Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche zu Robert Walser

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Es sind dies Versuche, durch die bewußte Übernahme der Rolle des Subalternen, durch die gewollte Flucht gleichsam ins Zentrum der Heteronomie hinein, das Prinzip der in der gesellschaftlichen Normalität erfahrenen Fremdbestimmung zur eigenen Moral zu machen, zu einer Moral des Dienstes und des Kleinseins. Die Intentionen, denen diese Moral zugrunde liegt, werden jedoch nie über eine längere Zeit hinweg verfolgt, und, wenn sie sich verwirklichen, legt Robert Walser die ihnen entsprechende Rolle bald wieder ab: Seine Anstellung als Diener auf dem Schloß in Oberschlesien beendet er nach wenigen Monaten und kehrt Ende des Jahres 1905 nach Berlin zurück. Die Leitvorstellung von einer ›provisorischen Existenz‹ bleibt für ihn weiterhin gültig.

An ihr orientieren sich auch die Protagonisten seiner drei Romane, die während seines Berliner Aufenthalts (1905-1913) entstehen und im Verlag Bruno Cassirer veröffentlicht werden. Simon, die Hauptfigur des ersten Romans »Geschwister Tanner« (1907) ist nahezu eine Inkarnation des Prinzips des Transitorischen. »Er tritt Stellungen an und gibt sie wieder auf (bei einem Buchhändler, einem Advokaten, einer Bank, einer Maschinenfabrik, als Diener in einem Haushalt), er verbindet sich mit Menschen (Frauen, seinen Geschwistern, zufälligen Bekanntschaften), die er dann wieder aus den Augen verliert, um ihnen vielleicht irgendwann wiederzubegegnen. Er gibt sich seiner jeweiligen Umgebung völlig hin, kann sich ihr aber auch ebenso vollständig entziehen, um sich einer neuen anzuverwandeln.«12 Die Protagonisten der beiden nachfolgenden Romane, die Walser ebenso deutlich wie Simon Tanner nach dem Muster seiner Erfahrungen agieren läßt, verabschieden sich jeweils am Ende des Textes von den Verhältnissen, auf die sie sich eingelassen haben. Der Abschied Josef Martis vom Hause Tobler am Schluß des Romans »Der Gehülfe« (1908) gilt einer niedergehenden bürgerlichen Welt. Der Unternehmer und Erfinder Tobler steht vor dem geschäftlichen und gesellschaftlichen Ruin, und Marti ist es nur noch darum zu tun, »zu Ende mit all diesen Dingen zu gelangen«. (V, 290) Einen solchen Abschied von der Sphäre des Bürgertums hat Jakob von Gunten, der ›Held‹ des gleichnamigen Tagebuchromans (1909) bereits hinter sich, als er in die Dienerschule Benjamenta eintritt. Aus ›gutem Hause‹ zu stammen gilt ihm nichts mehr. Seinem Vater, einem Großrat, ist er davongelaufen aus Furcht, »von seiner Vortrefflichkeit erstickt zu werden« (IV, 340); sein neues Ideal ist es, von »aller hochmütigen Tradition abzufallen« (IV, 379) und sich allein vom ›Leben‹ erziehen zu lassen. Eine Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Wunsches deutet sich jedoch erst am Schluß des Romans an, wenn Jakob beschließt, das Institut zu verlassen und mit Herrn Benjamenta auf eine Reise in ferne, unbekannte Länder zu gehen. Die letzten Abschiedsworte des Tagebuchs gelten dem Institut als dem Modell dessen, »was man europäische Kultur nennt« (IV, 490). Deren Verfall erscheint in der Auflösung der Dienerschule auf exemplarische Weise vollzogen. Einen verborgenen Wert dieser Kultur gibt es so wenig wie ein Geheimnis der ›inneren Gemächer‹ im Institut Benjamenta. Was sich Jakob von Gunten als eine vage Utopie in einer Traumsequenz in Aussicht stellt, ist ein Leben in der radikalen Distanz zur Sphäre des Kulturellen schlechthin, eine Distanz zum »Gedankenleben«, zu den »Überlegungen« (IV, 492).

Der tastende Entwurf einer solchen Utopie, in dem sich zum ersten Mal im Werk Robert Walsers eine antikulturelle Tendenz abzeichnet, ist sicherlich nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Erfahrungen zu sehen, die Walser in Berlin macht. Anfangs werden Hoffnungen auf ihn gesetzt; an Gelegenheiten, seine Kurzprosa in Zeitungen und Zeitschriften (darunter »Die Neue Rundschau«, »Die Zukunft«, »Die Schaubühne«) zu veröffentlichen, fehlt es ihm nicht. Sein Verleger Bruno Cassirer unterstützt ihn zudem über mehrere Jahre hinweg finanziell. Nachdem es jedoch nach dem Erscheinen des »Jakob von Gunten« endgültig deutlich wird, daß die von ihm verlegten Romane Walsers keinen Erfolg haben, stellt er seine Zuwendungen ein. Walser bleibt noch drei Jahre unter schwierigen Verhältnissen in Berlin und kehrt dann – im Frühjahr 1913 – in die Schweiz zurück.

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Es folgen Jahre der Isolation. Walser begreift seinen Mißerfolg in Berlin als persönliche Niederlage. »Ich bin vor einiger Zeit aus kalten ungünstigen Verhältnissen, ohne jegliche Zuversicht, ohne Glauben, krank im Innern, gänzlich ohne Zutrauen hieher gekommen. Mit der Welt und mit mir selber war ich verfeindet, entfremdet.« (III, 225) Bis 1920 lebt Walser in Biel, in einem Mansardenzimmer des Hotels »Blaues Kreuz«; obwohl in diesen Jahren einige Sammelbände mit Kurzprosa erscheinen, vermeidet er jeden engeren Kontakt mit dem, was er als literarisches Leben kennengelernt hat, verweigert er nahezu jede Berührung mit der Außenwelt: »In die Gesellschaft, d.h. dorthin, wo sich die Welt zusammenfindet, die die Welt bedeutet, ging ich nie. Ich hatte dort deshalb nichts zu suchen, weil ich erfolglos war. Leute, die unter Leuten keinen Erfolg finden, haben bei Leuten nichts zu suchen.« (III, 102) Diese resignativen Sätze sind zu lesen auf dem Hintergrund einer sich während der Bieler Jahre ständig verschärfenden materiellen Notsituation. Immer wieder muß Robert Walser die Verleger und Redakteure, die sich noch zur Veröffentlichung seiner Texte entschließen, um Vorschüsse angehen. Am 8. 5. 1919 schreibt er an den Verlag Rascher, in dem die Prosasammlung »Seeland« erschienen ist: »Wenn ich dieses Jahr noch die Dichterexistenz aufrechterhalten kann, will ich froh sein, niemandem zürnen und hernach vom Schauplatz, abtreten, d.h. in eine Stellung gehen und in der Masse verschwinden. Ich habe in den sechs Jahren meines hiesigen Aufenthaltes das Menschenmögliche an Sparsamkeit getan. Ich wünsche einem jeden, der mir das nachmachen will, viel Erfolg.«13

In dem autobiographischen Text »Das letzte Prosastück« (VII, 70-76) nennt Walser erneut die Konsequenz, die seine Erfolglosigkeit ihm nahelegt: »Ich glaube, das beste wird sein, wenn ich mich in eine Ecke setze und still bin« (VII, 76). Diese Tendenz zum Aufgeben resultiert aus der sich immer wiederholenden Erfahrung des Scheiterns gegenüber den Vermittlungs- und Bewertungsinstanzen von Literatur, gegenüber den – wie es heißt – »Herren Dirigenten« (VII, 73), den »Wölfe[n]« (VII, 74), den »Übermenschen« und »Diktatoren« (VII, 76). Das Verhältnis, das zwischen diesen Instanzen und dem ästhetisch handelnden Subjekt herrscht, ist das einer unaufhebbar erscheinenden Hierarchie: »Einerseits Riesen, anderseits Zwerge. Hier Herren, dort Knechte« (VII, 73). Die einzig mögliche Beziehung zwischen beiden ist die im Zeitalter des Kapitalismus ›normale‹ – die zwischen dem Unternehmer und dem Lohnabhängigen. Aufgabe des Schriftstellers ist es, »herzustellen und wegzugeben, anzufertigen und fortzuschicken« (VII, 72), »anderer Leute Fächer, Löcher, Lagerhäuser« mit »Stoffen und Vorräten« (VII, 72f.) zu füllen und der Aneignung der im Text zur Form gewordenen ästhetischen Subjektivität durch die literarische Agentur und den literarischen Markt ohnmächtig zuzusehen.

Dies Resümee aus den Erfahrungen der Abhängigkeit erweist die Alternative, vor die sich der junge Walser gestellt sah und auf die er sich nicht einlassen wollte – hier die Rolle des Lohnabhängigen, dort die des autonomen Schriftstellers – als fiktiv. Die Autonomie der Schriftstellerexistenz hat sich als Schein erwiesen. Walser ist als Autor der kleine Commis geblieben. Seine Unfähigkeit, sich an den Markt der kulturellen Waren anzupassen, Texte zu liefern, die »den Wünschen entsprechen« und »hübsch in den Rahmen passen« (VII, 72), ist sanktioniert worden wie die Unbotmäßigkeit, die man dem kleinen Angestellten auf Dauer nicht nachsieht. Erfolglosigkeit ist der Name dieser Sanktion, der die Verantwortung für das Scheitern dem Betroffenen zuweist. Dennoch bleibt »Das letzte Prosastück« nicht das letzte. Noch resigniert Walser nicht endgültig.

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1920 zieht er nach Bern und nimmt eine Stelle beim Staatsarchiv an. Schon nach ungefähr sechs Monaten wird er nach Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten entlassen. Bis zu seiner Einlieferung in die Nervenheilanstalt Waldau im Januar 1929 lebt Walser ein Leben an der Peripherie der bürgerlichen Existenz. Seine Neigung zum Alkohol nimmt zu; ständig wechselt er das Logis; mit Schriftstellerkollegen zerstreitet er sich; immer mehr sucht er die Anonymität der Wirtshäuser, der kleinen Varietés, der Straßen und Plätze, der einfachen Restaurants. Biographiewürdig im gängigen Sinne sind diese letzten Jahre in Freiheit nicht.

Walsers literarische Produktivität hält während der Berner Zeit unvermindert an, und es ist vor allem die gesellschaftliche Funktion ästhetischer Subjektivität, die zum Gegenstand seiner Texte wird. Das Fragment des Romans »Theodor« (1921), und das 1925 entstandene Konzept des »Räuber«-Romans bieten hierfür ebenso Belege wie die kurzen Prosastücke aus den Jahren 1920-1929. Zugleich signalisiert die Formbestimmtheit der späten Kurzprosa Walsers endgültigen Bruch mit der Tradition erzählender Literatur und den in und von ihr herausgebildeten ästhetischliterarischen Konventionen und Wertkategorien. Kriterien wie Einheitlichkeit, Geschlossenheit, Stringenz der Handlungsführung, klare Zuordnung von akzidentiellen und essentiellen Erzählelementen sind auf die späten Texte nicht anwendbar. An ihre Stelle tritt das Prinzip einer bewußten Diskontinuität des Erzählens, ja einer gewollten Destruktion des Erzählkontinuums. Jede Form einer sich objektiv gebenden Beschreibung wird aufgegeben zugunsten der Montage von Vermutungen, Reflexionen, vagen Bezeichnungen, Assoziationen, Umschreibungen, in denen sich immer aufs neue das problematisch gewordene Verhältnis des Schreibenden zu der ihn umgebenden Welt verdeutlicht. War die Krise der Darstellbarkeit von Realität in der frühen und mittleren Schaffensperiode Walsers Movens einer weithin spielerischen Ironie, die im Arrangement sprachlicher Versatzstücke ihren Ausdruck fand, so ist sie nun zur Krise des Selbstverständnisses der ästhetischen Subjektivität geworden.

 

Das Bewußtsein dieser Krise ist auch dem Werk Franz Kafkas immanent, das der Sekundärliteratur nicht zu Unrecht als nahezu einziges dem Robert Walsers vergleichbar erschienen ist. Tatsächlich bieten sich dem Vergleich auf den ersten Blick eine Reihe von stilistischen und motivischen Parallelitäten und Affinitäten. Walser wie Kafka war die Sprache der Bürokratie bestens bekannt; ihre spezifische Weise der Präzision findet sich in vielen Texten beider Autoren wieder. Gemeinsam war ihnen jener ›mikroskopische Blick‹14, der die umgebende Dingwelt im Text fremd werden läßt und sie unter dem Zeichen allgemeiner, in gesellschaftlichen Verhältnissen sich gründender Entfremdung zeigt. Der für viele Texte Kafkas konstitutive Zweifel an der Benennbarkeit von Realität findet sich als Strukturmerkmal vor allem im Spätwerk Robert Walsers wieder. Dem sprechenden Ich der Berner Prosa scheint sich die Wirklichkeit immer mehr zu entziehen, ohne daß eine Hoffnung auf die Realität der Sprache und der Literatur ihren Verlust noch kompensieren könnte: »Verhandlungen vermindern ihren Gegenstand, saugen die Quellen nach und nach auf.« (III, 430) Neben solchen strukturellen Affinitäten, die sich in letzter Instanz vergleichbaren sozialen Erfahrungen verdanken, lassen sich bei einigen Texten Beziehungen aufzeigen, die – und zwar durchweg von seiten Franz Kafkas – als gewollt interpretiert werden können. So scheint Kafka z.B. – wie Karl Pestalozzi in seinem Aufsatz über »Franz Kafkas Beziehung zum Werk Robert Walsers« aufgezeigt hat15 – seinen Text »Auf der Galerie« bewußt als »eine Art Kontrafaktur zu Walsers »Ovation«16 angelegt zu haben. Weitere Beispiele ließen sich nennen. Die in ihnen erkennbaren Gemeinsamkeiten resultieren jedoch nicht – wie bisweilen auf Grund der Wertschätzung, die Franz Kafka den Texten Walsers entgegenbrachte, angenommen wurde – aus einem tiefgreifenden Einfluß des walserschen Werkes auf Kafka. Eine solche These ließe sich – wie Pestalozzi in der genannten Untersuchung deutlich gemacht hat – nur um den Preis weitgehender Spekulation belegen. Mehr noch: Die Differenzen, ja das Trennende zwischen Walser und Kafka lassen sich bei eingehender Analyse gerade »dort am deutlichsten fassen, wo thematische Ähnlichkeiten vorliegen«.17

Die notwendige Vorsicht bei Vergleichen, denen es um Belege für einen mehr oder minder deutlichen Einfluß Walsers auf Kafka zu tun ist, sollte jedoch nicht dazu führen, Versuche zur Analyse der Genesis der beiden Autoren gemeinsamen Erfahrung des Sich-Entziehens der objektiven Welt von vornherein ins Unrecht zu setzen.

Angesichts dieser Erfahrung definiert Walser seine Prosastücke »als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte« (X, 323), einer Geschichte, die nichts anderes darstellt als einen sich immer fortsetzenden Prozeß der Selbstvergewisserung des schreibenden Ichs. Der sich aus fragmenthaften Versuchen zur Rekonstruktion möglicher Identität zusammensetzende »Roman«, wie Walser diesen Prozeß ironisch nennt, »bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können« (X, 323). Die Frage nach dem Kunstcharakter seines ›zerschnittenen Ich-Buchs‹ hat Walser wenig betroffen: »Die Frage ›Ist‘s nicht mehr Kunst, was du treibst?‹ schien mir mitunter sachte die Hand auf die Schulter zu legen. Ich durfte mir jedoch sagen, daß sich einer, der mit Bemühtbleiben weiterfährt, nicht von Forderungen behelligen zu lassen braucht, deren idealistische Last ihn beunlustigte.« (X, 431) Dies »anti-ästhetische kreative Ethos«18 – wie George C. Avery es genannt hat – glaubte ein Teil der Sekundärliteratur Robert Walser nicht verzeihen zu dürfen.

Nicht selten ist die späte, vor allem die in den Berner Jahren entstandene Prosa als bloßes Symptom eines fortschreitenden psychischen Verfalls ihres Autors eingeschätzt worden. Man hat sie mit Beispieltexten aus psychiatrischen Lehrbüchern verglichen; ihr wurden »Weitschweifigkeit, Denkzerfahrenheit, Autismus, Negativismus«19 attestiert. Man vermißte in ihr »den deutlichen Willen zur einheitlichen Gestaltung und zur Mitteilung«20, interpretierte sie als Spiegelbild eines »inhaltlosen, zusammenhanglosen Lebens, dem jede Wirklichkeit und jede Pflichterfüllung fehlt«.21 – Solche sich an der Norm des natürlich-einheitlich Gestalteten orientierenden ›Befunde‹ setzen voraus, was kaum je ernsthaft in Zweifel gezogen wurde, – daß die Einlieferung Robert Walsers in die Nervenheilanstalt als eindeutiger Beleg für den Ausbruch einer Geisteskrankheit gelten kann.

Schon 1966 hat Jochen Greven darauf hingewiesen, daß die ›Krankheit‹ Walsers »kein typischer und eindeutiger Fall« ist.22 Das im Walser-Archiv in Zürich liegende Material zum Verfahren der Einweisung in die Anstalt und zur dort aufgezeichneten Krankheitsgeschichte ist dazu angetan, diesem Hinweis und manchen Zweifeln, die er impliziert, einiges Gewicht zu geben.23 Aus ihm ergibt sich als erstes der Eindruck einer reibungslosen, unauffälligen Schnelligkeit des Verfahrens: Zwei ältere Damen, bei denen Walser in Bern wohnt, melden der Schwester des Schriftstellers, Lisa Walser, den ›Ausbruch der Krankheit‹; als Symptome nennen sie Walsers Schlaflosigkeit und sein allgemein auffälliges Verhalten. Auf diese Nachricht hin bringt Lisa Walser den Bruder zu dem Psychiater Walter Morgenthaler, der noch am selben Tag, am 24. 1. 1929, die Einlieferung in die Nervenheilanstalt Waldau bei Bern verfügt. Morgenthalers zwei Tage danach verfaßter »Ärztlicher Bericht über Herrn Robert Walser, Schriftsteller« besteht aus sieben Sätzen. Die Analyse eines Krankheitsbildes enthält er nicht. Aus ihm geht hervor, daß Walser mit der Entscheidung des Psychiaters nicht einverstanden war und den Wunsch äußerte, zu seiner Schwester zu ziehen. Dazu heißt es in dem Bericht: »Da dies aus äussern Gründen nicht angezeigt war, und da ich zudem nach kurzem zu der Ueberzeugung kam, dass Herr Walser in seinem gegenwärtigen Zustand die geschlossene Anstalt dringend und so rasch als möglich nötig hat, wird er an die Waldau gewiesen.«

Zieht man in Erwägung, daß Morgenthaler zumindest zum Teil mit der Familie Walser bekannt war, so liegt die Vermutung nicht fern, daß es nicht ausschließlich medizinische Kriterien waren, auf Grund derer Robert Walser für den Rest seines Lebens (wie sich zeigen wird) in die Anonymität der Nervenheilanstalt gewiesen wurde. Daß eine gewisse Schonung, Rücksichtnahme, vielleicht auch Gefälligkeit gegenüber der Schwester und der Familie zumindest als die Entscheidung zusätzlich motivierende Faktoren in Betracht kommen, erhellt aus Äußerungen Lisa Walsers, die sich in den in der Waldau geführten Krankenblättern wiedergegeben finden: Walser habe sich ihr gegenüber »unanständig« verhalten; er sei »sexuell überhaupt nicht normal«, sei zudem immer »ein großer Egoist« gewesen, habe »nur seinem Vergnügen gelebt, nichts gearbeitet«.

Aus den Berichten über das Verhalten Walsers in der Anstalt läßt sich ebensowenig ein deutliches Bild seiner psychischen Verfassung gewinnen wie aus dem Kurzgutachten des einweisenden Arztes. Das Fehlen eines jeden Vermerks in der Krankengeschichte darüber, daß Walser seiner schriftstellerischen Arbeit in der Waldau fast in gewohnter Weise nachging, wirft zudem ein bezeichnendes Licht auf die Gegebenheiten in der Waldau.

Zweimal äußert Robert Walser den Wunsch, die Anstalt wieder zu verlassen: das erste Mal einen Monat nach seiner Einlieferung, das zweite Mal, als seine Überführung in die Anstalt Herisau im Kanton Appenzell-Außerrhoden bevorsteht. Auf diesen Wunsch geht man nicht ein. Bei der Überführung (1933), an deren Zustandekommen die Schwester wiederum beteiligt ist, wird Walsers Widerstand von den Wärtern mit Gewalt gebrochen. Von diesem Augenblick an bis zu seinem Tod am 25. 12. 1956 hat Walser – sieht man von einigen Briefen ab – nichts mehr geschrieben.

Angesichts der Zweifel, wie sie sich aus dem bisher zugänglichen, einschlägigen Material ergeben, erscheint die Frage berechtigt, ob die Internierung Robert Walsers in der Nervenheilanstalt nicht als Reaktion auf die Symptome seines sozial abweichenden Verhaltens verstanden werden muß. Seine Deviation von der gesellschaftlichen Norm hat Walser – vor allem in seiner späten Schaffensperiode – in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Rolle des Schriftstellers gesehen. Schriftsteller sein – so heißt es im »Tagebuch« – Fragment von 1926 – bedeutet die »Rolle eines Außenseiters« (VIII, 63) spielen zu müssen. Vor dem Anspruch gesellschaftlicher Funktionalitätsvorstellungen erscheint der Schriftsteller als das »denkbar unnützeste, unbrauchbarste Möbel« (VIII, 104f.); seine Existenz ruft – wie es im Fragment des »Theodor«-Romans heißt – »Beunruhigung« hervor; sie ist der Gesellschaft »etwas Unangenehmes, irgend etwas, was man nicht willkommen heißen kann« (VIII, 102). Die provokatorische Wirkung seines eigenen ›spaßhaften Existierthabens‹ hat Robert Walser in einer Art von ironischem Nekrolog auf sich selbst in dem späten Prosastück »Schnori«24 beschrieben:

Sein spaßhaftes Existierthaben gab ihnen zu mancherlei Betrachtungen nahrhaften Anlaß, und so ungern sie‘s vielleicht taten, mußten sie sich von Zeit zu Zeit sagen: »Ja, er war einer, obgleich er bloß den weiter keinerlei Erheblichkeit verratenden Namen Schnori trug.« Gern hätte man über ihn wegblicken mögen, aber man brachte es nicht fertig. Noch immer stand er mit der wie im lächelnden Schlafzustand hervorgebrachten gesammelten Sammetheit seines Werkes, die etwas Kostbares blieb, da. Umsonst sprach man: »Schnori, geh weg.« Er unterließ dies. War das artig von ihm? (IX, 363)

Anmerkungen

Text

Robert Walser: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Jochen Greven (Bd. 11 von Robert Mächler, Bd.12/1 von Jochen Greven unter Mitarbeit von Martin Jürgens). Bd. 1-12/2. Genf und Hamburg 1966 ff. (Die in den runden Klammern stehenden Zitatnachweise beziehen sich auf diese Ausgabe. Die römischen Ziffern bezeichnen jeweils den Band, die arabischen die Seiten.)

Biographie

Robert Mächler: Das Leben Robert Walsers. Ene dokumentarische Biographie. Genf und Hamburg 1966.

Literatur

George C. Avery: Inquiry and Testament. A Study of the Novels and Short Prose of Robert Walser. Philadelphia 1968. Hans Bänziger: Robert Walser. In: Bänziger: Heimat und Fremde, Ein Kapitel »Tragische Literaturgeschichte« in der Schweiz: Jakob Schaffner, Robert Walser, Albin Zollinger. Bern 1958, S. 63-106.

Lothar Baier: Robert Walsers Landschäftchen. Zur Lyrik Robert Walsers. In: Text und Kritik, H. 12, o. J. [1966], S. 22-27. Walter Benjamin: Robert Walser. In: Benjamin: Schriften. Hrsg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus. Bd. 2. Frankfurt/M. 1955, S. 148-151. Hans Udo Dück: Strukturuntersuchung von Robert Walsers Roman »Der Gehülfe«. München, Phil. Diss. 1968. [Masch. vervielf.]

Karl Joachim Wilhelm Greven: Existenz, Welt und reines Sein im Werk Robert Walsers. Versuch zur Bestimmung von Grundstrukturen. Köln, Phil. Diss. 1960. [Masch. vervielf.] Jochen Greven: Robert Walser-Forschungen. Bericht über die Edition des Gesamtwerks und die Bearbeitung des Nachlasses mit Hinweisen auf Walser-Studien der letzten Jahre. In: Euphorion 64 (1970), S. 97-114.

Jochen Greven: Figuren des Widerspruchs. Zeit- und Kulturkritik im Werk Robert Walsers. In: Der Deutschunterricht 23 (1971), Beiheft l, S. 93-113.

Hans G. Helms: Zur Prosa Robert Walsers. In: Robert Walser, Basta. Prosastücke aus dem Stehkragenproletariat. Hrsg. von Hans G. Helms. Köln 1970, S. 5-33.

Hans Holderegger: Robert Walser. Eine Persönlichkeitsanalyse anhand seiner drei Berliner Romane (Philologische Studien und Quellen, Heft 69). Berlin 1973.

Martin Jürgens: Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit. Untersuchungen zur Prosa. Kronberg/Ts., 1973.

Christopher Middleton: The Picture of Nobody. Some Remarks on Robert Walser with a Note on Walser and Kafka, In: Revue des langues vivantes 24 (1958), S, 404-428.

Robert Musil (Rez.): Robert Walser, Geschichten. Leipzig 1914. In: Die Neue Rundschau 25 (1914), S. 1167-1169.

Nagi Naguib: Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur. München 1970.

 

Karl Pestalozzi: Nachprüfung einer Vorliebe. Franz Kafkas Beziehung zum Werk Robert Walsers. In: Akzente 13 (1966), S. 322-344.

Gerhard Piniel: Robert Walsers »Geschwister Tanner«. Zürich 1968.

Dierk Rodewald: Robert Walsers Prosa. Versuch einer Strukturanalyse. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1970.

Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. St. Gallen o. J. (1957).

Christoph Siegrist: Robert Walsers kleine Prosadichtungen. In: Germ.-Rom. Mschr. 17 (1967), H. 1, S. 78-97.

Felix Karl Strebel: Das Ironische in Robert Walsers Prosa. Eine typologische Untersuchung stilistischer und struktureller Aspekte und Tendenzen. Zürich, Phil. Diss. 1971. [Masch. Vervielf.] Martin Walser: Alleinstehender Dichter. Über Robert Walser. In: Walser: Erfahrungen und Leseerfahrungen. Frankfurt/M. 1965, S. 148-154.

Nachweise

1 Zur Kritik dieses Begriffs der literarischen Moderne siehe: Helmut Kreuzer: Zur Periodisierung der »modernen« deutschen Literatur. In: Basis, Bd. 2, Frankfurt/M. 1971, S. 7-32.

2 Martin Walser: Alleinstehender Dichter. Über Robert Walser. In: Der Monat, 16. Jg., Nr. 195,1964, S. 37 ff.

3 Vgl. dazu das Prosastück »Das erste Gedicht« (VI, 279-281).

4 Lothar Baier: Robert Walsers Landschäftchen. Zur Lyrik Robert Walsers. In: Text und Kritik, H. 12, o. J. [1966], S. 24.

5 Friedrich Tomberg: Politische Ästhetik. Darmstadt und Neuwied 1973, S. 56.

6 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1956, S. 153.

7 Zitiert nach Robert Mächler: Das Leben Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie. Genf und Hamburg 1966, S. 57.

8 Vgl. Mächler: Das Leben Robert Walsers, S. 56.

9 Mächler: Das Leben Robert Walsers, S. 68.

10 Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg 1955, S. 686.

11 Ebd., S. 686 f.

12 Karl Joachim Wilhelm Greven: Existenz, Welt und reines Sein im Werk Robert Walsers. Versuch zur Bestimmung von Grundstrukturen. Köln, Phil. Diss. 1960 [Masch. vervielf.], S. 24.

13 Zitiert nach Mächler: Das Leben Robert Walsers, S. 139.

14 vgl. in diesem Band den Aufsatz von Heinz Hillmann über Franz Kafka, S. 285 ff.

15 Karl Pestalozzi: Nachprüfung einer Vorliebe. Franz Kafkas Beziehung zum Werk Robert Walsers. In: Akzente 13 (1966), S, 322-344.

16 Pestalozzi, a. a. O., S. 332.

17 Ebd.

18 George C. Avery: Inquiry and Testament. A Study of the Novels and Short Prose of Robert Walser. Philadelphia 1968, S. VIII (Vorwort).

19 Hans Bänziger: Heimat und Fremde. Ein Kapitel »Tragische Literaturgeschichte« in der Schweiz. Bern 1958, S. 103.

20 Gerhard Piniel: Robert Walsers späte Prosa. In: Schweizer Monatshefte, 46. Jg., H. 8, 1966, S. 763.

21 Nagi Naguib: Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur. München 1970, S. 194.

22 S. Jochen Grevens Nachwort zu Bd. VII der Gesamtausgabe, S. 394.

23 Eine eingehende Interpretation dieses Materials findet sich in Martin Jürgens: Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit. Untersuchungen zur Prosa. Kronberg/Ts. 1973, S. 181 ff.

24 »Schnori«: mundartl. Bezeichnung für »Schwätzer«.

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