Der Mensch und das liebe Vieh

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TEIL 2

1.Der schwere Stand der Tierethik in der abendländischen Tradition

Noch nie in der Geschichte wurden so viele Tiere wie heute in Gefangenschaft gehalten und als Nutztiere gebraucht. Zugleich wächst bei immer mehr Menschen die Sensibilität dafür, dass unser Umgang mit den Tieren neu zu bedenken und zu gestalten ist, weil die allermeisten Formen der Haltung und Tötung von Nutztieren mit immensem Tierleid verbunden und ethisch nicht vertretbar sind. Regelmäßig weisen Dokumentationen auf schwere Tierschutzmängel hin. Seitens der politisch Verantwortlichen wird die Verletzung von Tierschutzvorschriften, die in der Regel kaum ausreichend sind, um unnötiges Tierleid zu verhindern, heftig verurteilt. Es werden verschärfte Kontrollen eingemahnt zur Überprüfung der Einhaltung von tierschutzrechtlichen Bestimmungen.115 Dennoch ist eine nachhaltige Verbesserung der Situation von Nutztieren nicht in Sicht. Bevor jedoch im dritten Teil auf Fragen eingegangen wird, was jeder und jede in dieser Hinsicht tun kann, sollen in diesem Teil einige der philosophischen Grundfragen erörtert werden, die sich im Zusammenhang mit der Tierethik ergeben.

1.1 Tierethik: ein „blinder Fleck“ in der Geschichte des Abendlandes
a) Tierschutz: ein folgenschweres Defizit in der christlichen Tradition

Weiter oben wurde auf den Vorwurf eingegangen, das jüdisch-christliche Welt- und Menschenbild würde die ideengeschichtliche Wurzel der modernen Umweltkrise darstellen. Der Vorwurf trifft in dieser Form, wie die obigen Ausführungen deutlich machen konnten, nicht zu. Allerdings hat sich das Christentum bisher zu wenig für Umweltschutz und Tierethik eingesetzt. Es ist zweifelsohne ein Verdienst von Papst Franziskus, dass er durch die Enzyklika Laudato si’ (2015) mit Nachdruck auf die Verantwortung hinweist, die sich aus dem christlichen Glauben für den Umweltschutz ergibt. Interessanterweise findet er mit diesem Schreiben, mit dem er sich ausdrücklich nicht nur an die Mitglieder der katholischen Kirche, sondern an alle Menschen wendet, die auf unserem Planeten wohnen, viel Anklang auch außerhalb der katholischen Kirche und bei vielen Nichtchristen.

Dennoch muss das Christentum unumwunden und selbstkritisch eingestehen, in den Belangen von Umwelt- und Tierschutz bislang keine Vorreiterrolle einzunehmen, und zwar trotz des biblischen Befundes, der in den obigen Kapiteln erörtert worden ist – ja sogar im Widerspruch zu ihm. Die Aussagen, die sich beispielsweise im Katechismus der Katholischen Kirche zu tierrechtlichen Belangen finden, sind angesichts der Tragweite der Problematik in jeder Hinsicht unzulänglich. Auf die Tierfrage wird lediglich im Kapitel „Achtung der Menschen und ihrer Güter“ im Kontext der Ausführungen zum siebten Gebot „Du sollst nicht stehlen“ eingegangen. Es wird gemahnt, dass der Mensch den Tieren „Wohlwollen schuldet“, weil sie „Geschöpfe Gottes sind und seiner fürsorgenden Vorsehung unterstehen“ und weil sie „allein durch ihr Dasein Gott preisen und verherrlichen“ (vgl. Nr. 2416). Weiters heißt es: „Gott hat die Tiere unter die Herrschaft des Menschen gestellt, den er nach seinem Bild geschaffen hat (vgl. Gen 2,19–20; 9,1–14). Somit darf man sich der Tiere zur Ernährung und zur Herstellung von Kleidern bedienen. Man darf sie zähmen, um sie dem Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit dienstbar zu machen. Medizinische und wissenschaftliche Tierversuche sind in vernünftigen Grenzen sittlich zulässig, weil sie dazu beitragen, menschliches Leben zu heilen und zu retten“ (Nr. 2417). In Bezug auf den Tierschutz findet sich nur ein einziger Satz, nämlich: „Es widerspricht der Würde des Menschen, Tiere nutzlos leiden zu lassen und zu töten“ (Nr. 2418). Selbst dieser eine Satz wird in derselben Nummer bis zu einem gewissen Grad relativiert, wenn folgende Feststellung unmittelbar hinzugefügt wird: „Auch ist es unwürdig, für sie Geld auszugeben, das in erster Linie menschliche Not lindern sollte. Man darf Tiere gern haben, soll ihnen aber nicht die Liebe zuwenden, die einzig Menschen gebührt“ (ebd.).

Diese Ausführungen bleiben einerseits hinter dem biblischen Befund zurück, sie machen andererseits aber zugleich einen Aspekt deutlich, woran es der christlichen Tierethik bis heute mangelt. Tierschutz steht unausgesprochen unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck gegenüber dem Einsatz für die Würde des Menschen. Etwas überspitzt formuliert: Der entschiedene Einsatz für die Würde des Menschen geht auf Kosten der Anerkennung der Rechte des Tieres, als ob diese beiden ethischen Anforderungen einen Widerspruch darstellen würden bzw. als ob die eine nur auf Kosten der jeweils anderen verwirklicht werden könnte. In diesem Sinne weist z. B. der Sozialethiker Kurt Remele mit Nachdruck darauf hin, dass eine „konsistente Ethik des Lebens“ eine „Ethik des Lebens aller Geschöpfe Gottes“ sein muss. Werden Tiere nicht mitberücksichtigt, ist eine christliche Lebensethik mangelhaft und nicht konsistent.116

b) „Tiere lieben? Ja, aber …“ – das Tier im christlichen Mittelalter

Einer der wohl wichtigsten Gründe, weshalb im Grunde genommen die gesamte abendländische Philosophie bis herauf in die Neuzeit ein Defizit hinsichtlich der Tierethik aufweist, hat mit dem Dualismus und mit der klassischen Seelen-Lehre zu tun. Zwischen dem Menschen und dem Tier wurde als wesentlicher Unterschied die Unsterblichkeit der menschlichen Seele angesehen. In der Tradition des platonisch geprägten Dualismus wurde die Wirklichkeit in eine materielle bzw. irdisch-vergängliche und in eine geistige bzw. ewig-unsterbliche unterteilt. Allein der Mensch war kraft seiner Geistseele der geistigen Welt teilhaftig, das Tier hingegen konnte nur dem Bereich des Materiellen zugeordnet werden. Das Irdische um seiner selbst willen zu lieben, wäre einer Verdrehung der Ordnung der Dinge gleichgekommen bzw. hätte dem Streben des Menschen nach Erkenntnis des Geistigen und Ewigen widersprochen. Diese Auffassung hat schließlich auch weitreichende Folgen hinsichtlich der Frage, was Liebe bedeutet und wer oder was auf welche Weise geliebt werden soll.

Nach christlicher Tradition bedeutet Liebe, etwas um seiner selbst willen zu begehren. Augustinus (354–430) unterscheidet zwischen frui (genießen, sich an etwas erfreuen) und uti (nützlich sein, zu etwas taugen). Unter frui versteht er, jemanden oder eine Sache um seiner bzw. ihrer selbst willen zu begehren; unter uti hingegen, etwas deshalb als liebenswert anzusehen und ihm anzuhangen, weil es hinführt zu dem, was um seiner selbst willen geliebt wird.117 Im Letzten ist allein Gott als das höchste Gut um seiner selbst willen begehrenswert, sodass jede andere Form von Liebe zu Gott hinführen soll. In diesem Sinn wurde in der christlichen neuplatonischen Tradition anerkannt, dass die irdischen Wirklichkeiten als Schöpfung die Spuren des Schöpfers in sich tragen und auf ihn verweisen. Gott offenbare sich deshalb nicht nur in der Bibel, also im „Buch der Heiligen Schrift“, sondern er zeige sich in allen Geschöpfen, sodass er auch durch das „Buch der Schöpfung“ erkannt werden kann. Augustinus weitet deshalb das Liebesgebot auf die Schöpfung und damit auch auf die Tiere aus. Er argumentiert: „Auf vierfache Weise müssen wir lieben: Das Erste steht über uns, das Zweite sind wir selbst, das Dritte ist neben uns, das Vierte endlich steht unter uns.“118 Würde man Augustinus konsequent weiterdenken, würde es zu folgender Position führen: „Wer Gott und die Menschen wirklich liebt, kann dies nicht tun, ohne auch seine Geschöpfe in ihrem Eigensein zu respektieren. Sittliche Verantwortung gegenüber der Schöpfung bedeutet, dass der Mensch die Eigenbedeutung und Ziele der einzelnen Geschöpfe entsprechend ihrer Verschiedenheit berücksichtigt und im Konfliktfall gegeneinander verantwortlich abwägt. Das aber heißt die Beweislast umkehren: Auch der Eingriff in die nichtmenschliche Natur bedarf der ausdrücklichen Rechtfertigung. Es bedarf einer Umkehr, nicht zuerst den Nutzwert, sondern den relativen Eigenwert der Geschöpfe wahrzunehmen.“119 Freilich wurde das Liebesgebot nicht in diesem Sinne konsequent weitergedacht. Wirkmächtig geworden ist vielmehr die fundamentale Abgrenzung des Menschen vom Tier aufgrund der Vernunftbefähigung des Menschen.

Bestärkt wurde dies durch die auf Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurückgehende und im Hochmittelalter neu rezipierte klassische Lehre der drei Stufen von Beseelung: Die Pflanzen sind durch die anima vegetativa beseelt, die Tiere zusätzlich durch die anima sensitiva und die Menschen wiederum zusätzlich durch die anima intellectiva. Wie auf einer Stufenleiter kommt bei der jeweils höher entwickelten Stufe des Lebens – Pflanze, Tier, Mensch – jeweils eine Beseelungsform hinzu. Nach Aristoteles kennzeichnet jedes Lebewesen ein ihm eigenes Strebevermögen, welches nicht durch äußere Faktoren oder Einwirkungen erklärt werden kann. Die Seele versteht er in diesem Sinn als ein dem Organismus eigentümliches, inneres Lebensprinzip, das nicht von außen auf ihn einwirkt. Bei den Pflanzen besteht dieses im Streben danach, Nährstoffe aufzunehmen, zu wachsen, sich entsprechend der Natur der jeweiligen Spezies zu entwickeln und schließlich sich zu reproduzieren. Dieses Vermögen schreibt er der vegetativen Beseelung zu. Zusätzlich dazu haben Tiere und Menschen die Vermögen der Sinneswahrnehmung, der Fortbewegung und des Empfindens, das er der sensitiven Beseelung zuschreibt. Der Mensch wiederum ist darüber hinaus auch fähig zu denken – dank der intellektiven Beseelung. Nach Aristoteles ist in die Natur eine Ordnung hineingelegt, wonach die niedrigeren Lebensformen der jeweils höheren dienen. Deshalb dürfe sich der Mensch der Tiere bedienen und sie zu seinem Zwecke nutzen, als Arbeitstiere oder zur Herstellung von Nahrung oder anderen Lebensmitteln wie Kleidung und Werkzeugen.

 

Thomas von Aquin (1225–1274) knüpft an diese Position an. Er unterstreicht die Sterblichkeit der Tiere, denn im Unterschied zur Seele des Menschen vergehen ihre Seelen bei der Zerstörung ihrer Körper und im Unterschied zum unvernünftigen Tier kann der Mensch denken.120 Diese fundamentalen Unterschiede rechtfertigen nach Thomas, dass der Mensch die Tiere entsprechend seinen eigenen Interessen nutzt.121 Er beruft sich dabei ausdrücklich auf biblische Texte, allerdings nicht auf den Herrschaftsauftrag in Gen 1,28, sondern auf Ps 8,7–9 („Du hast ihn [den Menschen] als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht.“) und 1 Kor 9,9, wovon er folgenden Versteil zitiert: „Liegt denn Gott etwas an den Ochsen?“ Der gesamte Vers allerdings lautet: „Im Gesetz des Mose steht doch: Du sollst dem Ochsen zum Dreschen keinen Maulkorb anlegen. Liegt denn Gott etwas an den Ochsen?“ Der von Paulus aus dem mosaischen Gesetz zitierte Vers (es handelt sich um Dtn 25,4) bedeutet, dass man dem Ochsen während seiner Arbeit das Fressen nicht vorenthalten soll, man soll ihn also nicht dadurch quälen, dass man ihm das verlockend vor seinem Maul liegende Futter vorenthält. Paulus wiederum betont, wenn Gott schon um das Wohl des dreschenden Ochsen bemüht ist, um wie viel mehr um jenes der Menschen. Thomas hingegen legt den Vers so aus, dass Gott am Ochsen nichts liege und der Mensch sich deshalb seiner bedienen könne. Er unterscheidet zwei Formen der Zuwendung des Menschen zum Tier. Entsprechend der Vernunft könne er mit dem Tiere tun, was er wolle, entsprechend der Leidenschaft bzw. der Gefühlsebene jedoch solle er mit dem Tier auch Mitleid und Erbarmen haben. Auch hier führt Thomas Bibelstellen an – etwa Spr 12,10 („Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht, doch das Herz der Frevler ist hart.“) –, um zu betonen, dass nach Gottes Willen die Menschen mit den Tieren Mitleid üben sollen: „Deswegen verbot er, den Tieren anzutun, was nach Grausamkeit aussah.“122 Der Gedankenduktus des Thomas ist allerdings der, dass es dabei nicht um das Wohlergehen der Tiere geht, sondern darum, dass derjenige, der den Tieren gegenüber mitfühlend ist, auch dem Menschen gegenüber barmherziger und mitleidsvoller ist. Die biblischen Gebote in Bezug auf die Tiere stellen in diesem Sinn eine Art göttliche Pädagogik dar, die den Menschen im Umgang mit seinesgleichen bilden soll.

Die ethische Quintessenz der christlichen mittelalterlichen Tradition ist die, dass der Mensch nur Pflichten gegenüber Gott und gegenüber seinesgleichen hat, nicht jedoch gegenüber den Tieren. In der Frage, ob Tiere geliebt werden sollten, antwortet Thomas:123 Da Liebe bedeutet, jemandem „Gutes zu wollen“, „könne ich einem vernunftlosen Geschöpfe nicht Gutes wollen, denn es ist nicht seine Sache, ein Gut zu besitzen“124. Wohl aber könne man Tiere so lieben „wie die Güter, die wir anderen wollen; sofern wir sie aus der heiligen Liebe heraus wollen, dass sie zur Ehre Gottes und zum Nutzen der Menschen erhalten werden“. Der zu Beginn dieses Kapitels zitierte Katechismus der Katholischen Kirche folgt im Grunde genommen weiterhin dieser Logik. Tiere werden im Letzten auf ihren Nutzwert reduziert, ein wie auch immer gearteter Eigenwert wird ihnen nicht zuerkannt. Der feinfühlige Umgang mit den Tieren, wie er beispielsweise von Franz von Assisi (ca. 1181–1226) bezeugt wird, bleibt jedenfalls eine – wenn auch rühmliche und heute hochangesehene – Ausnahme.

1.2 Die „Entdeckung“ der Tierrechte im 18. und 19. Jahrhundert
a) René Descartes und der tierethisch verhängnisvolle Dualismus

René Descartes (1596–1650) ist philosophiegeschichtlich bedeutsam geworden aufgrund des philosophischen Prinzips Cogito, ergo sum („Ich denke, folglich bin ich“), mit dem er einen erkenntnistheoretischen Pflock eingeschlagen hat gegen einen grundlegenden Skeptizismus. Das Denken ist ausschlaggebend für das Selbstverständnis des Menschen. Descartes unterschied die Dimension des Denkens von der des Körpers und differenzierte strikt zwischen der res cogitans, dem denkenden Subjekt, und der res extensa, der ausgedehnten Materie.125 Im Unterschied zur klassischen Beseelungstheorie bedarf es seiner Ansicht nach keiner Annahme einer wie auch immer gearteten Beseelung hinsichtlich jener Funktionen eines Organismus, die dem Wirken der anima vegetativa und sensitiva zugeschrieben wurden. Diese organischen Funktionsweisen ließen sich nämlich dank der Einsicht in die kausalen Naturgesetze durch die Naturwissenschaften hinreichend mechanisch erklären. Allein der Mensch habe die Fähigkeit zu denken und frei zu handeln, sodass sein Verhalten und Handeln nicht restlos durch kausale Faktoren determiniert ist bzw. erklärt werden kann. Alle anderen Lebewesen hingegen könnten als bloß materielle und unbeseelte Dinge angesehen werden, die mechanistisch zu betrachten seien.

Ob Descartes aus seiner Unterscheidung zwischen denkendem Subjekt und ausgedehnter Sache konkret tatsächlich die Schlussfolgerung gezogen hat, dass Tiere als bloße „seelenlose Dinge“ oder „unbewusste Automaten“ behandelt werden könnten, darüber gibt es intensive Diskussionen. Descartes sei nicht so naiv gewesen, nicht zu sehen, dass Tiere sehr wohl Schmerzen erleiden können. Er habe ihnen deshalb nicht die Schmerzempfindlichkeit abgesprochen, sondern nur die Möglichkeit, über den Schmerz zu reflektieren und ihn deshalb bewusst als etwas Leidvolles und Nicht-sein-Sollendes wahrzunehmen.126 Peter Harrison beispielsweise versucht in dieser Hinsicht, Descartes zu rehabilitieren, weil dieser den Tieren wohl die cogitatio, das Denkvermögen und die Einbildungskraft, nicht aber den sensus, das Empfindungsvermögen und die Sinneswahrnehmung abgesprochen habe.127 Harrison gesteht zwar ein, dass es eine offene Frage sei, ob die cartesianische Position den zu seiner Zeit aufkommenden tierquälerischen Umgang mit Tieren zu Forschungszwecken begünstigt hat oder nicht, gibt allerdings zu bedenken, dass die damaligen Forscher nicht der philosophischen Theorie von Descartes bedurften, um ihr Tun zu rechtfertigen.128

Ob von Descartes intendiert oder nicht: Die praktischen Konsequenzen des cartesianischen Dualismus für den Umgang mit den Tieren waren jedenfalls verheerend. Ob man beispielsweise einen Stein oder einen Hund von einem Turm warf, um die Gesetzmäßigkeiten der Fallbeschleunigung zu untersuchen, war nicht von Belang. Die qualvolle Praxis der Vivisektion, d. h. des Öffnens des lebenden Tierkörpers aus Forschungszwecken, die oft gänzlich ohne oder ohne ausreichende Betäubung durchgeführt wurde, ist mit ein Grund, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und Frankreich schließlich zum organisierten Widerstand und damit zur Geburtsstunde der modernen Tierschutzbewegungen führen wird.

b) Immanuel Kant und das „Verrohungsargument“

Auch Immanuel Kant (1724–1804) hat darauf hingewiesen, dass der Mensch Tiere human behandeln soll, und zwar deshalb, um nicht zu verrohen und schlussendlich Gefahr zu laufen, auch Menschen gegenüber grausam und rücksichtslos zu werden. Er schreibt: „In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Theils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Thiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität im Verhältnisse zu anderen Menschen sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird.“129 Freilich wurde gegen dieses Argument von Kant oft eingewandt, dass hier ja nicht die Tiere um ihrer selbst willen in den Blick genommen werden, sondern Tierquälerei um des Menschen willen abgelehnt wird. Kant würde es deshalb nicht um die Tiere gehen, deren Schmerzempfindlichkeit würde ihn letzten Endes nicht interessieren. Damit würde er die Tiere aber erst recht auf den Menschen hin verzwecken. Die Tiere würden nämlich als eine Art moralpädagogisches Anschauungsmaterial missbraucht werden.

Die theologische Ethikerin Heike Baranzke hat sich mit dem „Verrohungsargument“ bei Kant und der Kritik daran auseinandergesetzt und kommt zu einem differenzierteren Urteil.130 Sie zeigt auf, dass es Kant in seiner Tugendlehre nicht nur darum geht, dass der einzelne Mensch sittlich gut handelt und nach moralischer Vervollkommnung strebt, sondern dass er „durch eine selbstreflexive Analyse die nicht-empirische Bedingung der Möglichkeit für moralisches Handeln freisetzt: die Selbstverpflichtungsfähigkeit des Menschen als prinzipielle Fähigkeit zur Autonomie, d. h. zu der Möglichkeit, seinen Willen durch die eigene Vernunfteinsicht zu bestimmen, […] Nach Kant weiß, wer sich als verpflichtungsfähig erkennt, zugleich, dass er auch Pflichten hat, nämlich, das Gute um des Guten willen zu tun.“131 Dass die Verursachung von Schmerzen und Ängsten bei einem empfindungsfähigen Lebewesen ein Übel darstellt, ist eine vernünftige ethische Einsicht, sodass sich daraus die moralische Selbstverpflichtung seitens des Menschen ergibt, die Zufügung von Schmerzen oder die Verursachung von Ängsten zu vermeiden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass die Zufügung von Schmerz und Leid in jeder Hinsicht rechenschaftspflichtig ist und deshalb eines vernünftig zu rechtfertigenden Grundes bedarf. Wer also Tiere quält, der läuft nicht nur Gefahr zu verrohen und schließlich auch Menschen zu quälen, sondern der verstößt – so kann Kant weitergedacht werden – auch gegen die eigene Würde, die nämlich darin besteht, durch die Vernunft das Gute zu erkennen und es freiwillig aus Liebe zum Guten zu tun. Sittliche Autonomie im Sinne von Kant bedeutet nichts anderes, als sich freiwillig auf das zu verpflichten, was ich als sittlich gut und richtig erkenne. In dieser Hinsicht würde das „Verrohungsargument“ über eine moralpädagogische Verzweckung der Tiere hinausführen.132 Freilich – im tierethischen Sinn ist diese Auslegung des Ansatzes von Kant nicht wirkmächtig geworden. Schon Arthur Schopenhauer (1788–1860) zeigte für seine Argumentation gegen Tierquälerei wenig Verständnis: „Also bloß zur Übung soll man mit Thieren Mitleid haben, und sie sind gleichsam das pathologische Phantom zur Übung des Mitleids mit Menschen.“133

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