Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?

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Was also sollte Meisels Frage? Natürlich war das eine Wende um 170 Grad und natürlich wurden bei den etablierten Zeitungen nur ganz wenige Sündenböcke in die Wüste geschickt, denen es aber jetzt in den Oasen der Werbung auch nicht schlecht ging. Und da Conrad keine große Lust verspürte, sich noch lange mit dem Wessi zu unterhalten, war der Ton, in dem er antwortete, nicht eben der freundlichste: „Sicher ist es schmerzhaft, wenn man an etwas geglaubt hat, das sich dann als Utopie erweist. Doch wer ehrlich mit sich selbst Inventur machen kann, dem ist es auch möglich, ohne Gewissensbisse in eine neue Situation hineinzuwachsen. Wer also seinen Fehler oder auch Irrtum zugibt, ist immer noch besser als der, der niemals etwas falsch gemacht haben will. Und was heißt in Demokratie üben? Vielleicht müssen wir uns alle darin üben?“

„Na ich weiß nicht, den größten Nachholbedarf haben wohl Sie“, warf Meisel ein.

„Mag sein“, entgegnete Conrad und setzte den Gedankengang fort: „Auch in einer Diktatur kann es Demokratie geben und in einer Demokratie gibt es Diktatur, vor allem die Diktatur des Geldes. Sie haben ja immer in einer Demokratie gelebt, wo jeder die Freiheit hat, die Partei zu wählen, von der er glaubt, dass sie am besten die Probleme der Gesellschaft lösen kann. Wir hatten diese Freiheit nicht, weil es nur die eine Partei gab, ob sie nun SED, CDU oder sonst wie hieß. Wollen sie uns das zum Vorwurf machen?“

„Natürlich nicht, aber wenn man die Zeitungen vor der Wende liest, kann man doch nur mit dem Kopf schütteln, haben Sie sich dabei wohlgefühlt?“

„Nein bestimmt nicht. Und wenn die Demonstranten Pressefreiheit forderten, war damit bestimmt auch Freiheit für die Journalisten gemeint. Doch eine Gegenfrage: Fühlen Sie sich wohl bei der Lektüre bestimmter Zeitungen, mit denen nun auch der Osten überschwemmt wird?“

Doch Meisel fühlte sich nicht in die Enge getrieben, er wehrte ab: „Wir wollen hier doch nicht von der Boulevardpresse reden.“

Conrad trank den letzten Schluck Kaffee aus und sagte: „Immer wieder höre ich Vorwürfe, was wir alles falsch gemacht haben, nie ein Wort, was vielleicht besser war oder wenigsten Anerkennung, dass die Wende von innen heraus kam. Es ist doch eine Ironie der Geschichte, dass der im Wohlstand Lebende seine nach langer Irrfahrt endlich gelandeten Brüder und Schwestern verantwortlich machen will für den Sturm, der sie ans andere Ufer trieb, von wo aus sie nun mit eigener Kraft zurückgefunden haben.“

Und weil Meisel auf dieses Bild nicht antwortete, aber auch keinerlei Anstalten machte zu gehen, wurde er noch eine Spur abweisender, ja er gab sich direkt Mühe, seinen Worten einen unfreundlichen Klang zu geben, als er sagte: „Wir sind also angekommen. Doch wenn ich jetzt das Heer der Wiedereinsteiger, Banken, Versicherungen, Gebrauchtwagenhändler, Großverkäufer, der kleinen und großen Betrüger sehe oder gar die Treuhand, den radikalsten Arbeitsplatz-Vernichter in der Geschichte Deutschlands, so muss ich zu dem Schluss kommen, dass wir uns aus eigener Kraft befreit haben, nur um anschließend unter die Räuber zu fallen.“ Na, wenn das nicht gesessen hat, dachte Conrad, den bin ich los.

Doch Meisel hatte sich in der Gewalt, er ließ sich nicht anmerken wie wütend er auf Conrad war, der, mit bester Westtechnik ausgerüstet, ihn so heftig anging, anstatt dankbar zu sein. Und so antwortete er, ohne die Stimme zu heben: „Ich bin hierher gekommen, um für meine Zeitung über den Aufschwung Ost zu berichten, Ich sehe diesen Aufschwung“, und mit weit ausholender Handbewegung in den öden Saal hinein meinte er die neue Technik, „den Sie offenbar nicht wahrhaben wollen. Man könnte fast meinen, Sie wollen mich provozieren; also jetzt ehrlich: Wie schätzen Sie die gegenwärtige Entwicklung ein?“

Malheur, dachte Conrad, das ist eben ein hartgekochter Wessi, der zuckt mit keiner Wimper, obwohl er eben indirekt zu den Räubern gerechnet worden war.

Ja die Zeit – wie sollte er die Zeit einschätzen, jetzt wo alles im Umbruch war, wo sich die Werte in ihr Gegenteil verkehrten. Etwas Positives war nun negativ und etwas Negatives folgerichtig positiv. Ein Lehrer, der nach dem Hochschulstudium als Lehrer nicht tauglich war, was vorzüglich als ideologische Verweigerung ausgelegt werden konnte, war nun reif für einen Ministerposten. Ein Arbeiter mit zwei linken Händen und Bummelschichten, der also nie ausgezeichnet werden konnte, marschierte nun unbelastet in die Freiheit, die ihn allerdings wie beim Rodeo abwerfen wird. Ein Held der Arbeit, der diesen Titel nicht wegen fleißiger Teilnahme am Parteilehrjahr bekommen hatte, sondern wegen seiner Fähigkeit, aus Schrott noch Qualität zu machen, war nun verdächtig und arbeitslos. Ein Hochschulabschluss war jetzt vielleicht keiner mehr. Ein Offizier der NVA fand sich in der Bundeswehr wieder, aber um einige Dienstgrade degradiert, obwohl er mit seiner russischen MIG 29 ebenso schnell war wie sein westdeutscher Kollege mit der amerikanischen F 14. Die Lehrer hatten das falsche Fach studiert, den Arbeitern wurde niedrige Produktivität bescheinigt. Ein reparaturbedürftiges großes Mietshaus, das in der DDR nichts als Ärger eingebracht hatte, war nun plötzlich im geeinten Deutschland eine Million wert. Und immer bestimmte der Westen, was gut oder böse, was falsch oder richtig zu sein hatte.

Die Feindbilder waren weg, damit aber auch eine wichtige Triebkraft, es mussten neue her. Da kam das allgegenwärtige Gespenst der Stasiakten gerade recht. Jeder konnte angeklagt werden, nicht gerade durch ein Gericht, da war man zu sehr Rechtsstaat, das ging viel besser durch die Medien, durch selbsternannte Tribunale oder ganz einfach durch die Personalchefs. Und es musste nicht eine Schuld bewiesen werden, sondern der Delinquent seine Unschuld. Justitia stand Kopf. War das der neue Rechtsstaat? Und an der Spitze der modernen Inquisition stand ein dreihundert Jahre zu spät geborener Diener der Kirche, der, mit heiligem Schwert um sich schlagend, den Schriften der Täter mehr glaubte als den Worten der Angeklagten und an den Pranger gestellten. Natürlich waren darunter Leute, die manche Karriere zerstört hatten und die sogar manchen ins Gefängnis gebracht hatten. Aber jede Bagatelle wurde nun aufgebläht und wieder Karieren vernichtet, manchmal zum Schaden der Gesellschaft.

Conrad hütete sich, diese Gedanken preiszugeben, das würde der Wessi nicht verstehen wollen, und so sagte er stattdessen: „Wie soll ich die Zeit einschätzen? Als die Wiedervereinigung so plötzlich und unerwartet kam, da zeigte sich Misstrauen und Unbehagen bei den europäischen Nachbarn und in Übersee. Wenn sich die reiche Bundesrepublik mit der DDR vereinte, die von sich glaubte, sie sei der zehntmächtigste Industriestaat, was Sie doch bestimmt auch angenommen haben, so konnte wohl ein neuer Staat entstehen, der allmächtig zu werden drohte; und sind die Deutschen nicht gebrandmarkt? In Wirklichkeit aber wurde die DDR verschluckt und die Bundesrepublik hat schwer daran zu verdauen. So hat heute diese Angst niemand mehr und das liegt nicht an dem Einsatz der Bundesrepublik für ein geeintes Europa, sondern am Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft, was für diesen Teil Deutschlands so eine Art verspäteten Morgentauplan bringt. Der Bundeskanzler hat in Leipzig blühende Landschaften versprochen, er hat nicht gelogen, denn auf den unbestellten Feldern steht das Unkraut in prächtiger Blüte. Jetzt werden die Reichen reicher, die Armen ärmer, die Fleißigen fleißiger, die Gescheiten gescheiter, die Dummen dümmer, die Erfolgreichen werden noch erfolgreicher sein, die Einsamen werden einsamer, die Kriminellen krimineller und die Karrieristen? Sie werden noch schnellere Pferde finden.“

„Wollen sie etwa das alte System wieder haben?“, fragte Peter Meisel mit Schärfe in der Stimme: „Was hat denn die DDR hinterlassen? Marode Betriebe, Städte, die sich kaum noch sanieren lassen, eine vergiftete Umwelt, allein schon dafür sind viele Milliarden nötig, dazu kommt die zerschlissene Infrastruktur, Telefonanlagen, die im Museum stehen müssten und Straßen, die den Namen nicht verdienen.“

„Nun, da muss ich Ihnen recht geben, ich will weder das alte System wieder haben noch will ich die 40 Jahre verfehlte Politik wegreden. Wir haben viel gewonnen, aber auch etwas Entscheidendes verloren, die Menschlichkeit, jetzt zählt nur noch das Geld.“

Da fuhr Meisel hoch: „Menschlichkeit? Sie wollen bei dem Unrechtsstaat doch nicht von Menschlichkeit reden? Das ist ein starkes Stück.“

„Warum nicht? Eben gerade deshalb! Und damit meine ich beispielsweise das kameradschaftliche Verhältnis am Arbeitsplatz, weil da niemand Angst vor Entlassung haben musste, war auch keiner des anderen Teufel. Und warum glauben Sie, wurden in der DDR trotz der Abschaffung des Paragraphen 218 mehr Kinder geboren als in der alten Bundesrepublik? Es gab sogar einen leichten Geburtenüberschuss! Weil die Partei das wollte? Nein, soweit ging ihr Einfluss nun wieder nicht. Aber die Familie hatte einen höheren Stellenwert. Die Frauen brauchten keine Angst um ihren Arbeitsplatz zu haben, heute werden sie als erste entlassen. Und die Sorgen um ihre Kinder waren geringer als sie es jetzt sind. Ein Staat ohne funktionierende Familie verspielt seine Zukunft.“

„Ja, und dann ab in die Krippe mit den Kindern, wo sie frühzeitig von der Partei-Ideologie beeinflusst wurden. Und auf die gesicherten Arbeitsplätze brauchen Sie sich auch nichts einzubilden, das war doch nur versteckte Arbeitslosigkeit.“

„Mit der Krippe, das war keine gute Lösung“, gab Conrad zu, „doch mit der Beeinflussung ist das so eine Sache; wie werden denn jetzt die Kinder beeinflusst? Weshalb nehmen denn die Gewalt an den Schulen und die Jugendkriminalität so erschreckend zu? Weil es ihnen im Fernsehen vorgespielt wird. Und dann finden sie eben nichts dabei, kleine Kinder zu töten, wieder ein vortrefflicher Stoff für die Medien, die erst die Gebrauchsanweisung dazu geliefert haben. Und da haben die Kinder Frust, weil ihre Eltern arbeitslos sind, weil wieder die Konsumbedürfnisse nicht befriedigt werden können, weil jetzt Geld das Maß aller Dinge ist. Mit der versteckten Arbeitslosigkeit haben Sie recht, ich möchte Ihnen dennoch eine Frage stellen: Was glauben Sie, was menschlicher ist, 50 Milliarden zur Subventionierung von Arbeit auszugeben oder diese Summe als Arbeitslosenunterstützung zu zahlen? Denken Sie an den sozialen Abstieg und die damit verbundenen Auswirkungen wieder auf die Kinder.“

 

Endlich blies Meisel zum Rückzug, stand auf und sagte: „An Ihnen ist ein Ideologe verlorengegangen.“

„Ganz bestimmt nicht, ich habe nur versucht, Wahrheiten auszusprechen, ein Ideologe kennt die Wahrheit, aber er spricht sie nicht unbedingt aus. Meine Meinung ist die, dass die Wende kommen musste und auch die Wiedervereinigung, doch die Chancen daraus wurden falsch eingeschätzt und verspielt.“

Meisel war höchst unzufrieden und die Verabschiedung entsprechend frostig.

Am Abend mussten beide noch über dieses Gespräch nachdenken.

Conrad ärgerte sein Verhalten, daran war nur der verdammte Stress Schuld und er dachte, der Meisel würde ihn mit Sicherheit für einen Parteiideologen halten.

Dieser wieder war sich im Zweifel, ob Conrad ihm nur Wahrheiten sagen wollte oder ob er ein Stalinist war.

3

Ein böses Wort, Stalinist, was stellte sich Meisel unter einem Stalinisten vor? Conrad, danach befragt, hätte keine gültige Antwort geben können. Stalinismus war nicht gelehrt worden, damit hatten sich höchstens die Historiker unter freiem Himmel befasst, immer argwöhnend, dass ein Hüter der reinen Lehre sie verpfiff. Stalinismus war das allmächtige Wissen der Parteiführung, sie allein wusste, was richtig und falsch war. Sie sagte den Bauern was angebaut werden musste, wann sie mit der Aussaat zu beginnen hatten und wann mit der Ernte. Sie befand darüber, was Kunst zu sein hatte und was nicht, sie wollte den Malern die Pinsel führen, sie befahl, was produziert werden sollte, sie gab den Wissenschaften die Linie vor, sie bestimmte die Erziehung, kurz und gut, kein Gebiet, auf dem sie nicht führte. So auch bei den Käsesorten, die wurden auf einem Parteitag festgelegt und auch, dass es nun rote Telefone geben solle. Bei alledem duldete sie keinen Widerspruch, keinen wohlmeinenden Rat, sie gab nur soviel von ihrem allmächtigen Wissen an die nächste Führungsebene ab, dass diese in ihrem Sinne tätig werden konnte. Und so befahl sie den Bauern in Thüringen, in Höhen von über 600 Metern Mais anzubauen, weil Chruschtschow von der „Wurst am Stängel“ gesprochen hatte, was er eindrucksvoll durch das Hineinbeißen in einen Maiskolben bewiesen hatte. So gesehen ist Stalinismus ein System, das nicht nur Menschen, sondern auch eine Volkswirtschaft ruiniert. Doch dazu werden Erfüllungsgehilfen gebraucht.

Sind das die Stalinisten? Von ihnen wird man am wenigsten eine Antwort auf diese Frage erwarten können. Also wird man jene fragen müssen, die unter diesem System zu leiden hatten. Doch auch hier wird es verschiedene Antworten geben. Der Ausgewiesene, der Enteignete, der Eingesperrte, der Gemaßregelte, der auf der Karriereleiter Hängengebliebene, sie alle werden eine Antwort haben, jede wird einen Teil Wahrheit enthalten, aber nicht die ganze.

Als Stalin 1953 starb, rollten die Tränen, vor Schmerz oder Freude, je nachdem ob Gepeinigter oder Nutznießer. Einige hunderttausend Liquidierte hatten diese Tränen nicht mehr, sie lagen irgendwo unter der Erde, vergessen. Später sollte auch Stalin vergessen werden, man schämte sich seiner. Deshalb auch wurde sein einbalsamierter Körper von Lenins Seite wieder entfernt und in die zweite Reihe verlegt. Der in den roten Granit des Mausoleums gehauene Name wurde getilgt.

Und ausgerechnet aus der Sowjetunion kamen Rufe gegen das Vergessen. Von dort stieg ein Sputnik auf, geisterte durch den Zeitungswald und piepste auch in deutscher Sprache. Doch was in der Zeitschrift stand, dem Magazin Sputnik, das war kein Piepsen, das waren Donnerschläge. In schonungsloser Offenheit wurden da die Verbrechen Stalins genannt, er hatte fast die gesamte Generalität hinrichten lassen. 1941 war die Armee so ziemlich führungslos. Oder der Kongress der Liquidierten, 90 Prozent überlebten die Prozesse und Gefangenenlager nicht. Stalin musste mit Hitler verglichen werden, was einen Sturm der Entrüstung auslöste, logischerweise vor allem bei den Stalinisten. Und so enttarnte sich auch die Führung der DDR als stalinistisch, denn sie ließ das Heft „Sputnik“ auf den Index setzen, verbieten.

Danach war wenigstens klar, ein Stalinist war ein Mensch, der unbeirrbar dem allwissenden und allmächtigen Führungsanspruch der Parteiführung folgte, ohne nach Sinn oder Unsinn, nach Recht und Gesetz zu fragen und diese Linie mit allen Mitteln, auch mit brutalstem Zwang verwirklichen will oder doch zumindest diesen Zwang billigt, keinesfalls aber verurteilt.

Doch der Stalinismus ist keine Erfindung von Stalin. Wie würde man zum Beispiel einen Menschen bezeichnen, der seine Ziele mit erbarmungsloser Gewalt verwirklichen lässt? Da käme niemand auf die Idee, von einem Stalinisten zu reden, höchstens von einem gewissenlosen Politiker.

Die Wende brachte ein ganzes Heer solcher Ideologie-Akrobaten hervor: Ein Kaderleiter bestrafte Angestellte, die an der Montagsdemonstration teilgenommen hatten, durch Prämienentzug. Später dann, als Personalchef mit einem Westchef über sich, entließ er diese Leute mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns zuerst. So konnte er sich auf einfache Weise unangenehmer Weggefährten entledigen.

Doch da waren noch viele Zeugen, die störten und weg mussten. Das war der Unsicherheit der Karrieristen geschuldet, die einst von einer Parteischule zur anderen gewandert waren und in der Moskauer Parteischule ihre Krönung gesehen hatten, weil danach ein Chefsessel sicher war. Doch wie ließ sich dieser Doppelsprung erreichen, einmal erneut die Karriere zu sichern und sich gleichzeitig unliebsamer Begleiter zu entledigen? Ganz einfach so:

1. Tag: Der Chef legt seinen Entwurf auf den Tisch, schweifwedelnd stürzt sich das Chamäleon darauf.

„Ja, ganz vorzüglich.“ Der neue Chef, der im Osten noch keine Freunde hat, braucht dieses Lob, er nimmt es ohne jeden Argwohn auf. Aber er würde sich etwas vergeben, wenn er ganz zufrieden wäre und so entdeckt er eine zugearbeitete Stelle, die ihm noch nicht gefällt, das müsse verbessert werden.

Da findet er eifrige Zustimmung: „Ich habe das Nötige schon veranlasst, aber der Verantwortliche tut sich schwer.“

Der Chef nickt noch nicht einmal, keine Reaktion, ob er das registriert hat? Nur die Falte auf seiner Stirn wird einen Millimeter länger.

2. Tag: Der Chef legt seinen Entwurf vor.

„Ganz ausgezeichnet“, sagt das Chamäleon und dem Chef wird es angenehm warm im Bauch, „aber da ist doch noch etwas“, sagt er.

„Ja, ich habe mit dem Kollegen geredet, aber der hat da seine Schwierigkeiten.“

Schwierigkeiten? Der Chef möchte keine Schwierigkeiten,

3. Tag: Der Chef legt seinen Entwurf vor.

„Einfach wunderbar“, hört er nun mit tiefer Befriedigung, die allerdings durch die bewusste Zuarbeitung doch etwas getrübt ist.

„Ich habe alles versucht, mit dem Kollegen muss einmal ein ernstes Wort gesprochen werden.“

Der Betreffende weiß natürlich von nichts, ihm klingelt es noch nicht einmal in den Ohren. Vom Chamäleon wird er nichts erfahren, das bleibt dem Chef überlassen.

4. Tag: Der Chef legt seinen Entwurf vor.

„Das ist phantastisch“, hört er und glaubt nun langsam selbst an seine außergewöhnliche Begabung. Leider hat sich in der bewussten Sache noch immer nichts geändert.

Das Chamäleon zieht ein missbilligendes Gesicht: „Von dem Kollegen kann man nichts anderes erwarten.“

Der Chef macht sich eine Notiz.

5. Tag: Der Chef legt seinen Entwurf vor.

„Einfach genial“, sagt das Chamäleon mit verzücktem Gesicht. Misstrauisch sieht nun doch der Chef auf. So ehrlich ist er zu sich, dass er sich nicht für genial hält: „Also bitte, genial, soweit sind wir noch lange nicht.“

Doch das Chamäleon versucht ihn davon zu überzeugen: „Doch, das ist genial.“ Nun aber erschrickt es, es hat dem Chef widersprochen, das ist ihm so herausgerutscht. Außerdem, vollkommen ist der Entwurf nicht, der Chef könnte das als Ironie auffassen. Das Chamäleon verändert seine Farbe, bekommt eine feuchte Stirn und begibt sich auf die Flucht nach vorn: „Es wäre genial, wenn endlich die ungenügende Zuarbeit verbessert würde. Aber“, das Chamäleon senkt die Stimme, „ich glaube, der Kollege sabotiert die Arbeit.“ Da ist er heraus, der vergiftete Pfeil, und der Chef macht sich eine längere Notiz.

Nunmehr geht alles seinen Gang. Der Kollege bekommt eine schriftliche Ermahnung, eine zweite wird folgen, Papiere für die Personalakte, es muss alles seine Ordnung haben.

Der Delinquent ist wie vom Blitz geblendet, er gelobt Besserung, was schwer ist, denn er arbeitet schon gut. Also versucht er zu ändern, nun wird es wirklich schlechter, die Unsicherheit steigt, Fehler schleichen sich ein, erneute Abmahnung und schließlich die Kündigung.

Allerdings lässt sich an diesem Spiel der Kräfte absehen, dass es so überall in der Welt ablaufen kann, also doch nichts mit Stalinismus? Vielleicht müsste man ein anders Wort dafür finden, das dann überall einsetzbar wäre. Nicht der Name macht es also, sondern die Handlung.

Solche tiefgehenden Gedanken zu diesem Thema wären Meisel fremd gewesen, aber er dachte über das Gespräch nach und stellte dabei fest, dass er diesem Conrad wenig Sympathie entgegenbrachte.

4

Es war wohl mehr als Zufall, dass sich Meisel und Conrad am nächsten Tag über den Weg liefen. Sie begrüßten sich sehr höflich, wechselten ein paar belanglose Worte und standen dann noch einige Sekunden schweigend im Gang. Gerade wollte Conrad gehen, da hielt ihn Meisel zurück und fragte: „Kennen Sie die Kugellagerfabrik?“

Conrad sah ihn fragend an, was wollte dieser Journalist in der Kugellagerfabrik?

Meisel erklärte: „Ich will dort eine Wirtschaftsgeschichte recherchieren.“

Conrad wusste nicht allzu viel von diesem Betrieb, er war einige Male dort gewesen, über tausend Leute, große Kugellager, durch deren Ringe es sich gut fotografieren ließ, und kleine Kugellager, die, in endlos erscheinenden Reihen gelagert, ein interessantes Motiv ergaben.

Da fiel ihm ein, dass er kurz vor der Wende dort gewesen war und er erzählte Meisel davon, dass er die Jugendbrigade „Frieden“ fotografiert habe. Diese hatte zu Ehren des Weltfriedenstages am 1. September eine Sonderschicht gefahren. Das waren junge Leute, die eine Taktstraße in der Schleiferei bedienten, beherrschten, musste er schreiben, denn während im Westen der Mensch von der Technik beherrscht wurde, beherrschte im Osten der Mensch die Technik. Während im Westen ein Hilfsarbeiter ein Ventil je nach Manometerstand entweder auf- oder zudrehen musste, drehte der Chemiefacharbeiter im Osten das gleiche Ventil ebenso auf oder zu – aber er wusste, was dahinter vorging, Ein wirklich erhebender Unterschied!

Als Conrad die Jugendbrigade bei ihrer Sonderschicht fotografiert hatte, hing in der Halle ein nebelartiger Öl- und Schleifmitteldunst und da er empfindliche Bronchien hatte, musste er husten.

„Besonders gesund ist die Luft hier nicht“, hatte der Brigadier gegrinst.

„Habt ihr keine Entlüftung?“, fragte Conrad.

Da zeigte der Brigadier zur Decke, dort hing der Entlüftungskanal. Dieser führte bis zum Hallenende, wo die Schächte einfach aufhörten, quadratische schwarze Löcher. Er sagte: „Nur die Motoren und Ölabscheider fehlen, wir warten schon zwei Jahre darauf, Ölabscheider sind inzwischen unsere Lungen.“

Im Laufe der Zeit hatte Conrad die Erfahrung gemacht, dass die Leute ihm manches erzählten, ihm, einem Fotografen, was sie einem Redakteur nie und nimmer anvertraut hätten. Das lag nicht daran, das er besonders vertrauenswürdig wirkte oder dass er sich nie als oberschlauer Journalist ausgab, der alles zu wissen glaubte, nein, das lag einfach daran, dass er bloß fotografierte, während die Leute vom Wort alles aufschrieben. Davor hatten sie Respekt.

Gelegentlich schrieb Conrad seine Texte auch selbst. Und da es lästig ist, einen Text noch einmal zu ändern, funktionierte die Schere im Kopf immer besser. Einmal hatte er als Texteinstieg die Formulierung gewählt: Zugegeben, Handel ist keine einfache Sache.

 

Dahinter verbarg sich natürlich das mangelhafte Angebot, das durch allerlei Kunstgriffe der Verkäufer verbessert werden sollte. Dieser Satz wurde vom stellvertretenden Chefredakteur mit der Bemerkung „Wir geben nichts zu“ eigenhändig wieder gestrichen. Ein andermal hatte sich Conrad kritisch zu einer Kunstausstellung geäußert, in der ein Künstler allzu arrogant mit seinem Publikum umging: wer seine Bilder nicht verstünde, wäre selbst daran Schuld. Das sah nun auch die Redaktion so wie Conrad, aber als redaktioneller Beitrag unmöglich, also rückten sie ihn als Leserbrief ins Blatt. Was trotzdem einen unwilligen Anruf des Kultursekretärs der Partei zur Folge hatte. Die Macht spähte einerseits die Künstler aus, setzte Dutzende IMs auf sie an, andererseits versuchte sie, diese Leute nicht zu reizen, immer in der Angst, dass sie die Republik verlassen könnten. Manche Künstler nutzten das aus. Einmal musste Conrad im Vorzimmer des 1. Parteisekretärs des Bezirks warten, eine hochrangige Delegation hatte sich angekündigt, die er gut ins Bild zu setzen hatte. Da stürzte einer der Sekretäre aus der Tür, an seinem rotfleckigen Gesicht sah man, dass er erregt war, und er zischte durch die Zähne: „Mein Sohn muss auch 10 Jahre auf ein Auto warten.“ Aha, Conrad hatte kombiniert, da war einer im Zimmer, der bei der Partei bettelte. Und da kam er auch schon heraus, Donnerwetter, ein bekannter hochgelobter Maler. Da war Conrad dieser Sekretär gleich sympathischer geworden. Niemandem aber wäre es in den Sinn gekommen, abweichende Formen des Autohandels aufzuschreiben oder gar zu veröffentlichen.

Conrad hatte also von vorn herein Formulierungen gewählt, von denen er wusste, dass sie glatt durchgingen, wie zum Beispiel die Arbeiter mit ihren stolzen Produktionsleistungen, die nur danach zu trachten schienen, immer mehr zu produzieren mit immer weniger Material und Energie. Und da das schon Jahrzehnte so lief, hätte es eigentlich alles im Überfluss geben müssen. Ja es stimmte, die Arbeiter vollbrachten wahre Heldentaten, aber eben über diese Heldentaten durfte man nicht schreiben. Da lieferten sie auf schrottreifen Werkzeugmaschinen Qualität, die westlicher Spitzenqualität in nichts nachstand, sonst hätten sie ihre Produkte nicht nach den USA verkaufen können. Conrad hatte einmal einen Arbeiter beobachtet, der mit einem dunklen Ungetüm von Schleifmaschine sprach, gerade so, als ob es seine Liebste wäre: „Komm Karline, mach mir keinen Ärger, ich weiß, deine Lager sind ausgeleiert und die Schleifmittelleitung ist geflickt. Der Motor läuft auch nicht richtig, genau wie meine Pumpe, und eine Verkalkung habe ich auch, zum Glück nicht im Kopf. So, ich bin ganz vorsichtig mit dem Vortrieb, dass du mir nicht ins Flattern kommst.“

Und zufrieden besah sich der Mann schließlich sein Produkt, eine silberglänzende Welle, bestimmt für eine Offsetmaschine, geschliffen mit einer Genauigkeit von einem zweihundertstel Millimeter. Das hätte im Westen keiner so gekonnt, die stellten ihre Elektronik ein und lasen inzwischen die Bildzeitung.

Dieser Mann arbeitete vierzig Jahre an der Maschine, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte, der sie aus dem Schutt der zerbombten Halle ausgegraben hatte. Darüber hätte man schreiben müssen – Illusion.

Solche Zwänge hatten sich bis in die Kugellagerfabrik herumgesprochen und so hatte der Brigadier auch nicht erwartet, dass Conrad die fehlende Entlüftung wenigstens erwähnen würde. Trotzdem wollte er noch etwas loswerden: Zur Plandiskussion wäre noch nicht einmal die Gewerkschaftsleitung erschienen.

Plandiskussion – Ost und West hatten eine eigene Sprache entwickelt, die der Übersetzung bedurfte und Meisel musste es sich erklären lassen.

Dann fragte er ungläubig: „Da haben die Arbeiter wirklich über den Plan beraten und gesagt, dass sie mehr und besser produzieren wollen?“

„Geredet haben sie darüber, dafür war es eine Plandiskussion, aber die Zahlen kamen von oben.“ Und Conrad erzählte Meisel noch, wie der Leipziger Gewerkschaftsboss kurz vor der Wende nach Westdeutschland gefahren sei, um dort den Arbeitern über die Plandiskussion in den Betrieben zu berichten. Die wären aus dem Staunen nicht herausgekommen, hatte er zu Hause mit wichtigem Gesicht erzählt.

Vielleicht hatten sie wirklich gestaunt, denn in ihrem Betrieb wäre das nicht möglich gewesen, dafür hatten sie ihre Vorgesetzten und die ließen da keinen Arbeiter mitreden, ganz im Gegensatz zu Japan, wo das üblich war, allerdings nach Feierabend und da hieß es nicht Plandiskussion. Doch diesen Gedanken ließ Conrad seinem Gast gegenüber weg, er hätte das sicher missverstanden.

So dachte Meisel befriedigt, was er heute von sich gegeben hat, gefällt mir schon besser. Mal sehen, ob die Entlüftung inzwischen funktioniert.