Das unsichtbare Netz des Lebens

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Epigenetik
Die (unterschätzte) Macht der Epigenetik

Dass alle Eigenschaften eines Lebewesens (Phänotyp) nur von seinen ererbten Genen abhängen (Genotyp), gilt mittlerweile als überholt. Denn sogenannte epigenetische Prozesse bestimmen maßgeblich darüber, ob und in welchem Umfang die Information eines Gens überhaupt abgelesen werden kann (Abbildung 2). Veränderungen an der DNA-Doppelhelix unseres Erbgutes (vor allem durch DNA-Methylierung und Histonmodifikation) sind hierfür die Ursache. Im Kontext dieses Buches ist von besonderer Bedeutung, dass diese epigenetischen Modifikationen (auch als »Epimutationen« bezeichnet), bei denen sich die Buchstabenreihenfolge des DNA-Stranges selbst nicht verändert, eindeutig von Umweltfaktoren abhängig sind und über mehrere Generationen (!) weitergegeben werden können.1 So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die Ernährungssituation von Großvätern (väterlicherseits) in deren kindlicher Entwicklungsphase mit der Gesamtsterblichkeit und insbesondere mit der Krebssterblichkeit ihrer männlichen Enkelkinder zusammenhängt.2

Die Ursache für derartige Phänomene mit weitreichender Bedeutung (die Ernährung des Großvaters bestimmt die Lebenserwartung des Enkels) liegt in der epigenetischen Veränderung der großväterlichen Gene in Abhängigkeit von der damaligen Ernährungslage. Im selben Jahr wurde sogar über eine epigenetische Vererbung von Auffälligkeiten frühkindlich traumatisierter Mäuse an deren Nachkommen berichtet, wobei der Effekt sogar noch in der Urenkelgeneration (vierte Generation!) nachweisbar war.3

Sehr wahrscheinlich können aber auch positive Einflüsse und Erlebnisse der Elterngeneration über epigenetische Mechanismen auf deren Nachkommen vererbt werden. Vor allem die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft und ihr psychisches Wohlergehen, aber auch akustische Eindrücke wie Musik und eine beruhigende Stimmlage wirken sich auf eine positive epigenetische Prägung des ungeborenen Kindes aus. Die Folgen halten ein Leben lang an und wirken sich sogar auf die Folgegeneration aus! Keine Esoterik, sondern Erkenntnisse der aktuellen epigenetischen Forschung.

Abbildung 2: Epigenetische Mechanismen werden von unterschiedlichsten Faktoren und Prozessen wie z. B. Embryonalentwicklung, Einflüssen im Kindesalter, Umweltchemikalien, Arzneimittel, Ernährung und Lebensalter beeinflusst. Eine DNA-Methylierung tritt auf, wenn Methylgruppen (aus der Nahrung) an den DNA-Strang binden und dadurch Gene aktivieren oder unterdrücken können. Histone sind Proteine, auf denen die DNA aufgewickelt vorliegt. Modifikationen dieser Histone (Histon-Modifikation) können darüber bestimmen, ob einzelne Gene oder ganze Gengruppen abgelesen (transkribiert) werden können oder nicht. Alle diese Faktoren und Prozesse können sich auf die menschliche Gesundheit auswirken, was unter anderem zu Krebs, Autoimmunerkrankungen, psychischen Störungen oder Diabetes führen kann. (Abbildung: National Institutes of Health 2005, Übersetzung durch den Autor). http://commonfund.nih.gov/epigenomics/figure

Ebenso aufsehenerregend war die Entdeckung, dass anhaltender väterlicher Stress bei Mäusen über sogenannte microRNAs (kurze, nicht-codierende Fragmente von Nukleinsäuren) in den Spermien an die Nachkommen weitergegeben, also gewissermaßen »vererbt« wurde.4 MicroRNAs und deren Bedeutung für unzählige biologische Phänomene, wie etwa die Entstehung von Krankheiten, sind erst während der letzten Jahre zu einem überaus spannenden Forschungsthema geworden. Wir werden ihnen später noch etwas ausführlicher begegnen. An dieser Stelle können wir jedenfalls festhalten, dass Kinder offenbar das Trauma ihrer Eltern gewissermaßen »empfinden« können, ohne dieses selbst erlebt haben zu müssen. Epigenetische Prozesse sind hierfür die Ursache.

Unstrittig ist, dass sich epigenetische Prozesse, auch wenn sie noch so gering sind, über Ei- und Samenzellen natürlich auch auf die evolutionäre Entwicklung von Organismen auswirken, auch wenn jahrelang gepredigt wurde, dass dies nur unsere ca. 23 000 Gene vermögen. Epigenetische Prozesse wie DNA-Methylierung, Histon-Modifikation und microRNAs sind die Schnittstelle zu unserer Umwelt, egal ob es sich um emotionale oder (bio)chemische Einflüsse handelt. Die Wissenschaft beginnt deren Bedeutung zunehmend zu verstehen.

Unsere Gene sind also nicht unser Schicksal, sondern werden von der Umwelt an- und abgeschaltet. Dabei hat nicht nur die materielle Umwelt Bedeutung, sondern zu einem beträchtlichen Anteil auch das soziale Umfeld. Gesundheit und Krankheit können niemals vollständig verstanden werden ohne das psychoemotionale Netzwerk des Homo sapiens. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Epigenetikforschung haben uns gezeigt, dass es vor allem Umwelteinflüsse aller Art sind, die darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang unsere Gene aktiv sind. Es wäre allerdings falsch, zu glauben, dass unsere Gene mit dem Risiko der Entwicklung einer chronischen Krankheit nichts zu tun haben. Sie haben sicher einen Einfluss, allerdings einen viel geringeren, als wir lange dachten.

DOHaD – Manche Ursprünge von Gesundheit und Krankheit liegen in der frühen Entwicklung

DOHaD ist die Abkürzung für die englische Bezeichnung Developmental Origins of Health and Disease. Diese medizinische Forschungsrichtung beschäftigt sich in Verbindung mit der Epigenetik mit der Rolle der pränatalen und perinatalen Exposition gegenüber verschiedensten Umweltfaktoren und ihrer späteren Bedeutung für die Entwicklung von Krankheiten im Erwachsenenalter, und dies über Generationen hinweg. Eine große Rolle spielt dabei, neben der Wissenschaft der Epigenetik, das Phänomen der sogenannten Entwicklungsplastizität (englisch: developmental plasticity) von Organismen. Darunter versteht man die Eigenschaft bzw. Fähigkeit von Lebewesen, unter verschiedenen Umweltbedingungen – trotz gleichbleibender genetischer Ausstattung – ihr morphologisches Erscheinungsbild und/oder ihre physischen Eigenschaften individuell an die vorherrschenden Umweltbedingungen anzupassen. Dazu gehören auch Veränderungen der Nervenverbindungen während der Embryonalphase. Während also die Gene gleich bleiben, verläuft die Entwicklung in Abhängigkeit von Umweltfaktoren plastisch, um »besser« mit den neuen Gegebenheiten umgehen zu können.

Es mag brutal klingen, aber die vielfältigen Umweltbedingungen, denen wir vom Zeitpunkt der Befruchtung an und während der ersten Lebensjahre ausgesetzt sind, bestimmen in hohem Maße, wie wir in späteren Lebensjahren sterben werden.5

DOHaD ist ein multidisziplinäres Forschungsfeld, das untersucht, wie Faktoren in unserer Umwelt, insbesondere während kritischer Entwicklungsphasen, die Fähigkeit eines Organismus verändern, mit dem späteren Leben fertigzuwerden.

Die ersten diesbezüglichen Erkenntnisse erlangte man im Zuge der medizinischen Untersuchung und epidemiologischen Auswertung von Erwachsenen, die während des sogenannten niederländischen Hungerwinters der Jahre 1944/45 zur Welt kamen. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges wurden Regionen der Niederlande durch eine Blockade der Deutschen von der Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Aufgrund der in der Folge einsetzenden Hungersnot fanden geschätzte 18 000 bis 22 000 Menschen den Tod. Die Kinder von überlebenden Müttern wurden in den darauffolgenden Jahrzehnten untersucht. Das Ergebnis erstaunte die Fachwelt.

In dieser medizinischen Langzeitstudie fand man heraus, dass eine Hungerphase während der pränatalen Entwicklung die körperliche und geistige Entwicklung eines Menschen während seines gesamten späteren Lebens prägt. Und nicht nur das, die Auswirkungen fanden sich auch noch in der nachfolgenden Generation.

Die ersten Auswertungen der umfangreichen Daten begannen bereits in den 1960er-Jahren in Verbindung mit militärischen Eignungsuntersuchungen der im letzten Kriegsjahr geborenen Männer. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurden im Zuge der bis heute andauernden Dutch Famine Birth Cohort Study immer wieder Auswertungen durchgeführt.6

Ein wesentliches Ergebnis war die Erkenntnis, dass die gesundheitlichen Auswirkungen maßgeblich davon abhingen, in welchem Entwicklungsstadium sich der jeweilige Embryo befand, als die Mutter unterernährt war. So kamen Kinder, deren Entwicklung während des ersten Trimesters der Schwangerschaft durch die Hungersnot beeinträchtigt wurde, häufiger zu früh zur Welt. Jene männlichen Individuen, die sich zum Zeitpunkt der Hungersnot in der ersten Hälfte der pränatalen Entwicklung befanden, wiesen zudem ein höheres Risiko auf, als junge Männer übergewichtig zu sein, als Gleichaltrige, die während der Embryonalentwicklung davon nicht betroffen waren.

Später fand man heraus, dass auch Frauen, deren erste Hälfte der vorgeburtlichen Entwicklung auf die Monate der Hungersnot fiel, ein höheres Körpergewicht aufwiesen als davon nicht betroffene Frauen. Die Männer und Frauen zeigten zudem höhere Cholesterinspiegel mit einem schlechteren Verhältnis zwischen HDL- und LDL-Cholesterin. In der Folge wurde neben einer insgesamt erhöhten Sterblichkeit auch ein erhöhtes Risiko festgestellt, psychische Krankheiten, Störungen des Zuckerstoffwechsels, Veränderungen in der Blutgerinnung, erhöhte Stressanfälligkeit, koronare Herzkrankheit sowie Lungen- oder Nierenprobleme zu entwickeln. Frauen wiesen zudem ein erhöhtes Risiko auf, an Brustkrebs zu erkranken.7

 

Die Auswirkungen der Hungersnot waren in dieser Studie insgesamt weitgehend unabhängig von der Größe bei der Geburt, was darauf hindeutet, dass eine negative Programmierung auch unabhängig von der Körpergröße erfolgen kann.

Selbst die Kinder der Personen, die während ihrer embryonalen Entwicklung unter der Hungersnot litten (also die Enkelkinder der Kriegsmütter), waren bereits als Säuglinge öfters übergewichtig und hatten häufiger gesundheitliche Probleme als Vergleichspersonen.8

Die Erklärung für dieses generationsübergreifende unsichtbare Netzwerk ist relativ banal und liegt in der sehr frühen Entwicklung von Eizellen. Diese werden nämlich bereits zum Zeitpunkt der embryonalen Entwicklung angelegt. Wir stammen somit, vereinfacht gesagt, von einer Eizelle ab, die schon während der Schwangerschaft unserer Großmutter angelegt wurde. Es verhält sich also ein bisschen so wie bei einer russische Matrjoschka oder Babuschka (falls diese ineinander geschachtelten Puppen heute überhaupt noch jemand kennt).

Insgesamt haben die zahlreichen Studien, die aus diesem ungeplanten menschlichen Experiment hervorgingen, deutlich gezeigt, dass Stress durch Nahrungs- und Nährstoffmangel in der Gebärmutter, der während der Fetalperiode zu einem nicht optimalen Wachstum führt, im späteren Leben tiefgreifende gesundheitliche Auswirkungen haben kann.9

Es ist aber keineswegs immer nur ein extremer Nahrungsmangel in der Embryonalentwicklung, der zu derartigen Spätfolgen führen kann. Kinder, deren Mütter zum Zeitpunkt der Schwangerschaft starkem psychosozialen Stress im Zuge von Hurrikan Katrina (August 2005) und der Terroranschläge des 11. September 2001 ausgesetzt waren, entwickelten ebenfalls verschiedene gesundheitliche Probleme.10 So wurden beispielsweise nach Hurrikan Katrina mehr intrauterine Fruchttode, Frühgeburten und Säuglinge mit niedrigem Geburtsgewicht registriert.11

Psychosozialer Stress während der Schwangerschaft wurde auch mit erhöhten Entzündungsmarkern, erhöhter Insulinresistenz und einem schlechteren Gedächtnis bei den Nachkommen der Frauen im Alter von 20 Jahren in Verbindung gebracht, wobei die Stressoren der Mutter recht unterschiedlich sein können:12 Beziehungskonflikte, Scheidung und Trennung, Untreue, Tod einer nahestehenden Person, schwere Krankheit einer nahen Person, schwerwiegende finanzielle Probleme (von Arbeitslosigkeit bis Zwangsvollstreckung), Autounfälle oder die Tatsache, ein politischer Flüchtling zu sein. Diese Faktoren, in Verbindung mit einer häufig mangelhaften Ernährungssituation, können zu entwicklungsbiologischen Katastrophen führen.

Analoge Tierversuche zeigten, dass die hormonelle Übertragung der chronischen mütterlichen Stressreaktion auf das Ungeborene dessen Organentwicklung beeinflusst und die vorgeburtliche Stressreaktion dauerhaft im Fötus »programmiert«. Ein weiterer Mechanismus für spätere Gesundheitsprobleme betrifft eine Verkürzung der Telomere von Chromosomen der Nachkommen stressbelasteter Mütter.13 Telomere sind die Endstücke der Chromosomen (unsere aufgewickelte DNA), die für ihre Stabilität verantwortlich sind. Eine allmähliche Verkürzung der Telomere tritt auch im Zuge der biologischen Alterung ein.

Übrigens, damit keine Missverständnisse aufkommen: Die aufgezeigten Zusammenhänge betreffen, wie oben angeführt, eben nicht nur Großschadensereignisse wie Hungersnöte, Wirbelstürme oder Terroranschläge. Diese Auslöser fanden nur deshalb Einzug in die medizinische Literatur, weil sie alle in einem umschrieben (bekannten) Zeitfenster stattfanden und eine große Zahl von Müttern gleichzeitig betrafen. Dieser Umstand machte die anschließende epidemiologische Auswertung mittels Statistik erst möglich. Tatsächlich ist jedes ungeborene und neugeborene Kind in dieser vulnerablen Phase potenziell von widrigen Umwelteinflüssen im weitesten Sinne betroffen. Einzelfälle lassen sich aber nicht wissenschaftlich auswerten. Und was den Nahrungsmangel betrifft, so muss es nicht unbedingt ein dermaßen extremer Mangel wie im Rahmen einer Hungersnot sein. Auch das Fehlen von wichtigen Nährstoffen bei einer kalorisch an sich ausreichenden Ernährung kann sich negativ auswirken. Tatsächlich sind Mikronährstoffmängel in der Schwangerschaft weltweit in allen sozialen Schichten nach wie vor weitverbreitet.14 In wirtschaftlich entwickelten Ländern ist vor allem das Phänomen der Überernährung bei gleichzeitigem Nährstoffmangel (»overfed and undernourished«), der sogenannte »verborgene Hunger« (engl. hidden hunger), ein großes Problem mit weitgehend unbekannten Folgen.15

So ist zum Beispiel Eisenmangel der global häufigste Nährstoffmangel. Weltweit sind schätzungsweise 47 Prozent (293 Millionen) aller Kinder im Vorschulalter und 42 Prozemt (56 Millionen) aller schwangeren Frauen anämisch, wobei etwa die Hälfte auf primären Eisenmangel zurückzuführen ist.16

Die Lebensabschnitte mit dem höchsten Eisenbedarf im Gehirn und daher mit dem höchsten Risiko einer durch Eisenmangel verursachten Beeinträchtigung der Hirn- und Verhaltensentwicklung sind die fetale und neonatale Periode sowie das Säuglings- und Kleinkindalter (sechs Monate bis drei Jahre). Da eine Versorgung über die tägliche Ernährung während der kritischen Entwicklungsphasen der Schwangerschaft schwierig sein kann, ist die Ergänzung mit mehreren essenziellen Mikronährstoffen (Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente) während dieser Zeit eine wirksame präventivmedizinische Strategie.

In den 1990er-Jahren führte der britische Epidemiologe David Barker Studien an Personen durch, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in jenen Regionen Englands geboren wurden, in denen detaillierte Geburtsaufzeichnungen geführt wurden (Hertfordshire, Preston und Sheffield). Er konnte einen Zusammenhang zwischen niedrigem Geburtsgewicht (als Ersatzmarker für eine gestörte intrauterine Entwicklung) und koronarer Herzkrankheit, Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck bei Erwachsenen nachweisen.17

Weitere Studien in anderen Ländern untermauerten diese Ergebnisse. Finnische Knaben mit niedrigem Geburtsgewicht erkrankten im Erwachsenenalter ebenfalls häufiger an einer koronaren Herzkrankheit und Typ-2-Diabetes, selbst wenn sie während der ersten fünf Lebensjahre im Wachstum aufholten.18 Erstaunlicherweise konnte über den Entwicklungszustand der Säuglinge sogar deren finanzielles Einkommen 50 Jahre später prognostizierte werden.19

Auch die Ergebnisse der seit 1958 laufenden British Birth Cohort-Studie belegten, dass negative Situationen im frühen Leben mit einer späteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes, einem signifikant niedrigeren Bildungsniveau und niedrigerem sozioökonomischen Status einhergehen.20

Möglicherweise fragen Sie sich jetzt, wie viel Ihres Gesundheitszustandes auf negative frühe Umweltfaktoren und Erfahrungen zurückzuführen ist. Diese Frage ist aber schon deshalb nicht leicht zu beantworten, weil auch die Definition von Gesundheit und Krankheit einigermaßen diffus ist. Ein häufig benutztes Instrument, um den Gesundheitszustand erfassen zu können, ist die Selbsteinschätzung in Form standardisierter Fragebögen. Diesbezügliche Untersuchungen anhand der britischen Geburtskohorte ergaben, dass im Alter von 33 Jahren etwa die Hälfte (!) des selbst bewerteten Gesundheitszustandes auf die Einflüsse im frühen Leben zurückgeführt bzw. durch diese vorhergesagt werden können.

Aus evolutionärer Sicht ist diese beobachtete embryonale bzw. fetale Entwicklungsplastizität recht gut erklärbar. Noch während des Aufenthaltes in der Gebärmutter werden auf Basis von Umweltsignalen die Weichen für das spätere Leben in ebendieser Umwelt gestellt, um mit ihr »besser« zurechtzukommen. »Besser« muss hier aber aus evolutionärer Sicht betrachtet werden und ist keinesfalls gleichzusetzen mit einem besseren Gesundheitszustand als Erwachsener. Wir erinnern uns: Eine positive Selektion im Sinne der Evolution ist zu einem beträchtlichen Teil mit einem Überleben und einer späteren erfolgreichen Reproduktion »um jeden Preis« verbunden und nicht mit Gesundheit im späteren Erwachsenenalter. Ist die Ernährungssituation in utero schlecht oder deuten die Signale auf Probleme hin, dann gibt sich die Natur auch schon mal mit weniger zufrieden und bringt in dieser unsicheren Situation zu kleine, unterernährte Kinder lieber zu früh auf die Welt als gar nicht. Die Information an den Embryo, in eine Mangelumwelt geboren zu werden, führt schließlich auch zu langfristigen Veränderungen in dessen Stoffwechsel und zu einer Verschiebung von überlebenswichtigen Prioritäten, auch wenn diese Umweltsituation später gar nicht angetroffen wird. Im Gegenteil, das Neugeborene findet in unserer Zeit eher eine Welt des kalorischen Überflusses vor. Dass das nicht gut gehen kann, liegt auf der Hand.

Es sind die bekannten epigenetischen Faktoren, die unsere Gene instruieren, sich ein- oder auszuschalten. Sie werden von einer Vielzahl von Umweltfaktoren beeinflusst und über Generationen hinweg weitergegeben. Ernährung, Lebensstil, eine unüberschaubare Zahl von Umweltchemikalien, Schadstoffe (wie z. B. erhöhte Feinstaubbelastung), medizinische Faktoren, Arzneimittel, Infektionen und die vielfältigen sozialen Stressoren wirken in ihrem verheerenden Zusammenspiel auf unser Epigenom, um nach erfolgreicher Reproduktion im späteren Leben chronische Krankheiten hervorzurufen.21

Die exakte Erforschung von Einflüssen in frühen Lebensabschnitten und deren spätere gesundheitlicher Auswirkungen ist alles andere als einfach. Die ideale Methode, um die Auswirkungen auf die Gesundheit von Erwachsenen zu erheben, wäre, Individuen vom Zeitpunkt der Empfängnis an bis zu ihrem Tod zu beobachten und zusätzlich auch noch die nächste Generation zu berücksichtigen. Ein derartiger Ansatz ist, zumindest beim Menschen, fast unmöglich. Dennoch existieren, wie wir gesehen haben, mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Belege für die DOHaD-Hypothese.

Andere »schlechte« Erfahrungen in der Kindheit

Adverse Childhood Events (ACEs), was übersetzt so viel wie unerwünschte Kindheitserfahrungen bedeutet, sind Stresserfahrungen oder traumatische Ereignisse wie Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern. Der Begriff bzw. die Abkürzung ACEs wurde 1998 im Zuge der Adverse Childhood Experiences-Study geprägt.22

Der Grund, warum ich die Studie in diesem Zusammenhang erwähne, ist die traurige Tatsache, dass diese und zahlreiche weitere Studien gezeigt haben, dass natürlich auch Kindheitserfahrungen wie Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung – neben prekären Verhältnissen und mangelhafter Ernährung – zum Teil massive Folgen für die Gesundheit im gesamten weiteren Verlauf des Lebens haben. Sie sind erstens in unserer Gesellschaft häufig und zweitens, dosisabhängig, mit einem schlechteren Gesundheitszustand im späteren Leben verbunden (»umso mehr, desto schwerwiegender die Folgen«). Die erschreckende Folge: Menschen mit sechs oder mehr traumatisierenden Kindheitserfahrungen sterben im Durchschnitt fast 20 Jahre früher als diejenigen ohne ACEs!23

Eine toxische Stressreaktion, die durch eine chronische Dysregulation des neuroendokrinen Systems und des Immunsystems über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse (HPA) gekennzeichnet ist, führt zu multisystemischen Veränderungen im Körper heranwachsender Kinder. Die konkreten Mechanismen, die zur späteren Entstehung von Krankheiten und einer erheblich verkürzten Lebenszeit führen, liegen auch hier in dauerhaften Veränderungen des Stoffwechsels und vor allem epigenetischen Modifikationen des Erbgutes während sensibler Entwicklungsphasen.24

Bei Erwachsenen wurde festgestellt, dass derartige Adverse Childhood Events einen starken Dosis-Wirkungs-Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Lungenerkrankungen, Krebs, Diabetes, Kopfschmerzen, Autoimmunerkrankungen, Schlafstörungen, frühem Tod, Fettleibigkeit, Rauchen, allgemein schlechter Gesundheit und Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Angstzuständen, Drogenmissbrauch, sexueller Risikobereitschaft, psychischen Erkrankungen sowie zwischenmenschlicher und gegen sich selbst gerichteter Gewalt aufweisen.25

 

Aber auch schon im Kindes- und Jugendalter können sich die negativen Folgen manifestieren. So konnten zahlreiche Studien toxischen kindlichen Stress mit Asthma, wiederkehrenden Infektionen, kognitiven Einschränkungen, Entwicklungsverzögerungen, Fettleibigkeit, Gedeih- und Schlafstörungen, kriminellem Verhalten und häufigen körperlichen Auseinandersetzungen in Verbindung bringen.26

Die Folgen von negativen Kindheitserfahrungen und Mangelernährung sind so vielfältig wie deren mögliche Ursachen. Auch wenn für den Laien eine Verbindung zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter und regelmäßigen Ohrfeigen in der Kindheit nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, so wissen wir heute um deren eindeutigen Zusammenhang und kennen einige der dafür verantwortlichen Mechanismen.


Sowohl die Erkenntnisse aus der Epigenetik als auch die dokumentierten Zusammenhänge zwischen den Einflüssen in unserer frühen Entwicklung (und der unserer Mutter) und chronischen Erkrankungen im Erwachsenenalter hinterlassen einen reichlich bitteren Nachgeschmack. Immerhin geht etwa die Hälfte der Gesundheitsprobleme von Erwachsenen auf das Konto von Ereignissen während der frühen Entwicklung und hängen in vielen Fällen mit dem sozioökonomischen Status und seinen Folgen zusammen.

Es wirkt, als wären wir doch die Opfer, wenn auch nicht primär unseres genetischen Codes, dann doch zumindest von Programmierungen und epigenetischen Veränderungen dieses Codes insbesondere während unserer Embryonalentwicklung und der frühen Kindheit. Doch das stimmt nicht ganz.

Die Erkenntnis, dass sich, statistisch gesehen, beispielsweise das Körpergewicht im Alter von einem Jahr umgekehrt proportional zum Risiko einer koronaren Herzkrankheit im Erwachsenenalter verhält, bedeutet nicht, dass es sich um ein unvermeidliches Ereignis handelt. Wie alle bevölkerungsbezogenen epidemiologisch erhobenen Daten handelt es sich um Risiken und Durchschnittswerte auf Populationsebene. Ein geringeres Gewicht zum Zeitpunkt der Geburt oder am ersten Geburtstag verurteilt das Kind nicht automatisch zu einem schlechten Gesundheitszustand als Erwachsener. Lediglich die Wahrscheinlichkeit von Problemen ist größer.

Wir können die Uhr zwar nicht zurückdrehen und embryonale wie frühkindliche Entwicklungsdefizite rückgängig machen, aber es gibt reichlich Möglichkeiten, um mit Ernährung, einem gesunden Lebensstil und Maßnahmen wie achtsamkeitsbasierter Meditation27 direkt oder über den Umweg unseres Mikrobioms Einfluss auf die epigenetische Programmierung unseres Erbgutes und damit auf die Verwirklichung unseres Krankheitsrisikos zu nehmen. Darüber hinaus bestehen noch weitere eigentlich recht einfache Möglichkeiten, das Epigenom im Laufe des Lebens positiv zu beeinflussen. Ich werde diese Möglichkeiten ausführlich besprechen, da sie ein zentrales Thema dieses Buches sind.

Es gibt aber leider auch Hinweise auf irreversible Schäden durch frühkindliche Erfahrungen. Untersuchungen an Waisenkindern, die in den 1980er-Jahren während der Ceauşescu-Diktatur in rumänischen Kinderheimen aufwuchsen, zeigten vor allem aufgrund emotionaler Vernachlässigung schwere kognitive Schäden und Verhaltensprobleme, die auch nach der Unterbringung in einer pflegenden Umgebung nicht mehr auf ein normales Niveau zurückgingen. Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren zeigten signifikante bleibende Hirnschäden aufgrund der negativen frühen Lebenserfahrungen.28

Wir können aber aus DOHaD, ACEs und Epigenetik noch eine weitere Lehre ziehen: Da die sich später negativ auf die Gesundheit auswirkende epigenetische Programmierung vorgeburtlich und in den frühen Lebensabschnitten stattfindet, haben wir die Möglichkeit, die transgenerationale »Vererbung« epigenetischer Programmierung zu durchbrechen oder vielmehr von Anfang an als Eltern und als Gesellschaft positiv zu beeinflussen, indem wir diese neuen Erkenntnisse mit besonderer Sorgfalt auf die Schwangerschaft und die Jahre der Kindheit anwenden.