das Gespräch als beendet an und machte sich auf die Suche nach seinem SpuSi-Einsatzleiter. Immerhin wussten sie genau, was sie suchten: Das Team hatte sich den Gegenstand – 65,1 x 11,3 x 21 cm, Bronze – beim morgendlichen Briefing eingeprägt. »Einfach ein Metallstück also, okay?«, fasste Einsatzleiter Helfenberger den Auftrag wenig sensibel zusammen. »Kann ja nicht so schwierig sein.«

Tiefer Fall

Oktober 2009

Das Bild brannte sich in Roberts Erinnerung. Nie würde er vergessen können, wie Gabriela mit verdrehten Gliedmaßen auf diesen kalten grauen Steinen lag. Vom Altmann drang der letzte Schrei seiner Frau als Echo in sein Mark. Dann war es still, unerträglich still. Nur das Krächzen einiger Alpendohlen war zu hören und ein »Hilfe«. Robert Winterberg kniete an der Kante des Felsens, über den seine Frau in den Tod gestürzt war. »Hilfe«, schrie er noch einmal, doch für seine Frau kam jede Hilfe zu spät. Das bestätigte der Rega-Arzt, der mit dem Helikopter eingeflogen worden war. »Genickbruch«, analysierte er und hatte das Gefühl, es würde Robert Winterberg helfen, wenn er ihm versicherte, seine Frau hätte nicht leiden müssen, sie sei sofort tot gewesen.

Die Wanderung vom Restaurant Alten Säntis, wo sie die Nacht verbracht und ein ausgiebiges Frühstück genossen hatten, über den Lisengrat zum Rotsteinpass galt als gefährlich. Der scharfkantige Weg glich mehr einem Drahtseilakt als einer gemütlichen Wanderung. Links und rechts neben dem schmalen Weg fiel der Fels mehrere Hundert Meter senkrecht ab. Teilweise überwanden Leitern oder in den Felsen geschlagene Stufen fast senkrechte Passagen. An vielen Stellen sicherten Stahlseile die Königsetappe im Alpstein auf dem Balanceakt zwischen Alpstein und Toggenburg. Den Berggängern bot sich ein atemberaubender Blick, verlangte aber einiges an Kühnheit und unbedingte Schwindelfreiheit. Über beides verfügten die Winterbergs, die regelmäßig ausgedehnte Touren in anspruchsvollem Gelände unternahmen. Sicher, der ohnehin schwierige Weg war noch etwas gefährlicher als sonst. Unter dem wolkenlosen Himmel ließ die bitterkalte Nacht den Tau gefrieren.

»Die Rega fliegt Ihre Frau jetzt hinunter zur Schwägalp«, sagte der Leiter der Rettungskolonne. »Dort wird der Amtsarzt formell den Tod feststellen.« Der Gedanke kam Winterberg absurd vor. Wenn man etwas nicht mehr feststellen musste, dann den Tod seiner Frau. Er ließ sich erklären, dies sei nötig, um zu entscheiden, ob das Unglück als Unfall oder allenfalls als »Verschulden einer Drittperson« eingestuft werden sollte. »Mord?«, fragte Winterberg entsetzt. »Ich war alleine mit meiner Frau! Sie wollen mir unterstellen, ich hätte meine Frau …«

»Ich unterstelle Ihnen gar nichts! Reine Routine.«

»Sie ist gefallen, einfach so. Ausgerutscht! Gestolpert!«

»Das klären wir später.« Väterlich legte der Mann Winterberg die Hand auf die Schulter. »Sind Sie fähig, zu Fuß zurück zum Säntis zu gehen und mit der Bahn hinunterzufahren? Ich begleite Sie. Wir bringen Sie nach Hause.« Winterberg stand unter Schock, ging aber gleich los. Vorsichtig, mit kleinen Schritten. Der Rettungsleiter wich nicht von seiner Seite.

Im Polizeibericht stand später, Gabriela Winterberg sei bei einem Bergunfall ums Leben gekommen. Offensichtliche Beweise für ein Dritteinwirken wurden nicht gefunden. Dies verhinderte nicht das Aufkommen von Gerüchten, Robert Winterberg hätte sich seiner Frau entledigt. Natürlich flammten diese noch einmal auf, als dieser, nur knapp zwei Jahre später, seine zweite Frau heiratete, das viel jüngere ehemalige Fotomodell Cristina Forte.

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