Herbstwind

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Er

Michael Kleinewetter erhielt einen Anruf. „Hast du schon die Zeitung gelesen? Der Mord in Würden, das müsste dich doch interessieren. Heiße Sache, oder?“

„Deshalb rufst du mich an? So sehr interessiert mich so ein Schmuddelkram auch wieder nicht.“

„Aber du hast doch mal über diese Sache in Würden geschrieben, dieser Badeunfall mit den Mädchen. Da hast du auch die anderen Todesfälle erwähnt, die dort vorkamen.“

„Ja, es ist ja nett, dass du mich darauf aufmerksam machst, aber ich bin mit dem Thema durch.“ Das war in der Tat so. Wenn Michael Kleinewetter ein Thema schriftstellerisch oder journalistisch behandelt hatte, dann war es für ihn erledigt. Er betrachtete Hinweise auf neue Fakten eher als Belästigung und pflegte entsprechende Kontaktaufnahmen abzuwimmeln.

Doch diesen Anrufer konnte und wollte er nicht abwimmeln, alte Freunde sollten nicht abgewimmelt werden. Sie werden im Laufe eines Lebens selten und immer kostbarer. Gerade dann, wenn es sich auch noch um Freunde aus der Schulzeit handelt, die dann sogar noch in der Nähe leben. Am Telefon war sein alter Freund Jürgen Jochims, der es in einem Nachbarkreis zum Chefarzt einer Spezialklinik gebracht hatte. Kleinewetter bewunderte die Leistung seines Freundes, der sich aus Arbeiterverhältnissen empor gearbeitet hatte. Er wollte ihn keinesfalls durch sein Desinteresse verletzen. Wenn es hart auf hart kam, war Jochims ein echter Kumpel.

„Ich dachte eben, das interessiert dich. Der Ort scheint so was doch irgendwie anzuziehen.“

Kleinewetter ließ ein „mmmmmmm“ hören. „Meinst du, so was gibt es? Ich hätte dich da für rationaler gehalten.“

„Ich denke nicht nur der Ort, auch die Zeit ist reif für solche Dinge.“

Kleinewetter tat so, als ob er aufhorchte. „Ausdruck der Krise in unserem Land? So wie Haarmann in Hannover, als es Deutschland insgesamt sehr schlecht ging?“

„Jede Zeit gebiert ihre Monster.“ Kleinewetter war nicht wirklich überzeugt, Serienmörder hatte es zu jeder Zeit gegeben, das war kein Krisensymptom, eher das Symptom für eine Gesellschaft, die Zeit hatte, sich um solche Phänomene zu kümmern, sie überhaupt wahrzunehmen. Und öffentliche Wahrnehmung bedeutete heutzutage doch alles, der Ruhm für zehn Sekunden, sei es als singende Zapfsäule in irgendeiner der populären Casting-Shows, sei es als Ex-Gespielin eines Plattenproduzenten, sei es als geständiger Bankräuber oder Geiselgangster. Hauptsache wahrgenommen.

Außerdem konnte hier von einer Serie ja noch keine Rede sein. Die Zeitung hatte von dem schauerlichen Mord in Würden berichtet und von einer illegalen Beerdigung in Gimborn, weiter nichts. Bisher war noch nichts darüber verlautet, ob der Tote von Gimborn ermordet worden war oder nicht. Michael Kleinewetter empfand das aber irgendwie als angemessen, ein Mord direkt gegenüber der Polizeiakademie.

„Hallo“, fragte Jochims, „bist du noch da?“

„Ja, bin ich, Entschuldigung, ich war mit den Gedanken kurz mal woanders.“

„Und?“

„Na, nix, ich find’s nett, dass du mich als Horrorschmierfink darauf aufmerksam machst. Vielleicht schreib ich ja mal was drüber. Was sagst du zu Schalke?“ Ein guter Themenwechsel, auch Jochims war heißblütiger Schalke-Fan.

„Sieht im Moment nicht goldig aus. Ich weiß jedenfalls nicht, worauf das hinauslaufen soll. Und dann diese Schulden.“

Jochims war der ewige Pessimist.

„Na, warte mal ab, wenn die jetzt Hamburg schlagen und Freiburg, dann sieht die Sache schon wieder ganz anders aus.“

„Gegen Freiburg können die ruhig verlieren, die gewinnen den Pokal dieses Jahr sowieso nicht.“

Und so ging es dann noch ein ganzes Stück weiter, Kleinewetter wunderte sich, warum Jochims sich morgens Zeit für so ein Gespräch nahm, etwas schien ihn wirklich zu bewegen. Aber er kam nicht darauf, was es sein könnte. Deshalb fragte er direkt. „So, jetzt sag mal, worum geht’s wirklich?“

Aber da schien nichts Großartiges zu sein, Jochims wollte zwischen zwei Patienten einfach nur etwas plaudern. Wenn da mehr gewesen wäre, hätte er es sicher gesagt, Offenheit war die Stärke dieser Freundschaft.

„Okay, dann nehme ich dir heute eben keine Beichte ab. Lebe dein falsch gelebtes Leben nur weiter.“

„Du auch, ich melde mich die Tage.“

Kleinewetter las in Ruhe die Zeitung. Bei der letzten Besteigung des Mount Everest hatte es zwei Tote gegeben und ein Teilnehmer beklagte den Verlust seines Handys. „Handy, auch so ein Wort, es heißt Mobiltelefon.“ Wenn es sein musste, war Kleinewetter sehr konsequent. Erst nach dem Frühstück registrierte Michael Kleinewetter, dass da noch ein Anruf war. Der Anrufbeantworter blinkte. Kleinewetter schaltete ihn ein. Eine Stimme erfüllte den Raum, eine männliche Stimme: „Glaub nicht, was du siehst, glaub nicht, was du hörst, alles ist Illusion, nur Kulisse für den Film deines Lebens. (Schweigen) Was tust du heute Abend? Hast du schon eine Verabredung? Sonst komme ich gerne vorbei. Ich will sehen, wie du von innen aussiehst.“ Aufgelegt. Kleinewetter erstarrte. Wenn das ein Scherz gewesen sein sollte, dann war es kein guter. Wer um Himmels Willen war das? Die Stimme klang auf eine seltsame Weise vertraut. Das war’s dann wohl mit dem sicheren Landleben. Aber wahrscheinlich doch nur irgendein Spinner. Hoffentlich. Aber wie kam er an die Telefonnummer? Sie war nicht ohne Grund geheim. Kleinewetter hasste es zu telefonieren.

Er horchte in sich hinein – keine Panik. Er horchte ins Haus, ins Dorf hinein. Nichts Auffälliges. In der Nähe des Hauses stritten sich zwei Katzen. In dem letzten Stundengebet des Tages sangen die Benediktiner: „Non timebis a timore nocturno.“ Du brauchst vor den Schrecken der Nacht nicht zu bangen.

Er trank gemütlich eine Flasche sehr frischen französischen Landwein, den ihm Freunde mitgebracht hatten.

Neuigkeiten

Die lokale Tageszeitung erinnerte daran, dass dies nicht das erste Sterben in Würden gewesen war. Neben dem Dorf Würden, hoch über dem Stahlwerk Schmidt und Clemens, liegen zwei Kühlwasserbecken, die der industriellen Wasseraufbereitung dienen. Angelegt im Dritten Reich, hatten diese Becken die offiziellen Maße eines olympischen Schwimmbeckens und so wurden sie immer wieder nicht offiziell oder nur halb geduldet als Schwimmbad benutzt. Von den Arbeitern des Werkes natürlich, aber auch von der Dorfjugend und sogar von den umliegenden Schulen. Es war damals in eher ländlichen Gebieten ungewöhnlich schwimmen zu können, und ist es in gewisser Weise bis heute. Viele der älteren Generation können nicht schwimmen, obwohl es seit den 20er Jahren in Gummersbach auch ein städtisches Hallenbad gab, für das der Name „Hohenzollernbad“ nicht auszurotten war. Mittlerweile ist diese Badeanstalt durch ein Spaßbad der neuen Generation ersetzt worden, das wiederum den wenig geglückten Namen „Gumbala“ trägt. Viel Schabernack wurde in der Öffentlichkeit wegen dieses Namens getrieben. Viele sangen „Gumbala – my Lord“.

Aber zurück nach Würden. 1949 ging dort eine Schulklasse aus Gimborn mit ihrer Lehrerin schwimmen. Es war ein schöner, sonniger Septembertag und das warme Wetter hatte die Algen auf dem Betonboden des niedriger gelegenen Beckens aufblühen lassen. Der Boden war glitschig und steil. Und es passierte, was passieren musste. Sich in einer Reihe an den Händen haltend rutschten die Kinder gemeinsam ins tiefe Wasser ab und – da eine Abtrennung zum tiefen Wasser aus ungeklärten Gründen fehlte – ertranken zwölf Mädchen an diesem herrlichen Tag. Die, die erst vor wenigen Stunden fröhlich von der Gimborner Schule aus aufgebrochen waren, kehrten als Leichen zurück und wurden im Gemeindehaus neben der Kirche aufgebahrt. Ein Schock, der bis heute nachwirkte und auch zum fünfzigsten Jahrestag noch die Gemüter erhitzte. Mittlerweile war auch ein Buch über diesen Vorfall erschienen und diskutierte die heute müßige Frage, ob die Mädchen im Tod aneinander gekrallt waren oder nicht.

Erst nach dem Vorfall von 1949 wurde aus dem Kühlwasserbecken auch ein offizielles Freibad. Es existierte bis in die 70er Jahre hinein und sah die ersten Pommesbuden und viele Sommer lang die Freuden der Jugend und auch die Roaring Sixties, die selbst in der grünen Hölle Oberberg roaring waren. Sommer voller Transistorradio-Gedröhne und den ersten Verkehrsstaus bei der Anfahrt und VW-Käfern voller Abenteuerlustiger aus dem Ruhrgebiet und den Städten des Rheins. Für ein Schwimmbad fast unvermeidlich waren dann mindestens zwei weitere Todesfälle von jungen Männern, die in der Masse der Schwimmer untergingen, beziehungsweise die neu errichtete Trennungsmauer zwischen flachem und tiefem Wasser überkletterten und nicht richtig schwimmen konnten. Im Totenbuch der Katholischen Kirchengemeinde Gimborn sind die Namen nachzulesen. „Gib jedem seinen eigenen Tod“, sagt der Dichter.

Und nun dieses abscheuliche Verbrechen, denn dass es sich um ein Verbrechen handelte, war offensichtlich. Niemand begeht Selbstmord, indem er sich den Bauch aufschneidet und dann ins Wasser springt. Jedenfalls nicht in diesem Teil der Welt. Die Polizei hatte das Opfer als männlich, 38 Jahre alt, wohnhaft in Bergisch Gladbach und von Beruf Handelsvertreter einer Großmarktkette identifiziert. Das Opfer pflegte von Bergisch Gladbach bis Engelskirchen auf der A4 zu fahren, den Wagen, originellerweise ein Audi A4, auf dem Parkplatz stehen zu lassen und dann mit einem Kollegen weiterzufahren. Reisegebiet war meistens das Sauer- und das Siegerland. Zur Tatzeit hatte das Opfer, das Frau und zwei Kinder hinterließ, wieder sein Auto besteigen wollen, um nach Hause zu fahren. Sein Kollege hatte ihn soeben abgesetzt. Eine Funkstreife war ungefähr zum Zeitpunkt der Entführung vor Ort gewesen, hatte aber nichts Ungewöhnliches bemerkt. Es hatte ein recht stetiger Verkehr von an- und abfahrenden Autos geherrscht, an einen bestimmten Wagen konnten sich die Beamten nicht erinnern. Das Opfer, so ergab die Obduktion, war auf dem Parkplatz entführt und am Beckenrand ermordet worden. Die Entführung fand wahrscheinlich unter Zuhilfenahme eines Betäubungsmittels statt, die Ergebnisse hierzu lagen noch nicht vor. Am Tatort selber keine brauchbaren Spuren, keine Augenzeugen, keine verwendbaren Reifenabdrücke, nichts.

 

Als Randnotiz wurde bemerkt, dass der Tote in dem illegalen Grab in Gimborn ein Architekt gewesen war, der gelegentlich für den Oberbergischen Kreis gearbeitet hatte. Er war eindeutig brutal zu Tode geprügelt und halb lebendig begraben worden. Jemand musste den Mann wirklich gehasst haben. Ein Zusammenhang mit dem Mord am Kühlwasserbecken wurde nicht gesehen.

Es handelte sich hierbei um ein völlig anderes Tatprofil. Bei dem sadistischen Mord in Würden ging es um einen Mord, bei dem der Täter sich eine Art Befriedigung verschaffte und die illegale Bestattung des Totgeprügelten deutete eher auf einen anderen Typus von Täter hin. Die Ermittlungen gingen in alle Richtungen, wie der Polizeisprecher verlauten ließ, auch ein Mord im Glücksspielmilieu wurde nicht ausgeschlossen, der Betroffene hatte hohe Spielschulden und stand kurz vor dem Bankrott. Ihn würde niemand vermissen, er war alleinstehend und galt als notorischer Querulant und Einzelgänger, der es liebte in aller Öffentlichkeit wegen Nichtigkeiten Streit anzufangen.

Die Tageszeitung veranstaltete außerdem eine spontane unrepräsentative Straßenumfrage in der Gummersbacher Fußgängerzone mit der Fragestellung: „Fühlen Sie sich noch sicher auf unseren Straßen?“ Die Befragten zeigten sich zwar von den Taten an sich erschüttert, hielten zwei Morde in so kurzer Zeit aber für einen Zufall. „So was kann überall passieren“, sagte ein 18-jähriger Schüler und fuhr geistreich fort: „Bei so was muss man die Symptome bekämpfen und nicht die Ursachen.“ Eine Hausfrau sagte, dass sie nun schon vorsichtiger sein würde und natürlich fehlte auch nicht der Hinweis eines jungen Burschen, dass unter Hitler so was nicht passiert wäre. Ansonsten ging das Leben weiter seinen gewohnten Gang. Weitere Nachrichten des Tages waren die Haushaltsmisere der oberbergischen Kommunen, die geldlichen Sorgen im Kulturbereich und das finanzielle Gebaren des Handballvereins VfL Gummersbach. Es ging eben alles seinen gewohnten Gang.

Doch das war erst der Anfang.

Ich

Ich gehe gern mal ins Theater. In Gummersbach nennen sie das Bühnenhaus, obwohl es seit Jahren das Theater der Stadt Gummersbach ist, das macht mich fuchsig. Keine Ahnung warum das so ist. Die Gummersbacher kleben an den alten Namen. Irgendwas hängt da dran. Bühnenhaus hat man das nur am Anfang genannt, weil man sich nicht traute es Theater zu nennen. So einfach ist das. Aber jetzt „Theater der Stadt Gummersbach“, das hört sich doch gut an, oder?

Habe gestern ein interessantes Buch über Ludwig den Zweiten gelesen, über seine Selbstinszenierung. Ein Gedanke, der gut zu einem Besuch im Theater passt. Wo ist mein verdammtes Feuerzeug? Auf dem Weg vom Parkplatz will ich noch eine rauchen. Ich rauche eigentlich nicht mehr, aber ab und zu abends und jetzt wird es Abend und der Parkplatz ist genau eine Zigarettenlänge vom Theater entfernt neben der Eugen-Haas-Halle. Für das Parken muss man extra zahlen, macht mich auch sauer. Ich habe heute zuviel telefoniert, auch das macht mich wütend. Immer dieses Gequatsche. Deshalb mag ich ja die Zeit im Kloster so. Da halten sie die Klappe und fragen nicht andauernd wie es dir geht.

Na gut, der Zwerghase ist versorgt, zu Hause alles klar, jetzt geht’s los. Ich freu mich schon auf „Romeo und Julia“. Ich mag diesen Shakespeare. Obwohl keiner weiß wie der Typ aussah. Das gefällt mir. Wie ich aussehe weiß auch keiner und das ist gut so. Obwohl ich nichts zu verheimlichen habe. Wäre ja noch schöner.

Und die Karte hab ich schon im Vorverkauf gekauft. Da gibt’s keinen Stress an der Abendkasse. Habe wieder den Nachmittag verpennt. Zuviel Wein zum Mittagessen.

Kennen Sie den Roman „Weinprobe“ von Dick Francis? Sollten Sie mal lesen, obwohl es da meistens um Whiskey geht. Aber der Typ um den es geht ist fast so einsam wie ich, wobei ich das ja auch pflege. Und jetzt habe ich den Eingang erreicht. Mist, die Zigarette ist nicht ganz alle geworden. Direkt am Eingang treffe ich Bruckmann. Wir kennen uns oberflächlich. Ein kurzes Gespräch, wie geht’s dem Lieblingsneffen, was macht das schöne Haus oben am Kerberg. Bruckmann wirkt angespannt, sagt mir auch, dass er einen Ausgleich brauche, „bevor es dann in einem Frühling so richtig losgehe“. Keine Ahnung was der alte Mann meint. Er merkt das und sagt, wir sollten uns mal treffen, er würde mich „erkennen“, denn unsere Ziele seien verwandt. Okay, wenn er meint, treffen wir uns eben und reden. Wir wünschen uns erstmal einen schönen Abend. Wie die Zeit vergeht, zuletzt war ich im März hier und habe eine Revue über die Gummersbacher Geschichte gesehen. Schöne schwungvolle Sache. Uneitle Inszenierung, fette Musik. Peppig. Davor war ich lange nicht mehr hier, da gab es irgendwann ein Stück über eine Pflanze und einen Zahnarzt. Der Kerl hatte einen schrägen Humor und war gut drauf. Ging gut mit Frauen um. Leider soll sich der Darsteller danach irgendwie verletzt haben und ist dann irgendwann gestorben. Finale. Naja, was wird sein, wenn ich das nächste Mal hier bin? Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Oder wenn ich das nächste Mal ins Kloster fahre. Ist dann jemand gestorben den ich kenne? Ich kenne aber zum Glück nicht viele, es sei denn es sind Promis aus der Zeitung. Oder ich habe bis dahin Krebs. Oder irgendwas. Weiß keiner.

Ich zeige im schmucklosen Siebziger-Jahre-Foyer meine Karte vor, ich sitze in der siebzehnten Reihe. Im Theater ist es gut nicht so weit vorne zu sitzen. Da machst du dir den Nacken steif. Das Theater in Gummersbach ist genau von dem Architekten, der auch die Bonner Oper gebaut hat. Nur kleiner. Achthundert Plätze, keine Logen, keine Ränge. Die demokratische Form. Alle sind gleich und wer vorne sitzt und mehr bezahlt muss es ja selber wissen.

Viele Schüler im Publikum. Hoffentlich sind die leise, sonst tick ich durch und wenn ich durchtick ist nicht gut. Ich kenne mich. Das Licht geht aus, das Spiel fängt an. Die erste Hälfte ist langweilig, völlig undynamisch. So ist einem Klassiker nicht beizukommen. Die Schauspieler erschreckend schwach. Irgendeine Tourneeversion.

Und wenn ich mich langweile ist auch nicht gut. Zum Glück kenne ich mich hier prima aus. War hier mal Aushilfe. Dann gehe ich eben auf den Schnürboden und seh mir das Ganze von oben an. Vielleicht nehm ich jemand mit und hab meinen Spaß. Über diese Gedanken werde ich ruhig. Eingepennt. Gerade zur Pause wieder wachgeworden. So einen lahmen Tybalt habe ich noch nie gesehen. Und ich habe schon viel Mist gesehen in meinem Leben. Schließlich komme ich aus dem Ruhrgebiet und irgendwie hat es mich hierhin verschlagen, obwohl es ja egal ist wo man ist, es ist überall die gleiche Sache. Ich vermeide Kraftausdrücke, obwohl ich so dermaßen unter Dampf stehe, dass der Topf gleich hochgeht. Und im Mund noch diesen pelzigen Geschmack von diesem Rotwein. Aber soll ja gut fürs Herz sein, als Ausgleich fürs Rauchen. Ich fühle das Messer in meiner Tasche. Dieses japanische Ding. Alles andere ist nur Mist.

Untersuchungen haben aber ergeben, dass täglich Alkohol selbst in kleinen Dosen auch wieder nicht gut ist, was denn nun. Ist wie mit diesem Acrylamid. Erst Geschrei, dann war nix, dann ist alles nicht so schlimm, was denn nun? Ein Freund von mir ist Arzt. Mal fragen was der meint, obwohl selbst bei einem Arzt gibt es ja bekanntlich schon zwei Meinungen. Manchmal wissen wir doch alle einfach nicht mehr weiter, oder? Dann ist guter Rat teuer. Das teure lauwarme Bier der Pausenbewirtung in diesem schmucklosen Foyer schenke ich mir. Stattdessen sehe ich mich konzentriert um. Wer würde es bringen, mit wem würde es Spaß machen … Keine hoffnungsvollen Jugendlichen. Kinder sowieso nicht, aber die sind auch nicht hier. Zum Glück für sie. Sehen sie diesen verkorksten Romeo nicht. Da, den Menschen kenne ich doch. Also kommt der nicht in Frage. Wäre gegen die Prinzipien, aber sein nutzloses Leben wäre einen Spaß wert. Aber nein, es gibt Regeln. Muss jemand anders herhalten. X oder Y oder XY. Hallo, meldet euch, ich bin noch frei für ein Tänzchen.

Das erste Klingeln, der erste Aufruf. Da, der Programmheftverkäufer muss von der Tourneetruppe sein. Sieht irgendwie asiatisch aus, brabbelt aber deutsch. Ideal, den kennt hier keiner und im Gewühl ist man immer noch extrem anonym dazu, ich kämpfe mich unauffällig zu ihm durch. Ist wohl wirklich ein Asiate, wahrscheinlich von hilfsgeilen Lehrern adoptiert, ein Thai oder ein Chinese oder sowas. Ich spreche ihn an. „Na, kann ich denn auch so ein Ding haben?“ „Klar“, sagt er, „macht einen Euro.“ „Was, soviel?“ „Das ist doch nicht teuer“, sagt der und widerspricht mir. Ein blöder Fehler. Ein richtig blöder dummer Fehler. Jetzt ist es um dich geschehen, mein Süßer, denke ich und sage: Ich brauchte ihn mal eben hinter der Bühne, ich sei vom Haus und da sei irgendwas zu regeln. Wenn ich vom Haus sei, wär das Programmheft umsonst, sagt der und ich sage: „Nein, nein, ich will schon bezahlen.“ „Was denn zu regeln sei“, fragt er. „Was weiß ich“, sag ich, „ich bin nur ein kleines Licht. Vielleicht irgendwas mit der Abfahrt nachher, damit du nicht vergessen wirst oder der Bus steht auf dem Hydranten und die Feuerwehr mosert rum. Du weißt doch, wie’s läuft.“

So viele gute Argumente haben ihn überzeugt, er lächelt sein schleimiges Asien-Lächeln und dackelt mit. Wobei ich bitte nicht missverstanden zu werden, ich mag die Asiaten, vor allem ihr Essen, ihre Autos und ihre Messer. Und gleich organisiere ich ein Ereignis der Völkerverständigung: Asiatisches Messer trifft asiatischen Mann auf europäischem Boden. Ich sage: Hier lang und da lang und so. Ich wär der Udo oder so, sage ich und wie er heißt habe ich nicht verstanden ich bin zu sehr auf was anderes konzentriert. Und dann sind wir im Treppenhaus hinter der Bühne. Darüber gibt’s viele Etagen. Der Weg führt ganz nach oben auf den Schnürboden. „Da oben“, sage ich, „da müssen wir rauf wegen des Problems.“ Und er wird ein bisschen misstrauisch und kriegt seine Asien-Muffensausen und fragt, was denn das soll und ich zeige ihm mein Messer und er wird ganz ruhig und ich bin ganz kribbelig. Wenn ich nur dran denke was jetzt kommt. Und ich sage ihm: „Nur wo du zu Fuß gewesen bist, da bist du wirklich gewesen.“ Und ich sage ihm: „Ich kann mich nicht finden, so tief ist meine Seele.“ Aber auch das versteht er nicht.

Er scheint sich im Stehen … also so wie wenn der asiatische Stuhl nicht zu halten ist, trotzdem steigen wir langsam das enge Treppenhaus hinauf, von der Bühne ist hier oben fast nichts zu hören. Nur eine dumpfe Ahnung davon was da unten gesprochen wird. Dazwischen deplazierte Musikfetzen für die eigentlich der verantwortliche Regisseur mit mir gehen sollte, was nicht ist kann ja mal werden. Hier sind wir jedenfalls ungestört. Ist doch gut wenn man ungestört ist, oder? Der Typ schleicht vor mir her. Um ihn zu beruhigen frage ich ihn also diesmal bewusst wie er denn hieße und ich höre auch die Antwort. Er wär ein Peter, sagt er. Wie putzig. Sieht aus wie Bruce Lee oder Bami Goreng und nennt sich Peter. Ich hatte mal Freunde und Kameraden die so hießen, hier zählt das aber nicht. Das bringt niemand irgendwas und uns kein Stück voran. Um ihn weiter zu beruhigen singe ich ihm ein kölsches Lied vor: „Niemals geht man so ganz, ein Teil von dir bleibt hier.“ Wie wahr. Aber auch das scheint ihn nicht wirklich zu beruhigen, hat er irgendwie in den falschen Hals gekriegt, oder was. Oder es liegt daran, dass ich nicht so gut singen kann. Ich kenne aber Leute, die können sehr gut singen. Aber die sind jetzt nicht hier, also muss Peter mit mir und meinen Künsten vorlieb nehmen. Wir nähern uns der vierten Etage, da fängt der Kerl das Ausbüchsen an und schreit ein wenig, ich gebe ihm das Messer und er ist beeindruckt, das Gehen fällt ihm dann ein bisschen schwer, aber das ist nicht mein Problem. Wer sich in Gefahr begibt, der kommt drin um. Und der Krug geht solange zum Munde bis man bricht. Thats the way it is.

Endlich sind wir oben angekommen und treten durch die Metalltür hinaus auf den Schnürboden. Für den Theaterlaien sei das mal kurz erklärt. Der Schnürboden befindet sich ganz oben im Bühnenturm über der Bühne, circa so zwanzig Meter hoch und da laufen die Umlenkseile für das, was über der Bühne hochgezogen werden muss. Sei es Beleuchtung, aber vor allem Prospekte, Kulissenteile, so was eben. Und wenn wir in Physik aufgepasst haben, wissen wir auch, dass hier das Flaschenzugprinzip gilt. Eine Last halbiert ihr Gewicht, wenn das Zugseil über eine Rolle umgelenkt wird. Nur deshalb, und weil man das Hochzuziehende mit Gewichten kontert, kann man diese schweren Sachen überhaupt hochziehen ohne sich einen Ast zu tun.

 

Der Schnürboden besteht aus einem Stahlgitter und das Spannende ist, wenn man draufsteht kann man bis nach ganz unten gucken, uuuuuh. Mein neuer Freund Peter findet das auch beeindruckend und blutet stärker. Na ja, wer nicht auf sich achtet … Ich muss mich sicherlich auch jedes Mal überwinden um auf dieses Stahlgitter zu gehen, aber was Peter hier anfängt, zeugt von fernöstlicher Würdelosigkeit. Ich sage: „Der Thai hält jetzt einfach mal die Fresse.“ Deshalb erhält er kurz eine Splatter-Lektion, die er mit einem Gurgeln zur Kenntnis nimmt. Na, ich will doch nicht zu schnell sein, schön behutsam, wie bei gutem Sex, alle sollen was davon haben. Ich höre doch tatsächlich Textfetzen des heiligen William S., der dort unten vergewaltigt wird. Peter achtet gar nicht darauf. Er habe Schmerzen, sagt er. Ich bescheide ihn ruhig zu sein, die Schmerzen wären gleich vorbei, er solle sich nicht anstellen, offene Wunden täten eben weh. Ich lausche … wer schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost und Julia die Sonne … einen Moment halte ich inne, welch großes Wort. Julia ist die Sonne. Dann geht es weiter, aber ich verstehe jetzt nichts, obwohl ich Romeo und Julia doch eigentlich auswendig kenne. Es ist zu verhallt. Dann wieder ein Textfetzen, der klar an mein Ohr dringt: Und wenn ich küssend diese Wange … Ja, das ist es, das ist die wahre Liebe, nur schade, dass mein Gefährte Peter so gar kein Verständnis für Poesie zu haben scheint, erbärmlicher Wicht. Ich stoße nochmals zu. Applaus brandet auf. Bin für einen Moment irritiert, ist das jetzt wegen mir? Verbeuge mich auf alle Fälle kurz. Nee, kann nicht sein, die sehen mich ja gar nicht. Mir wird klar, dass das Blut von Peter mittlerweile doch reichlich heruntertropft auf die Bühne und das Publikum hält das für einen äußerst gelungenen Spezialeffekt. Doch warum Blut an dieser Stelle? Da ist kein Kämpfen und Bluten an der Stelle vorgesehen, und so langsam scheint einigen einiges klar zu werden.

Gelächter, Applaus, dann Schreie. Aber nicht Schreie aus dem Publikum, sondern Schreie von der Bühne. Die lahmen Provinzschauspieler sind aus ihrer Lethargie gerissen worden. Keine Hinrichtung wohlgesetzter Verse mehr. Ich überlege kurz. Jetzt müsste kommen: Weh mir. Wie passend. Dann bricht unten die Hölle los, die reine Panik. Wohl doch Zeit zu verschwinden. Peter will eh nicht mehr mit mir spielen. Er hat sich einer wunderbar endlosen Ohnmacht ergeben und sieht mich nochmal kurz aus seinen gebrochenen Augen an und macht dann seinen letzten Happs. Wirklich: happs und dann nochmals. Happs. Aber jetzt ist Schluss. Hätte sich Peter auch nicht träumen lassen als er heute Morgen hier anreiste. Frohgemut einen schönen Arbeitstag verbringen, na, nicht mein Problem. Ich kann mich nun wirklich nicht um alles kümmern, ich lasse Peter sanft auf den Boden gleiten. Er reagiert darauf mit einer finalen Blutung. Unten ist die Panik mittlerweile vollständig. Das Arbeitslicht ist angegangen und ich finde mich ganz schutzlos in gleißende Helligkeit getaucht. Was soll das? Das macht doch die ganze Stimmung kaputt. Ich mache mich dünne. Langsam und leise zur anderen Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Das bedeutet, dass ich dieses Stahlgitter komplett überqueren muss. Oh Gott, zum Glück bin ich schwindelfrei, schließlich klettere ich im Urlaub in den Alpen herum. Niemand begegnet mir auf meinem Abstieg. Ich halte das Messer in der Hand, bereit zuzustoßen. Die kommen aber anscheinend die andere Treppe hoch, die auf der anderen Seite der Bühne. So hatte ich mir das gedacht und so war das auch. Ich hatte den richtigen Riecher. Warum auch immer. Es ist so. Ich bin allein, auch unten im Flur ist niemand. Jetzt noch sechzehn Schritte vielleicht und ich bin zwar nassgeschwitzt, aber durch den Bühneneingang hinaus. Für Künstler, steht da geschrieben, und das ist ja auch richtig, ich bin ja schließlich auch ein Künstler und was für einer, ein Künstler der Nacht. Ein Künstler im Verborgenen. Es wird dauern, bis die Menschen erkennen welchen Wert mein Werk besitzt.

Zwischenspiel Ich

Ich stelle mir vor wie meine Mutter mit mir schimpft: „Du mit deinen Serienmördern. Immer hängst du mit denen rum.“ Und ich muss mich verteidigen: „Aber Mama, ich habe doch sonst keine Freunde“, und mein leider schon verstorbener Vater springt in die Bresche: „Er hat recht. Jeder Junge braucht ein gutes Messer und eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Dann macht er wenigstens keinen Unsinn.“

Schließlich sieht sie es ein und ich zitiere den guten alten Meat Loaf. Die Platte, die er vor hundert Jahren mit Musikern der E-Street-Band eingespielt hat: On a hot summer night. In einer heißen Sommernacht. Would you offer your throat to the wolf with the red roses? Gibst du deine Kehle dem Wolf mit den roten Rosen hin, und die Antwort ist: Yes! Ja! So soll es sein. Lese gerade „Die Libelle“ von John le Carré.

Er

Als Michael Kleinewetter am Morgen die Zeitung aufschlug, war er aufrichtig schockiert. Wirklich schockiert. Natürlich darüber, dass durch Einsparungen aus zwei lokalen Tageszeitungen mittlerweile eine geworden war. Das war eben der Zug der Zeit. Aber das, was im Theater passiert war und was mittlerweile für bundesweites Aufsehen gesorgt hatte, empfand er als förmlich unerträglich. Während eines Gastspiels von „Romeo und Julia“ war offensichtlich jemand auf dem Schnürboden grausam ermordet worden. Einige der schockierten Besucher hatten sich in psychologische Behandlung begeben müssen.

Der Mensch muss sehen um zu verstehen. Auch Michael Kleinewetter war ein visueller Mensch. Er liebte Schauplätze. Sie machten ihm das Geschehene verständlich. Nein, er gehörte nicht zu den Typen, die auf der Autobahn an Unfallstellen gafften. Aber er gehörte zu den Menschen, die sich lustvoll der Atmosphäre eines Schauplatzes hingeben konnten. Er würde niemals vergessen, wie er im Berliner Bendlerblock am Schreibtisch des Hitler-Attentäters Stauffenberg gesessen hatte, oder was er empfand, als er in Griechenland an den Thermopylen vorbeifuhr, der Stelle also, an der sich eine Handvoll Griechen der Übermacht persischer Krieger entgegenstellte und heroisch unterging. „Wanderer, kommst du nach Sparta, berichte den Lakedaimoniern, dass du uns hier liegen sahst wie das Gesetz es befahl.“ Kleinewetter beschloss das Unfassbare fassbar zu machen und das Theater zu besuchen. Falls er dort hineingelassen werden würde. Kleinewetter trat vor die Tür. Ein herrlicher später Oktobertag. Wolkenloser blauer Himmel. Angenehm kühl. Der große vergangene Sommer hatte auch hohe Luftfeuchtigkeit mit sich gebracht. Besonders im Mai und Juni hatte eine unangenehme Schwüle geherrscht, die Michael Kleinewetter nicht bekommen war. Er litt an Bluthochdruck und ihm wurde dann oft schummerig.

Aber davon konnte jetzt keine Rede sein, er fühlte sich gut und stark. Er öffnete die Holztür seiner Garage, die sich durch die nächtliche Kälte wieder etwas verzogen hatte und über den Kies schleifte. Die Tür schien sich missmutig zu wehren, gab dann aber mit einem Ruck nach. Das gab jedes Mal ein seltsames Geräusch, als sei die Tür erleichtert, dass die Tortur nun überstanden sei. Kleinewetter fluchte, wieder waren Katzen über sein Auto gelaufen, beziehungsweise schienen dort die Nacht verbracht zu haben und hatten ihre putzigen schlammverschmierten Pfoten auf dem Blech geparkt, um dann immer wieder vom Dach über die Frontscheibe auf die Motorhaube herunterzurutschen. Anscheinend ein lustiges Katzenspiel. Für einen Moment spürte Michael Kleinewetter eine dunkle Wut in sich aufsteigen. So fühlte er sich sonst nur, wenn er auf seinen Fahrten nach Köln auf der Autobahn bedrängt wurde.

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