Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Also an der Nikolaikirche stand die Konterrevolution und der gute Staatsbürger ging da nicht hin und weil der Journalist ein besonders guter Staatsbürger zu sein hatte, hatte er erst recht nicht hinzugehen. Wenn etwas mitzuteilen war, kam es von der staatlichen Nachrichtenagentur, abgesegnet von Joachim Herrmann, dem Pressezaren. Anscheinend war Conrad kein besonders guter Staatsbürger, natürlich ging er hin. Er sah das als seine persönliche Pflicht an, wenn er sich mit einigem Recht auch ein Dokumentarrist nennen wollte. Man könnte ihn festhalten, er würde seinen Presseausweis zeigen, das genüge nicht, wo ist der Auftrag? Ihm war klar, dass ihn die Redaktion, wenn es zu Zwischenfällen käme, nicht schützen würde. Lächerlicher Gedanke. Sie würden sagen: Tut uns leid, wir haben dem Reporter diesen Auftrag nicht gegeben.

Nur wenige Schritte vom Markt entfernt, kam er in eine andere Welt. Die Grimmaische Straße war vollgestopft, überall standen Menschengruppen, vor allem Jugendliche, aber auch Familien. Alle starrten in die Ritterstraße. Großes Gebrüll erhob sich, Bewegung kam in die Menschen, sie flohen vor etwas, das nicht zu erkennen war. Sie stolperten über Bänke, trampelten Grünpflanzen nieder. Conrad hörte dumpfe Schläge und ein eigenartiges Trommeln. Da sah er sie und fühlte sich um Zweittausend Jahre zurückversetzt, eine Szene aus der Antike. Männer in grünen Uniformen trugen Helme mit geschlossenem gläsernem Visier und ledernem Nackenschutz. Sie hielten helle Schilde vor sich, Schlagstöcke baumelten. Allein schon diese Ausrüstung war eine Provokation und bedeutete, dass der politische Gegner als Steinewerfer eingestuft wurde. Aber es flogen keine Steine, obwohl die Menschen auf einem wahren Munitionsdepot standen, so hätte man die Kieselsteine der Wasserspiele bezeichnen können. Die Polizei sperrte die Grimmaische Straße ab. Was sollte das werden? Niemals zuvor hatte es einen solchen Polizeieinsatz gegeben. Das System der Erziehung, Bevormundung, Gängelei und Bestrafung hatte perfekt funktioniert, so perfekt, dass die Menschen nur einzeln den Widerspruch wagten. Zum Beispiel mit der Abgabe eines Ausreiseantrages oder indem sie nicht zur Wahl gingen, was trotz Wahlgeheimnis eine Information an die Arbeitsstelle zur Folge hatte. Oder indem Wähler sogar die Stimmzettel öffentlich durchstrichen, was als staatsfeindlicher Akt angesehen wurde. Und sie waren einzeln in Gewahrsam genommen worden, wenn sie offen gegen den Staat antraten. Jetzt aber protestierten tausend junge Leute schon allein durch ihre Anwesenheit. Was wollten die Menschen an der Kirche?, Und warum wollte sie die Polizei von dort vertreiben? Die Kirche hatte geschlossen, den staatlichen Feiertag überließ sie allein dem ungeliebten Staat; die Konterrevolution konnte sich also dort nicht verstecken. Aber diese Kirche war zum Symbol der aufkeimenden Bürgerrechtsbewegung geworden und jeder, der ihre Nähe suchte, war verdächtig. Also vertreiben!

Erst waren es wohl ein Dutzend, die sich versammelt hatten, argwöhnisch von der Stasi beobachtet. Das konnte doch nur eine Provokation sein, um den Feiertag zu stören, da musste Polizei her. Doch die Vertreibung erreichte genau das Gegenteil, die Jugendlichen wollten gegen den Stachel lecken und hier konnten sie es, sie ließen sich nicht vertreiben. Hinzu kamen zufällige Passanten, junge Leute meist, die zunächst nicht wussten, um was es eigentlich ging, es wurden immer mehr. Die Polizei forderte Verstärkung an. Auf den Dächern der umliegenden Gebäude drehten sich die Überwachungskameras, die ihre Bilder in den Stab der Volkspolizei übertrugen. Die Alarmstufe wurde ausgerufen, Mannschaftswagen fuhren auf und Kirche und Vorplatz wurden abgesperrt. Da standen sich nun die Fronten gegenüber und keine Partei wusste, was das werden sollte.

Plötzlich lief ein junger Mann auf die Postenkette zu, er wurde zusammengeschlagen und unter ohrenbetäubenden Protestrufen nach hinten abtransportiert. Nach dieser Heldentat zogen sich die Polizisten wieder in die Ritterstraße zurück, wo inzwischen die Hauptmacht stationiert war. Dort stand auch ein Lastwagen mit vorgespanntem Räumschild. Das lästige Volk sollte wohl weggeschoben werden?

Die Nikolaistraße war ebenfalls abgesperrt. Junge Bereitschaftspolizisten, Wehrpflichtige, standen Auge in Auge mit der aufgebrachten Menge, die versuchte, mit den Polizisten zu reden: „Warum seid ihr hier?“ „Geht nach Hause!“ Die Polizisten waren verlegen, sie wussten nicht, was sie antworten sollten, sie hatten einen Befehl auszuführen und man sah, dass sie Angst hatten. Aber immerhin, einzelne Worte wurden gewechselt.

Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Wieder flüchtende Massen, wieder nachstürmende Polizisten, die eine Kette in Richtung Altes Rathaus bildeten. Dabei trommelten sie mit ihren Gummiknüppeln auf die Schilder, es war wie das Imponiergehabe der Gorillas, sie wollten sich Mut machen und gleichzeitig abschrecken.

Doch sie schreckten niemanden ab. Jedes Vorgehen war wie ein Schlag ins Wasser. Die Menge teilte sich, flutete auseinander, um dann wieder zurückzubranden, Es bildeten sich Sprechchöre: „Schämt euch was!“ und „Wir bleiben hier!“ Das war eine Antwort an Honecker, der gesagt hatte, es sei um keinen schade, der gehen will. Einige Demonstranten stimmten die Internationale an: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde…“ Unter Beifall kehrte sie sich jetzt gegen die Staatsgewalt. Aber besonders Textfest waren die Leute nicht. Und dann tönte immer lauter ein Ruf: „Gorbi, Gorbi“. Ausgerechnet der erste Mann der Sowjetunion, die ihre eigenen Probleme hatte, wurde zur Hoffnungsfigur. Allerdings auch, weil das Volk sehr wohl gemerkt hatte, dass Gorbatschow von der DDR-Führung als Trojanisches Pferd angesehen wurde. Einst konnte man vom großen Freund nicht genug lernen, das Siegen vor allem, da tauchte das Gespenst der Perestroika auf und plötzlich war das eine interne Sache der Sowjetunion. So intern, dass darüber nicht geredet wurde, und wenn doch einmal ein vorwitziger Genosse danach fragte, erfuhr er, dass die DDR ihre Perestroika längst hätte und die Sowjetunion nur nachziehe. Und so hatte Jochen Pellert, der erste Parteisekretär, mit leiser Genugtuung in der Stimme gesagt: „Aus dem Lehrling ist der Meister geworden.“ Größenwahn stand schon immer vor dem Absturz.

Eine Frau bekam vor Aufregung einen Herzanfall. Der Rettungswagen sorgte für neue Unruhe. Die Geprügelten aber wurden nicht mit dem Rettungswagen abgeholt, sondern auf die bereitstehenden Lastwagen mehr geworfen denn geschoben.

Trotzdem, das Volk machte sich Luft. Keiner sah misstrauisch zum Nachbarn, der ein IM sein konnte, einer von der Stasi, sollte er ruhig, hier bekam er die Meinung gratis. Überall standen diskutierende Gruppen, die den Polizeieinsatz verurteilten. Keiner wagte es oder hatte das Bedürfnis, Partei für den Staat zu ergreifen. Im Gegenteil, es fielen harte Worte: „Das haben sie von den Nazis gelernt.“ Conrad hörte, wie ein junger Mann mit Tätowierungen am Arm zu Frau und Kind sagte: „Diese Ratten, wenn es hart auf hart kommt, steche ich mindestens drei von denen ab.“ Natürlich richtete sich der Hass der Leute gegen die unmittelbare Gewalt und damit gegen die Falschen, denn die Polizisten waren nicht aus freien Stücken gekommen, viele waren Wehrpflichtige, Bereitschaftspolizisten, wer weiß, aus welchem Dorf sie kamen, und nun standen sie mit großen Augen in der großen Stadt einer tausendköpfigen Menge gegenüber und ihr Befehl lautete, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Conrad war auf eine Bank gestiegen und so war er mit seinen 1, 82 m und der Kamera vor dem Auge nicht zu übersehen. Dabei hätte er sich am liebsten unsichtbar gemacht, denn er musste wie eine einzige Provokation wirken, nicht nur für die Polizei, sondern auch für das Volk, Doppelprügel waren angesagt. Zudem bemerkte Conrad, wie das Objektiv der Überwachungskamera immer wieder in seine Richtung geschwenkt wurde. Auf einmal befand er sich genau zwischen den Parteien. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf der Bank stehen zu bleiben. Jetzt sah er sie alle von vorn, links die Polizei mit ihrem grimmig blickenden Kommandeur und rechts die Demonstranten, welche die Polizei verhöhnten: „Geht nach Hause.“

Doch trotz aller Angst, die ihn beschlich, siegte das Mysterium der Frechheit. Die Polizei hielt wohl nicht für möglich, dass sich irgendwer auf die Bank stellt und sie beim Prügeln fotografiert, also musste es einer von der Stasi sein. Fatal wäre es gewesen, wenn das Volk zu der gleichen Meinung gekommen wäre. Aber das wiederum dachte mit Recht, die Stasi würde sich nicht so offensichtlich zeigen. Einige Demonstranten warnten Conrad: „Vorsicht, dort wird ein Fotograf verhaftet.“ Und tatsächlich, unter ohrenbetäubendem Gebrüll wurde ein älterer Mann mit grauem Haar von zwei Polizisten mehr weggeschleift als geführt, um den Hals baumelte seine Kamera. Er hatte wohl den Fehler gemacht, heimlich fotografieren zu wollen.

In dieser doch ein wenig unangenehmen Lage bekam Conrad plötzlich Verstärkung, ein junger Kollege stieg atemlos auf die Bank. „Nanu, wo kommst du her?“, fragte Conrad erstaunt und schielte dabei nach der Postenkette, die immer näher rückte. „Pellert hat in der Redaktion angerufen, in der Stadt käme es zu Zusammenstößen; das ist eben der Nachteil, wenn man als einziger aus der Fotoabteilung Telefon hat und so haben sie mich vom Kaffeetisch weggeholt.“ Dabei sah er mit großen Augen in die Runde und wagte zunächst nicht, die Kamera zu heben. Conrad aber wunderte sich, er selbst stand gewissermaßen illegal hier, während sein Kollege fotografieren sollte, was, das war klar, nämlich die Konterrevolution. Und für wen? Auch das war klar, nicht für eine Veröffentlichung, sondern für den Propagandasekretär der SED-Bezirksleitung. Zum Nachdenken blieb keine Zeit, doch Conrad war froh, jetzt Rückendeckung zu haben. Wie sich allerdings zeigen sollte, waren beide gänzlich ungeeignet für diesen Auftrag, indem sie nämlich nicht hinter der Polizei standen, sondern inmitten der Demonstranten und vor ihr.

 

Insgesamt blieb die Strategie der Polizei undurchschaubar. Sie bildete eine Kette, mal dort, mal da, dann ging sie zurück, schließlich wurden die Demonstranten über den Karl-Marx-Platz gejagt. Ein Offizier schleppte ein junges Mädchen im Haltegriff ab. Darüber erregte sich eine Frau, die zur Strafe über eine Absperrkette gezerrt wurde. Conrad hätte das fotografieren müssen, aber er hatte einfach Angst. Nur als wenig später fünf Polizisten einen Mann zusammenschlugen, riss er die Kamera und drückte auf den Auslöser.

Es trat nun eine gewisse Ruhe ein, überall bildeten sich Gesprächsgruppen und es wurde diskutiert. Der ganze Frust kam hoch, keine verstohlenen Blicke, ob jemand zuhörte, im Gegenteil, die Leute sollten zuhören! Auch die Polizei!

Eine ältere Frau im abgetragenen Mantel wendete sich direkt an einen Polizisten und sagte: „Ich war Trümmerfrau hier, dort vorn fuhr die Feldbahn“, und sie zeigte zum Platz, „Ich habe die Steine mit abgeputzt, aus denen Neues gebaut wurde. Jetzt habe ich Angst, dass diese Steine wieder herausgebrochen und auf die Staatsmacht geworfen werden.“ Der Polizist war völlig überfordert, sie hatten nur mit Schild und Knüppel geübt und nicht mit Argumenten.

Ein Demonstrant so um die Vierzig herum, der ebenso zufällig hier war wie viele andere, gab sich als Reserveoffizier zu erkennen. Er sagte, er wüsste nicht, was er tun sollte, wenn er einberufen würde, so eine Aktion könne er jedenfalls nicht mitmachen.

Von Altenburg war eine kleine, rundliche Frau in die große Stadt gefahren, der Markttage wegen, wie sie sagte, in der Hoffnung, dass es da etwas Besonderes zu kaufen gäbe, vielleicht sogar Döbelner Salami; und nun sei sie mitten in den brutalen Polizeieinsatz geraten.

Ein Mann im guten Tuchmantel erklärte, er sei durchaus nicht für den Kapitalismus, aber das hier sei auch kein Sozialismus. Honecker müsste vor der Fernsehkamera klärende Worte an das DDR-Volk richten und sagen, wie es weiter gehen soll. Es war erstaunlich, offenbar traute dieser Mann Honecker das zu, er setzte ihn damit nicht gleich der Führungsschicht, die sich weit vom Volk entfernt hatte.

Es wurde dunkel und die Bildreporter glaubten, nun genug riskiert zu haben und eilten zur Redaktion, obwohl Sonnabend war und keine Zeitung gedruckt wurde. Aber sie wollten ihre Filme entwickeln und sehen, ob da wirklich alles festgehalten war. Mancher westliche Bildreporter wird wohl lächeln, wenn er an seine Kampfeinsätze bei Wackersdorf, Brockdorf oder sonst wo denkt. Aber hier war die DDR und in dem sozialistischen Musterland deutscher Prägung gab es keinen Aufruhr und keine Revolution. Somit hatten die beiden gewissermaßen Neuland betreten.

Und doch wurde der Aufruhr indirekt zugegeben. Anders war die Tatsache nicht zu erklären, dass das eiserne Tor zum Redaktions- und Druckereigebäude verriegelt war. Es öffnete sich auch nach heftigem Klingeln nicht, denn die Konterrevolution könnte ja draußen stehen und dem öffnenden Pförtner eins über die Mütze hauen, um dann vielleicht Flugblätter zu drucken oder die Maschinen unbrauchbar zu machen, damit das wichtigste Organ der SED-Bezirksleitung empfindlich getroffen werde. Nein, da gab es Maßnahmen. Also, wer hinein wollte, musste von außen telefonieren, falls er einen funktionierenden Münzfernsprecher fand, und dann mitteilen, wann er vor der Tür zu stehen gedenke. Dann aber genügte einfaches Klingeln, kein konspiratives Signal. Der Verlagsdirektor öffnete höchstpersönlich; was wollte dieser Samstagabend im Betrieb?

Mit dem eisernen Tor hatte es noch eine besondere Bewandtnis. Vor dem 17. Juni 1953 war der Zugang zu Redaktion und Druckerei frei. Doch als draußen die Konterrevolution marschierte und Schüsse fielen, musste ein besonderer Schutz her und dafür schien eine Mauer mit eisernem Tor am besten geeignet zu sein.

Als die beiden in der Redaktion ankamen, herrschte eine Art Bunkermentalität. Einige leitende Redakteure saßen fast im Dunklen, nur beim Schein einer kleinen Tischlampe, damit der imaginäre Gegner denken sollte, die Redaktion sei nicht besetzt. Ja wieso war sie denn überhaupt besetzt? Die Zeitung wurde erst am Sonntag gemacht.

Ein Chef und zwei Abteilungsleiter stürzten sich auf die Reporter, als kämen sie von der Front. Conrad nahm sich kein Blatt vor den Mund und sagte, dass allein die bürgerkriegsähnlich ausgerüstete Polizei eine Provokation sei. Der Chef hatte seine Theorie, wie man mit diesem Aufruhr fertig werden würde: Wenn diese Leute schon demonstrieren wollten, dann solle man sie ruhig marschieren lassen, immer um den Ring herum, so lange, bis sie ihre Schuhe zerlatscht hätten, dann würden sie von allein nach Hause gehen.

Das Telefon klingelte, ein Anruf vom 1. Sekretär: am Peterskirchhof und vor der Thomaskirche wären Gruppen mit Spruchbändern aufgetaucht, die sollten fotografiert werden. Außerdem wolle er von allen Aufnahmen des Tages Vergrößerungen haben. Conrad fühlte sich unwohl, aber die Fotos konnten ihm nicht verweigert werden, denn er vertrat den Herausgeber.

So hatten sich die beiden noch einmal auf den Weg gemacht. Die Situation war unverändert, durch die Dunkelheit jedoch ins Gespenstische verzerrt. Hinzugekommen war nur ein Wasserwerfer, der kurze Salven in die Menge spritzte. Spruchbänder waren nicht zu entdecken. Auf die gleiche konspirative Art gelangten sie dann wieder in die Redaktion.

Conrad war unruhig geworden, seine Frau machte sich gewiss Sorgen, weil er längst überfällig war. Er verfluchte dieses verlotterte Telefonsystem, das ihm den Anschluss seit vielen Jahren vorenthielt. Wie hatte der Postminister gesagt?: Wir haben ein Wohnungsbauprogramm und kein Telefonbauprogramm. Und Conrad gehörte nicht zu den Privilegierten, die ganz überraschend einen Anschluss oder sogar vor der üblichen Zeit ein Auto bekamen. So bat Conrad seinen Kollegen, die Filme für ihn mit zu entwickeln, während er schnell nach Hause fuhr, um Bescheid zu sagen.

„Du kommst aber spät“, wurde er von Erika begrüßt.

„Ja, und ich muss gleich wieder weg, mach mir schnell ein paar Brote.“ Während sie einige Schnitten schmierte, auch für seinen Kollegen, erzählte Conrad, was sich in der Stadt ereignet hatte.

„Das musste so kommen“, sagte sie, „da ist die Rechnung der alten Männer im Politbüro nicht aufgegangen, von wegen: Solange wir leben, wird es schon noch gehen und nach uns die Sündflut.“ Erika entließ ihren Mann mit der Mahnung aufzupassen, dass er nicht zwischen die Fronten gerate.

Die Filme waren bereits trocken und die Bildreporter vergrößerten, was sie für wichtig hielten, während der Fahrer aus der Bezirksleitung ungeduldig wartete. Sie banden ihm nicht auf die Nase, dass sie alles dreimal vergrößerten, einmal für seinen Chef, einmal für die Redaktion und einmal für das persönliche Archiv. Seine Filme aber nahm Conrad mit und versteckte sie zu Hause.

Diese Vorsicht war nicht unbegründet. Einige Tage später kam ein Mann zu ihm in die Redaktion, klappte seinen Ausweis auf: Ministerium für Staatssicherheit, also ein Offizier der „Firma“. Der Mann sagte, er hätte mit Conrads Chef gesprochen, er dürfe sich die Filme vom 7. Oktober einmal ausleihen, interessehalber, sie müssten einigen Anzeigen nachgehen. Doch Conrad weigerte sich. Drei Wochen zuvor hätte er sich das nicht gewagt.

Daraufhin war der Offizier wutentbrannt wieder zum Chef gelaufen und seine Sekretärin hatte dessen letzte Worte noch gehört: „Wenn alle so handeln würden, dann könnten wir ja einpacken.“ Dem wäre nichts hinzuzufügen gewesen. Kurz darauf wurde Conrad zum Chef gerufen. Der wand sich ein wenig hin und her, er verstehe schon, dass Conrad die Filme nicht herausgeben könne, wir würden ja die Leser verraten. Aber vielleicht hätte er wenigstens einige unscharfe Negative?

„Nein“, sagte Conrad, „meine Negative sind alle scharf“, und dachte sich, bis auf das eine, auf dem fünf Polizisten einen Mann zusammenschlagen. Aber gerade das, bei dem er vor lauter Angst vergessen hatte, scharf zu stellen, würde er nicht ausliefern. Doch der Chef hätte ihn zwingen können; dem wollte Conrad zuvorkommen und so griff er zu dem Mittel der Erpressung: „Du könnest darauf bestehen, aber das bliebe dann nicht im Haus, ebenso würde auch nicht im Haus bleiben, wenn du dich hinter mich stellst.“

Der Chef stellte sich hinter ihn und Conrad konnte sich revanchieren und später dem Bürgerkomitee sagen, dass auch der Chefredakteur die Herausgabe der Filme verhindert habe. Aber da war er bereits kein Chefredakteur mehr.

Und noch viel später erfuhr Conrad, dass der Stasichef, Generalleutnant Hummitsch, persönlich beim Chef seiner Zeitung protestierte, wieso sich der Fotograf weigere, die Filme herauszugeben? Und noch später erfuhr Conrad, dass daraufhin ein lieber Kollege von der Stasi auf ihn angesetzt wurde, aber die Ereignisse waren schneller als irgendwelche Maßnahmen.

Nach einiger Zeit interessierte sich noch einmal jemand für diese Fotos. Da kam ein Abgesandter des Generalstaatsanwaltes der DDR und wollte sie haben, Material für einen geplanten Hochverratsprozess gegen Honecker. Da hatte sich der Mann aber auch mächtig wenden müssen. Sicher hing lange Zeit das Bild von Honecker hinter seinem Schreibtisch und nun wollte er ihm den Prozess machen.

Conrad erzählte von den versteckten Filmen. „Oh, welche Naivität“, sagte der Mann, „im Haus versteckt? Die hätten angefangen, Ihr Haus auseinander zu nehmen, lange hätten Sie da nicht zugesehen.“

8

Also Oma Hertha war dabei gewesen und sie war stolz darauf. Hatte es genügt, nur dabei gewesen zu sein? Ja, es hatte genügt! Denn auch vor diesem 9. Oktober waren einige Tausend mit dem Mut des Glaubens an eine gerechte Sache nach dem Friedensgebet auf die Straße gegangen, wo sie mangels Masse von der Polizei zurückgeknüppelt werden konnten. Mit hunderttausend Menschen ging das nicht mehr, obwohl auch dieser oder jener das gern versucht hätte.

Es wird viele Geschichten um den 9. Oktober geben, jeder, der ihn miterlebt hat, wird seine eigene haben. Der Ernst und die Dramatik der Stunden, Furcht und Hoffnung spiegelten sich in den Predigten wider, in den Berichten der Demonstranten und auch in den Aufzeichnungen der Chronisten. Doch die Zeitungen werden als Quelle für spätere Historiker gänzlich ungeeignet sein, denn da spiegelte sich nur ein Zerrbild wider. 15 Zeilen für einen welthistorischen Vorgang und das auch noch halbversteckt auf Seite 2. Waren die Journalisten nicht in der Lage, die Bedeutung zu erfassen oder wurden sie zum Schweigen gezwungen? Beides traf zu. Da gab es wirklich solche, die das nur für einen kleinen Betriebsunfall hielten, eine Panne auf der holprigen Straße zum Kommunismus. Diese Leute waren zwar kurzsichtig, aber vielleicht noch ehrlich. Wer tolerant sein wollte, musste ihnen diesen Fehler verzeihen. Doch es gab andere, die mit dem unbeteiligten Gesicht, dem keine Regung anzusehen war, hinter deren Stirn man nicht sehen konnte, die sich zu keiner Meinung, außer der offiziellen natürlich, hätten hinreißen lassen, die nur das gelten ließen, was ihnen von der Obrigkeit vorgesetzt wurde. Sie benutzten die Ideologie als eine Art Balancierstange beim Anstieg auf der Karriereleiter.

In diesem Spiel der Kräfte erfüllten die Journalisten also ihre Chronistenpflicht nicht. Doch auch wenn sie gewollt hätten, es wäre ihnen nicht gelungen, mildernde Umstände also. Getreu dem in der Verfassung zugesicherten Recht auf Pressefreiheit, bestellte die Partei zum Hüter dieser Freiheit ihre Propagandasekretäre, die sich diesem Auftrag mit Hingabe widmeten. Frei war nur, was der Partei nützte. Einer der „Retter“ von Leipzig hatte es vom Chefredakteur zum Propagandachef der Partei gebracht. Er zeichnete sich durch eine wahre Meisterschaft im Gängeln von Journalisten aus, die er an der kurzen Leine vorführte. Conrad versuchte sich vorzustellen, wie Meisel da reagiert hätte. Gewiss wäre sich dieser wie auf einem anderen Planeten vorgekommen.

Bereits frühmorgens las der Stab von Mitarbeitern des Propaganda-Chefs die Zeitung. Jede Unebenheit wurde durch den Draht geklingelt, noch bevor die Redakteure selbst ihre Zeitung gelesen hatten. War das Vergehen nicht so schlimm, etwa, dass die Ämter einer Persönlichkeit nicht vollständig genannt wurden, also der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, wenn also der Redakteur aus Platzgründen gedacht hatte, das weiß ja ohnehin jeder und deshalb etwas wegließ, so konnte das als Missachtung der Person gedeutet werden. Da genügte ein Anruf, der eine sehr erzieherische Wirkung ausübte. War einerseits das Weglassen eines Amtes, einer Funktion schon schlimm, so konnte andererseits das vollständige Nennen sämtlicher Ämter in die Katastrophe führen. Das musste ein Betriebszeitungsredakteur erfahren, der wohl die Ämterhäufung des ersten Stadtparteisekretärs glossieren wollte, es waren deren neun, bis hin zum Verteidigungsrat. Für den Redakteur ein teures Vergnügen, denn das war Verrat von Geheimnissen und wurde tatsächlich mit Entlassung bestraft. War in einem Kommentar oder Beitrag eine eigene Meinung erkennbar, die mit der Parteilinie nicht übereinstimmte, so wurde angerufen und in die Bezirksleitung zitiert, im schweren Fall der Chefredakteur und im schwersten Fall die ganze Redaktionsleitung. Es galt das Übel bei der Wurzel zu packen, und so mussten wichtige Artikel vor der Veröffentlichung von der Bezirksleitung gegengelesen werden.

 

Aber der Propagandachef kam nicht etwa in die Redaktion, sondern er ließ sich die Beiträge bringen, nicht von einem Kraftfahrer, nei, bitte schön gleich vom Redakteur, da hatte man ihn zur Hand und konnte seinen Blick öffnen, damit er die Fehler in seinem Text erkannte. Dann wurde geändert, solange, bis Pellert befriedigt sagte, na bitte, warum nicht gleich so. In der Zeit der Wende ließ er sich sogar eine Fünfzehn-Zeilen-Meldung, die sich mit den Ereignissen befasste, vom Chefredakteur oder seinem Stellvertreter persönlich vorlegen. Eine so behütete Presse war wirklich frei von jedem schädlichen Denken.

Am schwersten in diesem System der Pressefreiheit hatten es die Absolventen der Uni, mit Illusionen vom Studium kommend, dauerte es eine Weile, bis sie das alles begriffen hatten. Trotzdem, mit der Laterne wenigstens ließen sich Freiräume finden und schon daraus war der Standpunkt eines Journalisten abzulesen. Immerhin hatte er die Wahl, in einem Drahtseilakt schwankend das andere Ufer zu erreichen oder abzustürzen. So war eine Jugendredakteurin gläubigen Herzens 1989 zum Pfingsttreffen der FDJ nach Berlin gefahren, von dem noch keiner wusste, dass es das letzte sein würde. Zurückgekehrt sollte sie einen Kommentar über die glühende Kampfbereitschaft der Jugend schreiben. Sie weigerte sich standhaft, so etwas habe sie nicht gesehen, sondern junge Paare, die etwas ganz anderes im Sinn gehabt hätten als Politik. Andere wieder hätten sich mehr an die Flache mit dem Hochprozentigen gehalten. Ihre Ablehnung war zwar mutig, aber Arbeitsverweigerung. Und so griff ein stellvertretender Chefredakteur zur Feder und schrieb so, wie er es auf den verschiedensten Parteischulen gelernt hatte, so wie es die Partei verlangte, er funktionierte, auf ihn konnte sich jedwede Macht verlassen. Und da die junge Kollegin nicht funktioniert hatte, war die Strafe gleich doppelt: Annullieren der Gehaltserhöhung und Streichen einer Auslandsreise.

Vielleicht hatte der Chef nur oberflächlich gelesen und der Ressortleiter geschlafen, auf alle Fälle konnte man in der Zeitung lesen, dass die Genossenschaftsbauern auf der Landwirtschaftsausstellung mehr dem Schnaps als der Weiterbildung zusprechen würden. Diese Beleidigung! Der Redakteur, der das geschrieben hatte, wurde mit Entlassung bestraft. Doch zur Ehre des sozialistischen Staates sei gesagt, dass dadurch niemand arbeitslos wurde, sondern es folgte eine Versetzung, bei der mancher sogar höher fiel. So auch ein stellvertretender Chefredakteur, Gott sei seiner Seele gnädig, ein kluger sympathischer Mann, der eigentlich ein Schwarm der Frauen hätte sein können. Doch er war andersherum gestrickt. Er war für Höheres vorgesehen und musste so die Bänke der Parteihochschule drücken. Doch da geschah es: Bei einem Besuch in Budapest traf er sich mit „Gleichgesinnten“, ein unmöglicher Vorgang, der sich nicht mit der orthodoxen Parteimoral vertrug, die der Meinung war, er sei somit erpressbar geworden. Er musste weg. Also flog er von der Parteihochschule, worüber er gewiss nicht unglücklich war, und landete bei einem bekannten Verlag, der sich über einen so hochqualifizierten Mitarbeiter nur freuen konnte.

All die erzieherischen Maßnahmen hatten zur Folge, dass die Zeitung ideologisch klinisch rein war, wenn sich auch hie und da die Feder sträuben mochte und mancher Frust zu Hause abgelassen wurde. Doch davon konnte der Leser nichts wissen, für ihn war die Zeitung entweder gut oder schlecht, er konnte nur daran messen, was in der Zeitung stand und nicht daran, was die meisten Redakteure abends ihren Ehepartnern vorjammerten.

Doch der Gehorsam wurde den Journalisten schlecht gelohnt, denn von den Stiefeln, die sie küssten, wurden sie auch noch getreten. Nicht anders waren die Worte des 1. Sekretärs der Bezirksleitung zu deuten, der in den historischen Tagen der Wende vor Journalistikstudenten sagte, es sei auch bei gestandenen Journalisten die Fähigkeit auszuprägen, Problemen auf den Grund zu gehen. Und diese Journalistenschelte rückte der Nachrichtenchef auch noch ins Blatt, wofür er sich freilich heftiger Kritik ausgesetzt sah, die sich noch verstärkte, als er das mit den Worten entschuldigte, es wäre doch alles mit dem 1. Sekretär abgesprochen. Das war Selbstentmannung.

So wird wohl begreiflich, dass nach dem Polizeieinsatz in der Zeitung zu lesen war, dass Rowdys am 7. Oktober das normale Leben beeinträchtigen wollten und dass es nur den besonnenen Handlungen der Volkspolizei zu danken sei, dass größere Ausschreitungen verhindert wurden. Dass diese Elemente die friedliche Entwicklung nur zu stören versuchten, sei schon daraus ersichtlich, dass sie sich dafür den Staatsfeiertag ausgesucht hätten, an dem das Volk mit Freudenfesten den Geburtstag der Republik feiern wollte.

Bei diesen Ausschreitungen war kein einziger Stein geworfen, kein Transparent entrollt worden, das zur Gewalt aufrief und kein Ruf erklungen, den Staat zu stürzen. Und da die Journalisten ahnten, dass ihnen das in der Redaktion nicht so recht geglaubt wurde, musste die so oft missbrauchte Stimme des Volkes her: Die Frauen einer Gruppe des Demokratischen Frauenbundes waren so eine Stimme, sie äußerten sich empört über diese „Zusammenrottungen“. Sie hatten kein Verständnis dafür, dass man seinen Willen „Wir bleiben hier“ so zum Ausdruck brachte. Eine Frau Marschner wollte sogar diese Handlanger der BRD hinter Gitter bringen.

Aber immerhin, Herr Dr. Franzen, ein Verlagsdirektor, hielt es für möglich, dass die Uneinsichtigen zur Einsicht kommen und dass dann mit den Einsichtigen, nicht mit notorischen Feinden des Staates, ein Konsens gefunden wird.

Damit hatte er Mut bewiesen und sich auf einen Schleudersitz begeben, denn das vereinbarte sich nicht mit der Sprachreglung. Einen Konsens finden bedeutet, dass es vorher wenigstens zwei Meinungen gegeben hat und die hatte es nicht zu geben, nur die Einsicht, dass die festgelegte Linie die Richtige sei.

In diesen Tagen zeigte sich besonders, dass die Journalisten ihre Schwierigkeiten mit dem Sprachgebrauch hatten. Vor allem stolperten sie über das Wort „Zusammenrottung“. Es bedeutet, sich zusammenfinden, verbünden. Aber während beides etwas Positives ausdrückt, klingt Zusammenrottung gefährlich und das soll es auch. Aber das Wort schien nicht stark genug und so setzte man noch „ungesetzlich“ davor. Die Journalisten bekamen diese Sprachreglung von der Agentur, einen amtlichen Text sozusagen, den sie vielleicht sogar voller Schadenfreude veröffentlichten, denn, wenn es ungesetzliche Zusammenrottungen gab, musste es auch gesetzliche, also erlaubte geben. Vielleicht waren das die „Zusammenrottungen“ der Landsmannschaften, denn die waren erlaubt, da traten sogar Bundesminister auf .

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?