Der Mensch und das liebe Vieh

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2.2 Die Evolutionstheorie

Die Glaubensaussage von der Schöpfertätigkeit Gottes ist in der Neuzeit unter Druck geraten. In unserer stark naturwissenschaftlich geprägten Gesellschaft gilt der christliche Schöpfungsglaube vielfach als überholt bzw. widerlegt. Eine starke Erschütterung erfuhr er im 19. Jahrhundert. 1859 veröffentlichte der englische Naturwissenschaftler Charles Darwin (1809–1882) sein Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection (dt.: Über die Entstehung der Arten). Mit dieser epochemachenden Schrift, in der die sogenannte Deszendenz-, d. h. Abstammungslehre entfaltet wird, schuf der englische Naturforscher die Grundlagen für die moderne Biologie und die heutige Evolutionstheorie.68 1871 wandte Darwin in seinem Buch The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex den Entwicklungsgedanken auf den Menschen an. Mit der Eingliederung des homo sapiens in die Evolutionskette löste er eine heftige akademische Debatte in Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie aus. Schon bald wurde seine Deszendenztheorie auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und spaltete die Gesellschaft in zwei Lager. Befürworter und Gegner Darwins bekämpften sich bisweilen erbittert. Die Heftigkeit der Grabenkämpfe rührt nicht zuletzt von den damaligen wissenschaftstheoretischen und weltanschaulichen Hintergrundannahmen her.69

a) Moderne Naturwissenschaft und Physikotheologie

Darwin veröffentlichte seinen Grundgedanken von der Entwicklung des Lebens aus einer Wurzel in einer Zeit des wissenschaftlichen Auf- und Umbruchs. Die noch junge Naturwissenschaft, deren Anfänge ins 17. Jahrhundert datieren, befand sich im 18. Jahrhundert kontinuierlich auf dem Vormarsch. Zeitgleich erlebte auch die natürliche Theologie in Gestalt der sogenannten Physikotheologie einen regelrechten Boom in Westeuropa. Die experimentelle Naturbetrachtung stand damals vielfach unter einem religiösen Vorzeichen. Theologie und Naturwissenschaft waren noch nicht strikt voneinander getrennt. Die Erforschung der Natur, die wissenschaftliche Betrachtung der Dinge diente aus Sicht der Physikotheologie einem dreifachen Zweck: Sie sollte den Menschen erstens für das Wunder des Lebens sensibilisieren. Die Komplexität und Schönheit des Geschaffenen sollte ihn zum bewundernden Staunen bewegen. Vom aufmerksamen Lesen im Buch der Natur erhoffte man sich zweitens Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Schöpfers. Die wissenschaftliche Welt- und Selbsterfahrung diente drittens der menschlichen Selbsterkenntnis und der Verwirklichung des rechten Gottes- und Weltverhältnisses. „An allem, was sich in dieser Welt findet und alltäglich vorgeht, soll dem Menschen die Zuwendung seines Gottes aufgehen und ihn zu Ehrfurcht, Lob und Dank bringen.“70

In der Physikotheologie des 17. und 18. Jahrhunderts kam es zu einer gegenseitigen Befruchtung von Theologie und Naturwissenschaft. Der empirische Erkenntnisfortschritt warf nicht nur die Frage nach Gott auf, sondern stärkte den Glauben an den Schöpfergott. „In dem Maß, in dem die Natur enträtselt und einsichtig wurde, wuchs auch die Überzeugung, darin unmittelbar den Gedanken des Schöpfers und Erhalters zu begegnen.“71 Die wissenschaftliche Hinwendung zur Natur war dabei von der religiösen Überzeugung getragen, dass die Geschöpfe Gottes eine verständliche und klare Sprache sprechen. Da sie aus der Hand des weisen Schöpfergottes hervorgegangen war, wurde die gesamte Wirklichkeit als grundsätzlich erkennbar, als intelligible Größe aufgefasst.72

Eine wichtige Rolle in der Physikotheologie spielten teleologische Argumente. In der Bezeichnung „teleologisch“ steckt der griechische Begriff telos (Ziel, Zweck). Er besagt die Zielgerichtetheit bzw. die Ausrichtung auf einen Zweck. „Ausgangspunkt dieser Argumente ist die Tatsache, dass manche Strukturen und Prozesse in der Welt so erscheinen, als seien sie durch einen intelligenten Planer eingerichtet worden.“73 Physikotheologen deuteten die Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur als Hinweis auf ihren göttlichen Urheber.74 „Verschiedenste Naturphänomene wurden als Beweis für die Existenz eines weisen göttlichen Weltenordners betrachtet, etwa die Regelmäßigkeit von Planetenbewegungen, Fisch- und Vogelzügen, der Feinaufbau und die Umwelttauglichkeit von einzelnen Organen oder ganzen Organismen, die soziale Organisation von Bienen- u. a. Insektenstaaten“75.

b) Infragestellung klassischer Deutungsmuster

Durch Darwin geriet die teleologische Argumentation ins Wanken. Die erstaunlich differenzierte Struktur der Organismen und ihre Angepasstheit an die Umwelt wird in der Evolutionstheorie nicht mehr auf den Einfluss eines intelligenten göttlichen Planers zurückgeführt, sondern durch rein natürliche Ursachen und Faktoren erklärt. An die Stelle einer theologischen Erklärung trat nun eine natürliche. Die bislang leitende Vorstellung einer übernatürlichen, göttlichen Erschaffung und Erhaltung der Organismen wurde ersetzt durch die Theorie einer natürlichen Abstammung und Entwicklung der Arten.

Vor Darwin ging man in Physikotheologie und Biologie durchweg von der Konstanz der Arten aus. Man war davon überzeugt, dass die Arten der Organismen im Laufe der Naturgeschichte im Wesentlichen stabil geblieben seien und sich nicht grundlegend verändert hätten. Theologisch gedeutet hieß dies, dass Gott alle Arten einzeln bzw. unabhängig voneinander erschaffen und optimal in die jeweilige Umwelt eingefügt habe. Die Evolutionstheorie entwarf dagegen ein ganz anderes Bild der Wirklichkeit. Laut Darwin stammen die komplexeren Arten von früheren, weniger komplexen Formen des Lebens ab. Das Leben auf Erden habe sich allmählich durch einen natürlichen Mechanismus entwickelt. Gestützt auf Fossilienfunde und vergleichende Studien der physiologischen Merkmale skizzierte Darwin eine Abfolge der Arten, die von den einfachsten Bakterien bis hin zu hoch entwickelten Säugetieren verläuft. Alle Arten stammen von gemeinsamen Vorfahren ab, die sich schrittweise in verschiedene Richtungen entwickelt hätten. Darwin nannte diesen Vorgang Abstammung mit Abänderung durch natürliche Auslese (descent with modification). Als die maßgeblichen Antriebskräfte der Weiterentwicklung identifizierte Darwin Mutation und die nachfolgende Selektion in Kombination mit Umweltbedingungen, mit denen die Organismen in Wechselwirkung stehen. Mutation bezeichnet zufällige Änderungen im Erbgut, die Selektion meint den Fortpflanzungserfolg aufgrund von Umwelt- und Konkurrenzdruck. „Was evolutionär überlebt und was ausstirbt, hängt wesentlich von der Umwelttauglichkeit ab. […] Die Anpassung von Organismen an ihre Umwelt verliert damit ihre Bewunderungswürdigkeit; sie wird vielmehr […] aus ihrer evolutionären Erfolgsgeschichte heraus erklärbar.“76

2.3 Vorbehalte und Öffnung des Christentums gegenüber dem Darwinismus

Da Darwins Theorie die Annahme eines intelligenten göttlichen Planers bzw. Schöpfergottes überflüssig machte, erblickten viele Zeitgenossen darin einen Angriff auf den christlichen Glauben. Obwohl Darwin selbst sich vor weltanschaulichen Deutungen oder Folgerungen seiner Theorie hütete77 und die Evolutionstheorie nicht für unvereinbar mit dem Christentum ansah, konnte er nicht verhindern, dass die Evolutionstheorie rasch instrumentalisiert und gegen den religiösen Glauben ausgespielt wurde.78 Die Evolutionstheorie warf eine Reihe schwerwiegender theologischer und anthropologischer Probleme auf.

An der raschen Verbreitung der Evolutionstheorie trugen in England Thomas Henry Huxley (1825–1895), auch bekannt unter seinem Spitznamen Darwins Bulldogge, und in Deutschland Ernst Heinrich Haeckel (1834–1919) entscheidend bei. Zur Verhärtung der Fronten zwischen den christlichen Kirchen und den Anhängern Darwins kam es vor allem deshalb, weil die Evolutionstheorie vielfach zur Begründung und Rechtfertigung einer materialistischen bzw. atheistischen Weltanschauung vereinnahmt wurde.

Dass Darwins natürliche Erklärung der Entwicklung der Organismen als Infragestellung des christlichen Schöpfungsglaubens empfunden wurde, war jedoch auch bestimmten zeitbedingten Ansichten der Theologie geschuldet. „Die Evolutionstheorie stand im Widerspruch zum Wortlaut biblischer Schöpfungstexte. Denn bei wörtlicher Auffassung von Gen 1 und 2 ist die Welt durch einzelne, getrennte, unmittelbare Schöpfungsakte Gottes entstanden und in statischer Ordnung abgeschlossen.“79 Aus heutiger Sicht wurde in der damaligen Theologie nur unzureichend zwischen Form und Inhalt der biblischen Schöpfungstexte unterschieden.80 „Die Theologen […] meinten, mit dem geistigen, transzendenten Schöpfergott und der Fundamentalaussage von der Erschaffung alles Nichtgöttlichen ‚aus Nichts‘ auch zugleich das statische, urtümliche Weltbild der Bibel verteidigen zu müssen.“81 In der Theologie herrschte damals die Überzeugung vor, dass es „so viele Arten [gibt], wie der unendlich Eine Gott am Anfang als verschiedene Formen hervorgebracht hat“82. Fatal für das Gespräch mit der Evolutionstheorie erwies sich – vor dem Hintergrund eines starren Gottesbegriffs – die Gleichsetzung von Artkonstanz und Schöpfungsbegriff. Sie stellte die Theologie vor ein unnötiges Dilemma: „entweder Artkonstanz und Schöpfungsglaube oder Artenwandel ohne Schöpfungstätigkeit Gottes.“83

 

Auf erbitterte Ablehnung stieß die Evolutionstheorie auch deshalb, weil sie das Selbstbild des Menschen nachhaltig veränderte. Ein weit verbreiteter Vorwurf gegen Darwin lautete, er habe den Menschen, die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes (vgl. Gen 1,27), zum Affen degradiert. Den Menschen als Produkt eines blinden, dem Zufall unterworfenen Evolutionsprozesses zu begreifen, stellte für viele Zeitgenossen Darwins die größte Beleidigung der Menschheit dar. In evolutionärer Perspektive erschien der Mensch weder als Zentrum der Schöpfung noch als ihr Zweck.84 In der erhitzten Debatte wurde jedoch leicht übersehen, dass Darwin dem Menschen sehr wohl eine graduelle evolutionäre Sonderstellung zugestanden hatte. Der Mensch unterscheidet sich nach Darwin zwar nur graduell und nicht grundsätzlich vom Tier. Dennoch nimmt er aufgrund seiner gesteigerten geistigen Fähigkeiten, der verbalen Sprache und der Moralfähigkeit eine Sonderstellung in der Natur ein.

Zu den Ressentiments aufgrund der zugefügten anthropologischen Kränkung85 gesellten sich gesellschaftspolitische Bedenken. Es wurde befürchtet, dass die Verbreitung des Darwinismus mit einem moralischen Zerfall der Gesellschaft einhergehen werde. „Sobald Menschen damit beginnen, sich als Tiere zu verstehen, werden sie sich auch wie Tiere verhalten.“86 In weiten Kreisen der USA ist diese Besorgnis bis in die Gegenwart hinein eines der Hauptmotive, die Evolutionstheorie abzulehnen.87 Diese Sorge war im 19. Jahrhundert angesichts der unheilvollen Allianz von Evolutionstheorie und Sozialdarwinismus88 nicht unbegründet. Im Namen eines (vermeintlich) wissenschaftlichen und aufgeklärten Weltbildes plädierten manche Darwinisten dafür, das Recht des Stärkeren im Verdrängungswettbewerb nicht nur im Tierreich zu respektieren, sondern auch in der Gesellschaft. Konkurrenz und Selektion wurden zur Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts erklärt. Die Theorie der natürlichen Auslese bereitete zusammen mit dem vom Ökonomen Thomas Malthus geprägten Motto des Kampfes ums Dasein und dem auf Herbert Spencer zurückgehenden Ausdruck survival of the fittest (Überleben der Bestangepassten) den ideologischen Nährboden für allerlei Utopien der Menschenzüchtung. Den traurigen Höhepunkt erreichte diese brandgefährliche Entwicklung im nationalsozialistischen Rassenwahn im 20. Jahrhundert.

Dass die christlichen Kirchen ebenso wie einige Naturwissenschaftler der Evolutionstheorie anfangs kritisch bis ablehnend gegenüberstanden, hatte auch mit ihrem wissenschaftstheoretischen Status zu tun. Anfangs waren die empirischen Belege für die Evolutionstheorie noch teilweise lücken- und mangelhaft. Die Evolutionstheorie stand zwar im Ruf, eine revolutionäre Hypothese darzustellen, sie war in der wissenschaftlichen Zunft aber noch umstritten. Erst durch den empirischen Erkenntnisfortschritt erlangte sie allmählich ihren heutigen Rang einer allgemein anerkannten wissenschaftlichen Theorie und gilt inzwischen als das erfolgreichste wissenschaftliche Paradigma, um die Artenvielfalt zu erklären.

Die langanhaltenden Vorbehalte des Christentums gegenüber dem Entwicklungsgedanken waren primär jedoch theologischer Natur. Die Evolutionstheorie mit ihrer alternativen Sicht der Entstehung des Lebens auf Erden schien die Autorität der biblischen Schriften zu untergraben. In einer der ersten Stellungnahmen zur Evolutionstheorie verteidigte das Lehramt der katholischen Kirche den traditionellen Schöpfungsglauben. Die Päpstliche Bibelkommission bestand noch 1909 auf dem historischen Charakter der drei ersten Kapitel der Genesis. Die katholische Exegese wurde auf die wörtliche Auslegung der biblischen Erzählungen rund um Schöpfung, Paradies und Sündenfall verpflichtet. Die Anfangskapitel des Buches Genesis würden „Erzählungen wirklich geschehener Dinge“ enthalten, die „der objektiven Realität und historischen Wahrheit entsprechen“.89 Zu diesen historischen Tatsachen zählte die Bibelkommission u. a. „die besondere Erschaffung des Menschen; die Bildung der ersten Frau aus dem ersten Menschen; die Einheit des Menschengeschlechtes; die ursprüngliche Glückseligkeit der Stammeltern im Stande der Gerechtigkeit, Unversehrtheit und Unsterblichkeit“ (Denzinger-Hünermann [= DH] 3514). 1948 wurde die Erklärung der Bibelkommission mit einer Auslegungsbestimmung versehen. Diese kann als vorsichtiger Versuch einer Selbstkorrektur interpretiert werden. Die Erklärung von 1909 habe, so verlautbarte der damalige Sekretär der Bibelkommission in einem Brief an Kardinal Suhard, „einer weiteren echt wissenschaftlichen Überprüfung dieser Probleme“ nicht im Wege stehen wollen (DH 3862). 1943 erhielt die moderne Exegese durch die Enzyklika Divino afflante Spiritu von Pius XII. Heimatrecht in der katholischen Kirche (vgl. DH 3825–3831). Vor allem mit der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum (1965) des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. DH 4201–4235) wurde von katholischer Seite der „Anschluss an die seit dem 19. Jahrhundert ertragreich arbeitende religionswissenschaftliche und historisch-kritische Erforschung der biblischen Texte gefunden und eine wörtliche Auslegung der Erkundung des eigentlichen Aussagesinns des Textes untergeordnet“90.

Damit war der Weg bereitet für eine Annäherung des kirchlichen Lehramtes an die Evolutionstheorie. Diese erfolgte 1950 unter Pius XII. in der Enzyklika Humani generis (vgl. DH 3875–3899). Der Papst würdigte in seinem Schreiben die Evolutionstheorie als eine wissenschaftliche Hypothese, „die nicht im Gegensatz stehe zu dem, was der Glaube über den Menschen sagt, solange man nicht die unmittelbare Erschaffung der Geistseele durch Gott bestreitet“91. Seit der Veröffentlichung der Enzyklika war es Katholiken nun offiziell gestattet, die Evolutionslehre „gemäß dem heutigen Stand der menschlichen Wissenschaften und der heiligen Theologie in Forschungen und Erörterungen von Gelehrten in beiden Feldern“ zu behandeln (DH 3896). Diese Aussage wurde als prinzipielle Anerkennung der Evolutionstheorie durch die katholische Kirche interpretiert. In der Anwendung auf den Menschen differenzierte das Lehramt jedoch. Der „Ursprung des menschlichen Leibes aus schon existierender und lebender Materie“ (DH 3896) wurde als wissenschaftliche Hypothese akzeptiert. In Bezug auf die Geistseele des Menschen bestand die Enzyklika jedoch auf der traditionellen Lehre: Die Seele werde unmittelbar von Gott erschaffen und dem Menschen eingestiftet (vgl. DH 3896).

Der allgemeinen Akzeptanz der Evolutionstheorie(n) in der scientific community92 trug schließlich Papst Johannes Paul II. in einigen vielbeachteten Ansprachen Rechnung. In Anbetracht der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse dürfe die Evolutionstheorie nicht länger als eine bloße Hypothese (una mera ipotesi) angesehen werden.93 Recht verstandene Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube widersprechen einander nach Ansicht des Papstes nicht. „Evolution setzt Schöpfung voraus; Schöpfung stellt sich im Licht der Evolution als ein zeitlich erstrecktes Geschehen – als creatio continua – dar“94. Auf dieser Linie formuliert der Katholische Erwachsenenkatechismus: „Gott schafft die Dinge so, dass sie ermächtigt sind, bei ihrer eigenen Entwicklung mitzuwirken.“95 Das Wirken Gottes beschränkt sich dabei nicht auf den Anfang. Gott überlässt die von ihm geschaffene Werde-Welt nicht einfach sich selbst. Seine Vorsehung erstreckt sich auf die gesamte Schöpfung und somit auch auf den Evolutionsprozess. „Einen ungesteuerten Evolutionsprozess – der außerhalb der Grenzen der göttlichen Vorsehung fiele – kann es“, laut der Internationalen Theologenkommission, „einfach nicht geben, denn ‚die Ursächlichkeit Gottes, der der Erstwirkende ist, erstreckt sich auf alles Seiende‘“96. Es zeigt sich somit: An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert hat auch die katholische Kirche den Übergang „von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Dinge zu einem mehr dynamischen und evolutionären Verständnis“ (Gaudium et spes 5; DH 4305) vollzogen. Die Theologie hat inzwischen erkannt und anerkannt, dass die biblischen Schöpfungstexte weder naturwissenschaftliche Abhandlungen noch historische Protokolle darstellen. Vorrangiges Anliegen der Texte ist somit nicht zu schildern, wie Gott die Welt und alles in ihr erschaffen hat. Im Zentrum steht vielmehr eine Glaubensaussage: Der eine und einzige Gott ist Schöpfer und Herr der ganzen Welt. Weil alles seinen Ursprung in Gott hat, sind die biblischen Autoren von der grundsätzlichen und ursprünglichen Güte bzw. Sinnhaftigkeit des Geschaffenen überzeugt. Wie die Welt entstanden ist und sich die Organismen entwickelt haben, kann hingegen von den Naturwissenschaften beantwortet werden, die ihrerseits jedoch keine Antwort auf die Frage geben können, weshalb es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.

2.4 Das evolutionäre Weltbild und das Problem des Übels

Die Übernahme des Entwicklungsgedankens stellt Kirche und Theologie vor große intellektuelle Herausforderungen. Die Probleme betreffen vor allem den Bereich des Handelns bzw. Wirkens Gottes in der Welt.97 Um nur einige zu nennen: Welchen Einfluss übt Gott auf die Entwicklung des Lebens aus? Steuert er den Evolutionsprozess? Und falls ja, auf welches Ziel lenkt er die Evolution hin? Welche Rolle spielt dabei der Zufall? Und wie lässt sich eine theologische Sicht des Evolutionsgeschehens mit der naturwissenschaftlichen Perspektive vermitteln?

Im Folgenden wird aus diesem Problemkreis nur eine Fragestellung näher behandelt, die vielen Gläubigen existentiell unter den Nägeln brennt, nämlich das sogenannte Theodizee-Problem.98 Als Frage formuliert, lautet die Problemstellung: Warum gibt es in der Welt, die Christen als Gottes Schöpfung bekennen, so viele Übel? Weshalb lässt Gott zu, dass seine Geschöpfe Schmerzen empfinden und leiden? Im Rahmen eines evolutionären Weltbildes verschärft sich die Problematik: einerseits, weil der Evolutions-prozess selbst Übel verursacht. So erhöht etwa das unerbittliche Gesetz von Fressen und Gefressenwerden den „Leidensdruck“ im Tierreich. Dies wirft die Frage auf, weshalb Gott die Arten nicht anhand einer weniger leidvollen Methode erschaffen hat, „weniger leidvoll im Vergleich zu einer durch Ausrottung mangelhaft angepasster Lebewesen voranschreitenden Evolution“99. Andererseits stellt sich im Blick auf Dauer und Verlauf der Evolution die Frage, weshalb Gott die Organismen nicht unmittelbar erschaffen hat. Warum all die Umwege und Sackgassen, wozu das millionenfache Sterben und Verenden von Individuen und ganzen Arten in der Naturgeschichte? „Wenn Gott die Macht hätte, jede Spezies, einschließlich der menschlichen, ex nihilo zu erschaffen, fragt sich, aus welchen Gründen er die Welt über einen so immens langen Zeitraum hinweg erschaffen hat.“100

Das evolutionäre Paradigma konfrontiert den christlichen Schöpfungsglauben mit zwei Herausforderungen: Weshalb bediente sich Gott bei seinem Schöpfungswerk des Mittels der Evolution? Und warum verhindert Gott die durch die Evolutionsmechanismen hervorgerufenen Übel nicht? Zur Beantwortung beider Fragen ist die Entwicklung einer christlichen Theologie der Evolution unverzichtbar, die in Ansätzen bereits vorliegt.101

Christliche Versuche, Evolution und Schöpfung zusammenzudenken, sind m. E. gut beraten, von einem der Spitzensätze biblischer Theologie ihren Ausgang zu nehmen. Eine solche Fundamentalaussage der Bibel bildet die Bestimmung Gottes als Liebe. Gott ist Liebe (vgl. 1 Joh 4,16b).102 Wenn die Liebe das Sein Gottes ausmacht und bestimmt, und Gott stets seinem Wesen gemäß handelt, dann steht alles, was Gott tut und unterlässt, im Zeichen dieser Liebe. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb die kirchliche Lehrtradition von frühesten Zeiten an die These vertreten hat, dass Gott die Welt aus Liebe erschaffen hat (creatio ex amore).103 Da Gott „in sich und aus sich vollkommen selig und über alles, was außer ihm ist und gedacht werden kann, unaussprechlich erhaben ist“104, hat er in reiner Güte, ohne innere Nötigung noch äußeren Zwang (vgl. DH 3002) die Welt erschaffen. Nachdem Gott aus völlig freiem Entschluss das Nichtgöttliche ins Dasein gerufen hat, kann mit dem alttestamentlichen Buch der Weisheit behauptet werden: Gott liebt alles, was ist, und verabscheut nichts von allem, was er gemacht hat; denn hätte er etwas gehasst, so hätte er es nicht geschaffen (Weish 11,24). Aus der Sicht der Heiligen Schrift ist Gott ein Freund des Lebens (vgl. Weish 11,24–26). Die freundschaftliche Verbundenheit Gottes mit der Schöpfung zeigt sich auch im Schöpfungsziel. Dieses wird traditionell in der Gemeinschaft des Geschaffenen mit seinem Schöpfer erblickt. Da Gott die Geschöpfe liebt und nur das Beste für sie wünscht, möchte er sie an seiner eigenen, unüberbietbaren Fülle teilhaben lassen.

 

Die Liebe bildet, wie gezeigt, das zentrale Schöpfungsmotiv und -ziel. Echte Liebe zeichnet sich aber durch die Fähigkeit und Bereitschaft aus, „anderes frei zu lassen“105. Gilt dies – (zumindest) in analoger Weise – auch für Gottes Liebe, so darf man mit Medard Kehl annehmen: „Wenn Gott aus Liebe überhaupt eine Welt ins Dasein ruft, wird sie wohl in jedem realistisch denkbaren Fall mit der ganzen Ambivalenz endlicher Eigenständigkeit und Freiheit behaftet sein – sowohl mit der Möglichkeit von Übeln und Leid als auch mit der Wahrscheinlichkeit, dass diese Möglichkeit realisiert wird.“106 Dass das Geschaffene Wege zu beschreiten vermag, „die ihm nicht deterministisch von Gott vorgezeichnet sind“107, darunter auch solche, die nicht gottgewollt sind, ist eine Konsequenz des göttlichen Schöpfungsmotivs.108

Ein nicht strikt von Gott determinierter Evolutionsprozess legt sich auch vom Schöpfungsziel her nahe. Gott möchte der Schöpfung Anteil an sich selbst und seiner Fülle geben. „Das Gesetz der Liebe“, bemerkt Klaus von Stosch zutreffend, „ist die Freiheit. Liebe ist das einzige, das sich per definitionem durch keine Macht und Gewalt des Himmels und der Erde erzwingen lässt.“109 Nur wenn Gott die Geschöpfe in die Eigenständigkeit bzw. Freiheit entlässt, kann er ihre Liebe gewinnen. Weil „der Schöpfer die Schöpfung als Antwort auf sein Wort [will]“110, ist von einem Vorentwurf jener Freiheit, die wir dem Menschen zusprechen, in allem Wirklichen auszugehen. Die Ausprägungen der vormenschlichen Freiheit weisen graduelle Unterschiede auf und werden bisweilen sehr bescheiden ausfallen. Wenn Gott jedoch seinem Wesen treu bleibt und nur mit Mitteln der Liebe versucht, die Liebe seiner Geschöpfe zu gewinnen, „kann es kein Geschöpf dieses Gottes geben, das sein bloßes Objekt wäre“111. Gott achtet und respektiert den Selbststand und das Eigensein der Geschöpfe, sollten diese auch noch so gering sein.112

Im Blick auf die zwei Ausgangsfragen lässt sich zusammenfassend festhalten: Der Evolutionsprozess ist Ausdruck des Selbststandes, den Gott der Natur gewährt. Aus Liebe entließ der Schöpfer die Natur in eine gewisse Eigenständigkeit. Und aus Liebe toleriert Gott die Übel, die durch diese Freisetzung der Natur ermöglicht wurden. Gott ist „insofern verantwortlich für das Leid und die Übel in der Schöpfung, als er mit der Eigenständigkeit und Freiheit der Geschöpfe prinzipiell die Möglichkeit dazu eröffnet hat“113. Die Übel in der Naturgeschichte sind gleichsam der Preis, den Gott für die Gewährung von vormenschlicher Freiheit zu zahlen bereit ist. Ob dieser Preis, den auch unzählbar viele Tiere bis auf den heutigen Tag zahlen, nicht zu hoch ausfällt, wird im letzten Kapitel dieses Buches noch eigens zu bedenken sein.114