Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?

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Vielleicht hätte sich Meisel statt um Kugellager um die neue Oberschicht kümmern sollen, überlegte Conrad, die allerdings nicht neu war, sondern nur aufpoliert und damit glänzend angepasst, die glatten Gesichter, ideologisch geschult in Berlin und Moskau und nun in Bonn. Das war der Lauf der Dinge, keinem konnte man übel nehmen, dass er sich anpasste, jeder verkaufte eben seine Haut so teuer wie möglich. Kooperierte Moskau jetzt nicht mit den Amerikanern, weil diese sonst die neue Weltraumstation nie zusammenbekämen? Dann müssten die Russen folgerichtig auch ihre ehemalige Parteihochschule für die Managerschulung hergeben, denn ihre Absolventen waren jetzt die besten Leute. Das hatte sich bis in die Führungsetagen herumgesprochen, wo noch an salonfähigen Modellen für die neuen Subchefs gebastelt wurde, die für die Drecksarbeit bestimmt waren. Bei den Empfängen waren sie schon von weitem zu erkennen, an ihrem gespannten Blick, mit der Aufmerksamkeit eines Spaniels, dem kein Signal seines Herrn entgehen durfte. Sie lachten an den richtigen Stellen und sie hörten damit auf, sobald die neuen Vorgesetzten aufgehört hatten. Wenn die neuen Chefs etwas erzählten oder gar erklärten, bekamen die Cheflehrlinge den Blick japanischer Abiturienten und das allgegenwärtige Lächeln legten sie nur zusammen mit Schlips und Schuhen ab. Und sie legten noch etwas anders ab, mit dem „Genossen“ auch das „Du“, um in einer wunderbaren Metamorphose zum „Herr“ und „Sie“ zu gelangen. „Also bitte“, musste der verdutzte Conrad hören, „mit der Duzerei ist nun Schluss, ich bitte mir ‘Sie’ aus.“ Da war auch in dieser Hinsicht die Wende vollzogen.

Natürlich mussten sie sich erst einarbeiten. So hatten sie anfänglich falsche Vorstellungen davon, mit welchen Geschenken man die wohlgeneigte Aufmerksamkeit erwecken konnte. Da war nichts mehr mit billigen Kugelschreibern, Notizbüchern oder dem Tand, der jetzt sogar auf einem Kindergeburtstag mit Verachtung gestraft worden wäre. Nein, wenn schon ein Schreibgerät, dann ein Füllfederhalter, der umso besser schrieb, je höherkarätiger seine Goldfeder war. Es war ein Geben und Nehmen, an das sich die Neuen erst gewöhnen mussten. Die Journalisten wurden nicht etwa gekauft, wie man das hätte annehmen können, indem ihnen große Versandhäuser oder Autohersteller einen Rabatt von 15 Prozent einräumten, nein, das öffnete lediglich den Blick für die Größe des Unternehmens, für seine Leistungsfähigkeit und erleichterte so manche Formulierung. Und die Neuen lernten erstaunlich schnell die differenzierte Kritik. Während sie zum Beispiel ein Theaterstück nach Herzenslust zerreißen konnten und als unbestechliche Journalisten in Kauf nahmen, dass ihnen der Intendant zur Strafe die Freikarten verweigerte, hielten sie sich bei den von ihnen eigenhändig getesteten Autos merklich zurück. Natürlich wurden da auch schonungslos die Mängel aufgedeckt, etwa, dass der Aschenbecher nicht ergonotmetrisch genug geformt sei oder der Motor so leise liefe, dass ihre vom Motorenlärm des Trabant und Wartburg verdorbenen Ohren glaubten, er sei ausgegangen. Da verglichen sie das Auto mit einem schnurrenden Kätzchen, das beim Gasgeben zum Tiger wird, solches hatten sie auf vielen unentgeltlichen Kilometern aufopferungsvoll getestet.

Und sie fühlten sich geschmeichelt und bestätigt, dass die Bonner Minister, alte wie neue, eine förmliche Sucht in sich verspürten, die östlichen Redaktionen mit ihren Besuchen zu erfreuen, auf dass diese aus erster Hand die reine und unverfälschte Politik erführen. Dies nahmen sie mit großen glänzenden Augen auf und die Politiker konnten sicher sein, dass alles, was sie gesagt und gemeint hatten, auch so gedruckt wurde. In Ostland waren sie sicher vor unangenehmen Fragen, die ihnen im Westen der Heimat als Knüppel zwischen die Beine geschoben wurden, über die so mancher gestolpert war.

Doch Conrad verwarf den Gedanken wieder, dass sich Meisel mit dieser Metamorphose beschäftigen könnte, wahrscheinlich würde das Meisel nicht abgenommen, denn zu diesem Spiel gehörten zwei, die Angepassten und diejenigen, die dies im Interesse des Geschäftes hinnahmen.

6

Von seinem Schreibtisch aus konnte Conrad die Straße einsehen. Eine Blechlawine, stehen, im Schritt fahren, stehen. Parkende Autos, halb auf den schmalen Fußwegen, im Halteverbot, Anlieferer in der zweiten Reihe, dazwischen die Straßenbahn. Alles wurde von einem gleichmäßig brodelnden Lärm überlagert, in dem sich die hilflosen Signale eines Rettungswagens verloren. Das war die Anarchie des Straßenverkehrs. Hinzu kam, dass jetzt jeder ein Schild hinstellen konnte, um eine Straße aufzuhacken. Verschiedene Firmen stellten gegensätzliche Leiteinrichtungen auf, sodass diese Straße entweder gar nicht befahren werden konnte oder nur entgegengesetzt zur Einbahnstraße. Auch das war ohne weiteres möglich, denn die Polizei stand diesem Phänomen ebenso hilflos gegenüber. War dies das Gegenteil von Planwirtschaft?

Sollen sie sich durchwühlen, dachte Conrad und war in diesem Punkt nicht böse auf seinen Feierabend zu vorgerückter Stunde. Eine Tageszeitung wird vormittags geplant, nachmittags zusammengestellt und wenn sie etwas auf sich hält, kann noch bis 24 Uhr nachgeschoben werden, zum Beispiel ein Europapokalspiel, das der Leser am Frühstückstisch braucht, obwohl er es viel besser am Abend vorher im Fernsehen verfolgt hat.

Es war ziemlich spät, als er endlich die Heimfahrt antreten konnte. Schade nur, dass der Tag schon so gut wie zu Ende war. So machte er sich keine Hoffnung, dass er noch seine jüngere Tochter und die Enkelkinder antreffen würde, die waren längst daheim, „bei mein Papa“, wie der kleine Fratz immer sagte. Die Große, sofern man bei fünf Jahren von groß sprechen kann, hatte heute Klavierunterricht gehabt, anschließend kamen sie immer zu Besuch, leider sah er sie meist nicht. Seine Enkelin hatte Musik im Blut und weil die Großeltern kein Klavier besaßen, spielte sie immer auf der Tischkante vor, wobei sie sich genau so verspielen konnte und den Fehler mit ärgerlichem Gesichtsausdruck verbesserte.

Jetzt kam er zügig voran und unterwegs musste er wieder über diesen Meisel nachdenken, der dem Aufschwung Ost auf der Spur war. Aufschwung Ost, am liebsten hätte ihm Conrad gesagt, dass er sich da beeilen müsse, bevor auch der letzte Betrieb schloss. Aber das hatte er sich verkniffen, weil Meisel das sicher selbst wusste, ein Wirtschaftsjournalist konnte nicht so blind sein wie die Regierung.

Als er durch das für ihn offenstehende Gartentor fuhr, schüttelte er den Tag ab, dieses Haus erschien ihm wie eine Burg. Die Burgherrin hörte den Motor und setzte den Tee auf.

Erika Conrad war Sekretärin gewesen und nun arbeitslos, weil das Kombinat, für das sie gearbeitet hatte, nicht mehr existierte. Sekretärinnen wurden sogar gesucht, aber bitte jung und dynamisch, höchstens vierzig. „Das einzige, das auf mich noch zutrifft, ist dynamisch, da würde ich den Herren, die solche Forderungen stellen, noch etwas vormachen, aber das langt wohl nicht“, hatte sie auf dem Arbeitsamt gesagt und die Suche aufgegeben. So war sie eine von den 50 Prozent Frauen, die nach der Wende ihre Arbeit verloren hatten. Sie kam ihm entgegen, begrüßte ihn mit einem Kuss und sagte: „Die Kinder sind gegangen, schon vor zwei Stunden, aber Mutter ist da, sie will uns wieder mal was Gutes tun, rede ihr die geplante Werbeverkaufsfahrt bloß aus, auf dich hört sie besser.“

Inzwischen hatte der Junior von seinen Fußballübungen in der Wiese abgelassen, das Gartentor geschlossen und sagte: „N’abnd, Paps, du kommst wieder mal spät, also Journalist werde ich bestimmt nicht.“ Dabei schlenkerte er ungelenk seine Arme, er war fünfzehn, schon einsachtzig und noch kein Ende abzusehen. Dann protestierte er: „Also ich find’s stark, wenn Oma was mitbringen will, red’s ihr nicht aus, ich könnte einiges gebrauchen.“

„Du kannst alles gebrauchen“, sagte sein Vater und sie gingen zusammen ins Haus.

Oma Hertha war der gute Geist der Familie und die Stimme des Volkes, wie Conrad behauptete. Immer noch war sie eine äußerst resolute alte Dame, welche die meiste Zeit damit verbrachte, nach preisgünstigen Geschenken für die lieben Kleinen Ausschau zu halten. Erst gab es nichts, jetzt zuviel.

Oma Hertha schätzte den Rat ihres Schwiegersohnes, obwohl er sie einmal gekränkt hatte, als er behauptete, sie habe eine Kaffeephilosophie. „Das klingt ja gerade so, als ob ich aus dem Kaffeesatz lesen würde.“ Aber sie war eine Kaffeeliebhaberin wie die meisten Sachsen seit der Bachschen Kaffeekantate. Die Wirtschaft eines Landes beurteilte sie zuerst nach der Qualität des Kaffees. Doch es gab Länder, in denen überhaupt kein Kaffee getrunken wurde, wie zum Beispiel in der Sowjetunion. Das wusste sie seit einer Fahrt nach Leningrad, wo sie der Reiseleiter auf dieses Manko aufmerksam gemacht hatte. Trotzdem hatte sie mit ihren Reisebegleiterinnen im Hotel einen Kaffee bestellt und tatsächlich bekamen sie etwas, das wie Kaffee aussah, aber unbeschreiblich schmeckte; sie hatten es stehen lassen. Inzwischen war aus der Sowjetunion wieder Russland geworden, mit einigen Randstaaten ringsum und aus Leningrad Sankt Petersburg. Aber Jelzin, den sie erst mit Sympathie betrachtet hatte, weil er so männlich wirkte, brachte noch nicht einmal genug Brot auf den Tisch, geschweige denn Kaffee. Kein Kaffee, man sah ja, wo das hinführte.

Sogar die DDR hatte auf den Kaffee nicht verzichten können. Das waren zwar die billigsten Bohnen, die auf dem Weltmarkt zu bekommen waren, aber es war wenigstens Kaffee, für acht Mark das Viertel. Gegen Jakobs Krönung kam er natürlich nicht auf, das sah man an den verklärten Gesichtern in der Werbung, die Hertha regelmäßig sah, obwohl sie gleichzeitig schimpfte: „Die Werbeleute müssen die Zuschauer reinweg für beschränkt halten.“

 

So um die Weihnachtszeit herum hatte sie von ihrer Cousine aus Hannover immer ein Päckchen mit Kaffee, Schokolade, Bonbons und Gebäck bekommen, was sie aber, abgesehen vom Kaffee, nie für sich behielt.

Und dann geschah etwas, das Hertha tatsächlich in die Lage versetzt hatte, aus dem Kaffeesatz den Untergang der DDR vorauszusagen. Das war kein gewöhnlicher Kaffeesatz gewesen, sondern der Bodensatz einer neuen Kaffeemischung, die aus 10 Prozent Bohnenkaffee und 90 Prozent Malzkaffee bestand. Gut fürs Herz, behauptete die Parteiführung, die es leid war, wertvolle Devisen für Kaffee auszugeben.

„Das ist der Anfang vom Ende“, hatte Hertha entrüstet gesagt, die einen Beutel für zwei Mark gekauft hatte, um ihn dann als ungenießbar in den Müll zu werfen, so sparsam sie auch sonst war. Das war Protest und das Ende nicht mehr weit. Die Führung hatte zwar auf Oma und das Volk gehört und das Gesöff wieder aus dem Verkehr gezogen, was aber den Untergang nicht hatte verhindern können.

Einmal im Jahr war Oma Hertha zu ihrer Rentnerfahrt in den Westen aufgebrochen. Anfangs hatte sie sich geschämt Geld anzunehmen, aber das kam ja nicht von den Armen, das konnte man sehen. Obwohl sie auch hierin beinahe schwankend geworden wäre, denn bei ihrer ersten Westreise, sie war gerade sechzig geworden, wäre sie mitten auf dem Fußweg beinahe über einen Bettler gestolpert, ein junger Mann! Sie war erschrocken, dass man so etwas duldete. In der DDR wäre der Mann glatt verhaftet und in eine Gleisbaubrigade gesteckt worden.

Trotz aller Kaffeephilosophie hatte sie durchaus auch ein kritisches Verhältnis zu dem anderen Staat. Vor allem seit dem Tag, als sie der Einfachheit halber nicht nach Hannover zu ihrer Cousine, sondern nach Westberlin gefahren war. Als sie dort in einen Omnibus stieg, erstarrte sie, da waren Hakenkreuze auf die Lehnen geschmiert und an der Rückseite las sie: Deutschland den Deutschen. Hertha lief ohne zu zögern durch den fast leeren Bus und sagte zum Fahrer: „Wissen Sie eigentlich, was Sie für Schmierereien in ihrem Bus spazieren fahren? Sie müssen sofort ins Depot, damit das entfernt wird.“

Der Fahrer war verdutzt, bisher hatte sich noch kein Fahrgast beschwert und er entschuldigte sich im Voraus, sicher wieder eine pornographische Zeichnung, und ging mit nach hinten, dem anklagenden Finger Herthas folgend.

„Ach so, das da“, sagte er erleichtert, „das finden Sie überall. Sie sind nicht von hier? Na, dann gehen Sie mal durch die S-Bahn-Stationen, da guckt doch keiner mehr hin.“

„Na, was hast du diesmal auf dem Herzen?“, fragte Conrad seine Schwiegermutter nach der obligatorischen Umarmung, dabei sah er unauffällig auf die Uhr. Schon nach acht, da musste er sie wieder nach Hause fahren. Er war müde.

„Also Carl, stell Dir vor, Erika will keine Handnähmaschine, dabei passt die in jede Handtasche, für unterwegs, wenn mal was geflickt werden muss. Stattdessen will sie lieber ihr altes Nähetui mitnehmen. Und dann gibt es auch noch ein Kaffeeservice. Doch wenn Erika durchaus nicht will, dann bekommen das die Mädchen. Aber es gibt auch noch eine Armbanduhr im Militarylook, so steht es im Prospekt, und die habe ich dir zugedacht, Carl.“

„Nein ich habe doch eine Uhr und du weißt auch, dass ich Pazifist bin.“

„Dann kriege ich die Uhr“, rief der Junge laut dazwischen, „die ist sicher mit Kompass und Höhenmesser!“

„Na gut“, entschied Oma Hertha, „so ist mir’s auch lieber, da kommt keines eurer Kinder zu kurz und Gerechtigkeit muss schließlich sein, stimmt’s, Carl?“

„Ja“, entgegnete dieser, „aber du kennst meine Meinung zu den sogenannten Werbeverkaufsfahrten, da werden den Teilnehmern minderwertige Sachen zu überhöhten Preisen aufgeschwatzt, die sie überhaupt nicht brauchen. Ich rate dir, nimm kein Geld mit, sonst wirst du ausgeraubt.“

„So ein Unsinn, das sind lauter nette Leute“, widersprach Oma Hertha und ließ sich das Abendbrot schmecken. Aber das Thema beschäftigte sie doch noch: „Ich muss schon so ein günstiges Angebot annehmen, für 16 Mark nach Nürnberg, wo doch mein Sparguthaben halbiert worden ist.“ Sie hatte nie verstehen können, dass bei der Währungsunion der größte Teil ihrer Ersparnisse von 20 000 Mark, der Notgroschen für das Alter, halbiert worden waren, obwohl sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet hatte, während zum Beispiel bei ihrer Cousine in Hannover viel mehr auf der hohen Kante lag, dabei hatte diese nur aushilfsweise etwas dazu verdient.

„Dafür sind wir nicht auf die Straße gegangen“, pflegte sie zu sagen und sie meinte ihre Teilnahme an den Montagsdemonstrationen, in die sie aber mehr zufällig geraten war.

Oma Hertha war „heilig“, wie ihr Schwiegersohn scherzhaft sagte, weil sie regelmäßig die Kirche besuchte. Früher hatte sie sogar versucht, ihn zu bekehren, ihn, einen waschechten Heiden. Dabei war mancher Missklang aufgekommen, denn ihre Tochter hatte sich auch gänzlich von der Kirche abgewandt, weil weder Kirche noch der liebe Gott all das Elend in der Welt abwenden konnten.

Und doch hatte die Kirche etwas bewirkt: Sie hatte den Bürgerrechtlern ein Dach über dem Kopf gegeben, ob sie nun glaubten oder nicht. Und die Gläubigen waren bei den Demonstrationen in den vordersten Reihen marschiert und sie hatten Kerzen in der Hand getragen. Mit Kerzen hatten sie einen totalitären Staat besiegt, das war einmalig in der Geschichte und Oma Hertha war dabei gewesen. Nicht gleich freilich, da war sie überhaupt nicht in die Kirche hinein gekommen, überfüllt, bereits Stunden vor dem Gottesdienst, wo hatte es so etwas schon gegeben? Ja sie war überhaupt nicht in die Nähe der Kirche gelangt, sie hätte sich durch die Menschenmassen drängen müssen und das wagte sie sich nun doch nicht. Später dann, nach der ersten Euphorie, war wieder Platz für die Gläubigen.

Oma Hertha war auch überzeugt, dass diese Montagsdemonstrationen nicht zufällig in Leipzig stattgefunden hatten, sondern dass Gott ein Auge auf diese Stadt geworfen habe, wie es der Pfarrer auch in einer Predigt gesagt hatte. Gott musste auch schon früher die Stadt im Blick gehabt haben, denn hier wurde Napoleon besiegt und nun Honecker. Und sie war der Meinung, dass man noch in mehr als hundert Jahren von den Montagsdemonstrationen reden würde, so wie heute noch über die Völkerschlacht von 1813. Und sie war dabei gewesen!

Auch wenn Conrad manchmal über die Ansichten von Hertha lächeln musste, hier gab er ihr recht.

7

Dabei hatte es ausgesehen, als hätte jedwede Macht, die himmlische wie die irdische, ihre Augen von dieser Stadt abgewandt. Wenn ihre Bürger wirklich von allem verlassen waren, so doch nicht von dem Willen nach Veränderung. Wie, das wussten sie selbst nicht. Der letzte Funke für das Feuer vom 9. Oktober wurde vielleicht zwei Tage vorher geschlagen, ausgerechnet am 40. Jahrestag der DDR. Wie in einer Kristallkugel hatten sich da die 40 Jahre gespiegelt.

Dieser Gedanke hatte sich Conrad am Abend des 7. Oktober aufgedrängt, als er von früh bis spät die Ereignisse mit der Kamera begleitete. Der Morgen hatte mit Heldenverehrung begonnen. 9 Uhr Kranzniederlegung am Antifaschistischen Ehrenhain auf dem Südfriedhof. Eine verordnete Zeremonie, die politische und staatliche Führung war erschienen, alle, die repräsentieren mussten, alle, die gesehen werden wollten, und auch einige, denen es Bedürfnis war, derer zu gedenken, die unter dem Fallbeil gestorben oder erschossen worden waren. Und da lagen auch viele, friedlich dahingeschieden im Bett und nun vereint im Ehrenhain erster Klasse. Das Fußvolk dagegen drängte sich im Ehrenhain zweiter Klasse, die angestrebte klassenlose Gesellschaft ließ sich auch im Tod nicht verwirklichen.

Wie oft hatte Conrad das schon fotografiert. Die Bilder glichen sich wie ein Ei dem anderen, man hätte einen Film daraus zusammensetzen können. Hatte der Bildreporter nicht die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den Vorgang jedes Mal anders zu sehen? Mal von oben, mal von unten, mal mit dem Feuer im Vordergrund, mal mit der Trommel, dann wieder mit Blumen, feierlich ernste Gesichter, oh der Möglichkeiten gab es viele. Aber er konnte so viel variieren wie er wollte, ja das wurde sogar verlangt, unter einer Bedingung: Die Führung musste scharf im Mittelpunkt stehen. Jedes Jahr die gleichen Leute. Ein Musikkorps der Volkspolizei war aufmarschiert. Unsterbliche Opfer, wofür hatten sie ihr Leben gegeben? Dafür, dass alles in Unfähigkeit erstickte, für eine Utopie?

Hinter den Grabplatten aus geschliffenem rotem Granit standen Thälmannpioniere, Schüler in Uniform mit rotem Halstuch, eine rote Nelke in der Hand, die sie auf ein Kommando hin niederlegten. Die Lehrer hatten Mühe, die Kinder in der nötigen Andacht zu halten.

Ohne Kampfgruppe ging da nichts, sie musste die Kränze tragen. Wenn nicht die dicken Bäuche und Bärte gewesen wären, hätte das sehr militärisch aussehen können. Es hatte geregnet und der geschliffene Granit spiegelte die Kämpfer kopfstehend. Conrad fotografierte sie mit dem Völkerschlachtdenkmal im Hintergrund.

Das Ritual ging weiter. 10 Uhr fand die nächste Kranzniederlegung am Ehrenhain der Sowjetarmee auf dem Ostfriedhof statt. Der ganze Konvoi – Autos und Omnibusse – setzte sich in Bewegung. Conrad kletterte in seinen Trabant und war früher da, er kannte den kürzesten Weg.

Dort verdoppelte sich der Einsatz, zwei Musikkorps standen auf dem grünen Rasen, rechts die Sowjetarmee, links die Volksarmee. Die Sowjets wirkten schneidiger in ihren Paradeuniformen und sie spielten auch besser. Die Volksarmee dagegen sah in ihren langen Mänteln hölzern aus. Es trafen die gleichen Ehrengäste ein, verstärkt durch Abordnungen der bewaffneten Organe, Militärbezirk, Polizei, Staatssicherheit. Für Minuten brannte nun das ewige Feuer, betrieben aus einer Propangasflasche, bewacht von einem Feuerwehrmann. Sobald die Nationalhymnen erklangen, erstarrte alles in strammer Haltung.

Wieder standen Thälmannpioniere hinter den Grabsteinen. Die dort Beerdigten waren im Durchschnitt 20 Jahre alt geworden. Merkwürdigerweise stand auf manchem Grabstein nur der Familienname und die Jahreszahl 1946. Warum war der Name nicht vollständig und warum fehlte der genaue Todestag? Es gab da Geheimnisse, waren die Begrabenen im Tod wieder die Opfer? Ein Jahr später wurden die Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert und umgeworfen.

Offiziere der Sowjetarmee legten als erste Kränze und Blumengebinde nieder. Im zackigen Stechschritt zogen sie wieder ab, der Alte Fritz hätte seine Freude gehabt. Weniger bei der Nationalen Volksarmee, die als nächste an der Reihe war. Dann lief alles weiter streng nach Protokoll, da war nichts dem Zufall überlassen. Zuerst die Partei, dann alle möglichen Organisationen, bis das Volk an der Reihe war, die Delegationen aus den Betrieben und den Wohnbezirken, eine ansehnliche Menge, die allerdings weniger aus eigenem Antrieb gekommen war, sondern mehr, weil sie keine Ausrede bei der Hand gehabt hatten.

Mit dem Volk, inmitten sowjetischer Zivilangestellter und Offiziersfrauen, kam auch Vater Fjodor Povnyi, der Hauptgeistliche der Russischen Gedächtniskirche, das Kreuz leuchtete golden auf seinem schwarzen Gewand. Es war erst das zweite oder dritte Mal, dass er teilnehmen durfte. Dank dem Monster Perestroika hielt nun auch die Religion Einzug in der Sowjetarmee, die Kirchen begannen wieder zu „arbeiten“. Bei seinen Reisen in die Sowjetunion hatte Conrad oft gehört: Diese Kirche arbeitet jetzt als Museum. Nun war die Kirche zurückgekehrt, misstrauisch von den Parteioberen betrachtet: wo sollte das hinführen, wurde die Armee aufgeweicht.

Zwei Kranzniederlegungen waren aber nicht genug, Der Tross zog weiter, wenige Schritte nur bis zum polnischen Ehrenmal. Hier achtete der polnische Generalkonsul auf das Protokoll. Aber das Pulver war bereits verschossen, es ging weniger feierlich zu, keine Musikkapelle, weniger Blumen. Aber immerhin, man hatte dem großen ungeliebten Bruder wieder einmal gezeigt, dass man an Polen nicht vorbei kommt. Deshalb wohl auch hatten die Polen ihr Ehrenmal in Sichtweite des sowjetischen errichtet, eine große, unregelmäßig geformte Steinplatte mit Fußabdrücken, vielleicht symbolisierend die letzten Spuren der ums Leben Gekommenen.

Nunmehr eilte Conrad zu seinem Trabi und fuhr in die Merseburger Straße, die zu Ehren des 40. Jahrestages zum Teil in eine Fußgängerzone verwandelt worden war.

Das System hatte eine Vorliebe für Jahrestage, deren Bedeutung dadurch unterstrichen wurde, dass die Werktätigen förmlich danach lechzten, irgendetwas zu übergeben: Eine neue Produktionslinie, ein neues Produkt, neue Wohnungen, einen neuen Kindergarten, einzig und allein gebaut zu Ehren des Jahrestages, gewissermaßen auf den Geburtstagstisch gelegt.

 

Nun war das mit diesen Geburtstagsgeschenken so, dass ihre Fertigstellung nicht unbedingt synchron mit dem Ereignis lief. Manchmal war eine neue Einrichtung früher fertig, meist aber später. Man half sich, indem die zu früh fertig gestellten künstlich angehalten oder auch zweimal übergeben wurden, das erste Mal zum Probelauf und dann mit symbolischem Knopfdruck zum Jahrestag. Vorher durfte die Presse nichts darüber berichten, der Geburtstagsüberraschung wegen. Und was zum Jahrestag noch nicht fertig war, wurde trotzdem übergeben und die Presse musste darüber berichten, auch wenn die Anlage noch nicht lief. So gesehen war die kleine Fußgängerzone ein recht mickriges Geburtstagsgeschenk, zumal, wenn man die Jubiläumszahl 40 betrachtete.

Für die Anwohner dieser einst stark befahrenen Straße war es dennoch angenehm. Anstatt auf Blech und wabernden Auspuff-Qualm blickten sie nun von den Fenstern ihrer strahlend weißen Fassaden auf Blumenschalen. Der Verkehrslärm war verschwunden, ein Idyll im Arbeiterwohnviertel.

Aber der Verkehr sucht sich einen anderen Weg, wenn ihm ein Hindernis vor die Räder gelegt wird. So brandete er nun durch die Nebenstraße, eine enge düstere Schlucht, die auch durch die bunten Karossen nicht verschönert wurde. Viele Gebäude standen leer, die Scheiben eingeworfen, durch die zerlöcherten Dachrinnen tropfte das Wasser, ein Taubenparadies. Für die, die dort wohnen mussten, wurde es nun noch schlimmer. Conrad fotografierte die neu gefärbten Fassaden. Das Alte, den Dreck, wollte keiner sehen, am wenigsten zum Jahrestag.

Als er den Apparat wieder absetzte, umringte ihn eine Gruppe Jugendlicher: „He, bist du etwa von der Zeitung? Sieh dir lieber die Rückseiten an, die haben sie nämlich glatt vergessen.“ Ein jungen Mann mit dünnem Haar hielt Conrad sein Glas Bier vor die Nase: „Komm, trink einen Schluck mit.“ Conrad hatte es riskiert abzulehnen, obwohl das in solchen Situationen unklug war. Aber die Leute gaben sich nicht beleidigt: „Na gut, mit dem Auto“, sagte der Wortführer, „da trink ich eben mein Bier selbst, ist ja 40. Jahrestag, da mach auch ich meine Amnestie mit dem Staat. 13 Monate war ich im Knast, weil ich das Maul zu weit aufgerissen hatte, vergessen“, sagte er versöhnlich und trank das Bier in einem Zug aus.

Conrad fotografierte die Rückseiten der Häuser für das private Archiv. Rohes Mauerwerk, Salpeter bis in das Erdgeschoss, defekte Dachrinnen, halb eingefallene Schuppen und ein entsetzlicher Unrat, alles, was nicht mehr gebraucht wurde, lag herum.

Der Mann mit dem Bierglas war ihm gefolgt: „Fotografiere das ruhig“, sagte er, „die DDR im Kleinen.“ Und dann begann er zu erzählen, vielleicht hatte ihm das Bier die Zunge gelöst, jedenfalls war er sehr mitteilsam. Er ärgerte sich über die schlechte Behandlung der Arbeiter. Als Niederdruckheizer müsse er im Winter oft 13 Stunden am Tag arbeiten, der Verdienst wäre dadurch nicht schlecht und er wolle nicht weg, aber dass er nur 18 Tage Urlaub bekomme, dass sehe er nicht ein, wo doch die Verwaltung, die immer mit der Kaffeekanne herumrenne, 26 Tage bekomme. Nein, gerecht wäre das nicht. Er wäre schon bei der Gewerkschaft gewesen, aber natürlich umsonst.

Es war nicht zu überhören, die Zeit der Sprachlosigkeit ging zu Ende, Conrad war aufgefallen, dass die Leute immer offener ihre Meinung sagten. Die Partei, die doch vorgab, auf alles eine Antwort zu wissen, stand dieser Erscheinung hilflos gegenüber, hier half kein Lehrbuch weiter. Und so sah man in jedem, der seine Meinung offen sagte, einen Unruhestifter.

Am Ende der Fußgängerzone stand der Quell des Bieres, ein Wagen mit strammen Brauereipferden davor gespannt. Natürlich kein Freibier zur Feier des Tages, 50 Pfennig kostete der halbe Liter.

Beim Weggehen traf Conrad den Sekretär des Rates aus dem Stadtbezirk, er war aus der Eckkneipe gekommen und zählte jetzt die Fahnen, die in eisernen Ständern steckten.

„Die wird doch keiner wegnehmen“, sagte Conrad, bei einer DDR-Fahne konnte er sich das nicht vorstellen.

„Doch, die klauen wie die Raben“, entgegnete der Sekretär, „wenn sie wenigstens ihre Fenster damit schmücken würden, aber nein, sie zerbrechen die Stiele oder stecken sie an die öffentlichen Toiletten.“

Na schön, sollte er seine Fahnen zählen, das war nichts für die Berichterstattung, und so eilte Conrad in die Redaktion.

Aus dem Mittagessen wurde natürlich nichts. Er klemmte sich eine Scheibe Brot zwischen die Zähne und eilte in die Innenstadt, um das bunte Treiben der Markttage, die dem 40. Jahrestag ein festliches Gepräge geben sollten, zu fotografieren.

Auf der Bühne am Markt traten Breaktänzer auf und sie erhielten großen Beifall für ihre amerikanische Subkultur, wie die Funktionäre sagten. Früher wäre das verboten worden, aber auch die Liberalisierung in der Unterhaltung ließ sich nicht mehr aufhalten, wenn auch argwöhnisch von der Stasi beobachtet. Doch die jungen Leute hatten ein Klubhaus gefunden, das der Eisenbahner, das ihnen Trainingsmöglichkeiten gab. Es war bemerkenswert, was sie gelernt hatten, denn eigentlich waren das keine Tänzer, sondern ganz raue Draufgänger, die vorher nicht wussten, wohin mit ihrer Kraft. Aber anstatt auf den Fußballplätzen zu randalieren, hatten sie für sich den Breakdance entdeckt. Das waren Lehrlinge, Arbeiter aus einfachem Milieu; Intelligenz oder politisch Engagierte waren nicht darunter, denn welch geistig durchgebildetes Haupt möchte sich wohl im Kopfstand rasend um seine Achse drehen?

Auf der kleinen Bühne am Eingang zur Petersstraße spielte die Lose-Skiffle-Gemeinschaft poppige Folklore. An sich nichts besonderes, das war erlaubt, den englischen Text verstand sowieso keiner. Aber die Ansage: „Wir singen jetzt ein Lied für ein inhaftiertes Mitglied“, war stark, denn sie würden kein Lied für ein Mitglied vortragen, das eine wirkliche Straftat begangen hatte, also Diebstahl, Unterschlagung, schwere Körperverletzung. Das umstehende Volk nahm das auch nicht an, denn es klatschte Beifall, es verstand. Und die unauffälligen Herren, in ihren leichten Mänteln, bewaffnet mit Regenschirmen, als ob sie permanent mit einem Unwetter rechnen würden, hatten glatte unbeteiligte Gesichter, schlechte Kundschafter, denn sie klatschten nicht. Aber sie schritten auch nicht ein, ganz im Gegensatz zum vergangenen Sommer, als plötzlich Straßenmusikanten aufgetaucht waren und in der Innenstadt spielen wollten. Das war verdächtig, denn das war nicht die FDJ, sondern es konnten irgendwelche Rattenfänger sein. Wer hatte die Texte kontrolliert, woher kamen die Leute? Was wollten sie? Hatten sie überhaupt eine Genehmigung? Nein! Also verbieten, wo kämen wir hin, wenn jeder spielen und singen könnte, was er wollte.

Die Zurückhaltung der unauffälligen Herren konnte darin begründet sein, dass ihnen die knisternde Spannung nicht entgangen war, die über dem Markttreiben lag. Eine Machtprobe stand bevor, das Wort gegen bewaffnete Gewalt. Der stellvertretende Chefredakteur hatte gesagt, es würden Informationen vorliegen, dass konterrevolutionäre Elemente versuchen wollten, die Markttage zu stören, wahrscheinlich würden sich die Vorgänge wieder um die Nikolaikirche konzentrieren.

Konterrevolution? Wollte sie den Bürgern die Festfreude nehmen? Konnten die Menschen überhaupt Festfreude empfinden, wo in jedem Bekanntenkreis, bald in jeder Familie Plätze leer blieben? Wenn diese Massenflucht das Werk der Konterrevolution war, dann saß diese in Berlin, in den höchsten Ämtern, denn die Situation hatte nicht das Volk verschuldet, sondern die Führungsspitze mit ihren Hofschranzen.